Iris ter Schiphorst kam am 22. Mai 1956 in Hamburg zur Welt. Eigentlich, so kann man nachlesen, war es als Kind ter Schiphorsts Wunsch, Tänzerin zu werden. Angefangen hatte alles, so ter Schiphorst in einem Interview aus dem Jahr 2015, mit Klavierunterricht. Und im heimischen Wohnzimmer konzipierte man mit Freundinnen Puppenspiel-Aufführungen, die prompt feierlich vor den Eltern »Premiere« feierten, wie man im begleitenden Text über ter Schiphorsts Puppenmusiktheater Der Grüffelo/Grüffelokind erfährt, das 2011 vom Scharoun-Ensemble in der Philharmonie Berlin uraufgeführt wurde.
Der besagte Klavierunterricht lag »nahe«, arbeitete ter Schiphorsts Mutter doch als Pianistin. Diese hatte einen Mann aus den Niederlanden geheiratet, ter Schiphorst wuchs also zweisprachig auf – beziehungsweise »dreisprachig«: »Ich lernte […] [die Sprache der Musik] ›en passant‹, eben so, wie man Sprachen lernt, die man täglich hört, ganz selbstverständlich über das Gehör, durch Mimesis – auf dem Klavier […] teils in veränderter Form, in anderen Tonarten, mit anders zusammengestellten Teilen.«
Das pianistische Talent ter Schiphorsts führte zu einem Klavierstudium an der Bremer Musikhochschule (1973–1978). Doch die mit einer reinen Pianistinnenlaufbahn einhergehenden Ideen und Pläne reichten Iris ter Schiphorst als utopische Möglichkeitsräume sich frei entfesselnder Kreativität offenbar nicht aus. Die junge Musikerin unternahm daher nach ihrem Klavierstudium einige Reisen durch mehrere Länder Afrikas und Europas. Der bewusste Ausbruch eines jungen Menschen bürgerlicher Herkunft aus den vielleicht als eng empfundenen Bahnen des institutionellen Musikerinnendaseins.
Die Auslandsaufenthalte und die entsprechenden soziokulturellen Erfahrungen ter Schiphorsts brachten eine Umkehr, vor allem in ästhetisch-repertoiremäßiger Hinsicht. Statt abendländische Klaviermusik einzustudieren begann Iris ter Schiphorst, in Bremer Rockbands zu spielen. Zwischen 1980 und 1986 betätigte sich ter Schiphorst in den Gefilden der U-Musik als Keyboarderin, E-Bassistin, Schlagzeugerin und Tontechnikerin. Ein weiterer Umbruch im Leben ter Schiphorsts war der Umzug von Bremen nach Berlin im Jahr 1984. Hier studierte sie Theaterwissenschaft, Kulturwissenschaft und Philosophie an der Freien Universität und später an der Humboldt-Universität. Während ihrer geisteswissenschaftlichen Studien besuchte ter Schiphorst initiativ Kompositionsseminare bei Luigi Nono (1924–1990) und Dieter Schnebel (1930–2018). Häufig wird Iris ter Schiphorst als »Autodidaktin« bezeichnet. Soll dieser Terminus die Komponistin freilich eigentlich adeln, lehnte die Künstlerin ihn – im Gespräch mit dem Autor – selbst weitgehend ab. Das Umfeld der Neuen/experimentellen Musik des Berlins der 80er und 90er beschreibt ter Schiphorst als sehr prägend für ihre Entwicklung und erwähnt neben Schnebel und Nono die Namen der Musikwissenschaftler:innen Helga de la Motte (*1938) und Carl Dahlhaus (1928–1989). Auch die Konzerte der »Freunde guter Musik« seien wichtig für sie gewesen. Weiter meint ter Schiphorst auf VAN-NAchfrage: »Viel gelernt habe ich auch von meinen Kolleg:innen. Mit Mayako Kubo, Franz Martin Olbrisch, Berthold Tuercke, Frank Hilberg und Gianmario Borio gründete ich ja den Verein ›zeit-Musik‹, der nicht nur Veranstaltungen organisierte, sondern dessen Mitglieder sich regelmäßig zu gemeinsamen ›Hörabenden‹ trafen, um eigene oder fremde Werke zu analysieren und darüber zu diskutieren. (…) Und mit dem von mir gegründeten Ensemble INTRORS haben wir uns zum Teil wöchentlich getroffen, zusammen improvisiert, Stücke analysiert und so weiter – und natürlich, und zum Teil außerordentlich erfolgreich, konzertiert. Von einem einsamen Lernen also keine Spur.«
Iris ter Schiphorst ist aktuell Universitätsprofessorin für Medienkomposition am Institut für Komposition, Elektroakustik und Tonmeister:innen-Ausbildung der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und lebt in Wien und Berlin.
Iris ter Schiphorst (* 1956)
Hundert Komma Null. Ballade für Orchester und Sample-Keyboard (2000)
Schon der Umstand der Ferne von den üblichen avantgardistischen Kompositionsschulen- und Stilen deutet die Vielfalt und Wandelbarkeit der musikalischen Ästhetik Iris ter Schiphorsts als Künstlerin an. In einem Interview gab sie zu Protokoll: »Ich habe mich zunächst eher als ›Künstlerin‹ ganz allgemein verstanden, eben nicht speziell als ›Komponistin‹. Das hatte, wie gesagt, mit den ganzen Mythen und Legenden zu tun, die sich um den Begriff des Komponisten ranken. Ich wollte mit diesem ›Schöpferkult‹ nichts zu tun haben. In gewisser Weise war die Ablehnung dieses Begriffs aber auch der ›Motor‹, der mich immer wieder dazu trieb, mich produktiv mit dieser Tradition auseinanderzusetzen, sei es künstlerisch oder wissenschaftlich.«
Die Schöpfer:innen-Skepsis geht bei ter Schiphorst einher mit einer kritischen Grundhaltung gegenüber ästhetischer Politik-Ferne – wie Politik-Nähe. Auf die politische Anmutung der Titel ihrer 1990 und 2006 uraufgeführten Werke Zerstören sagt sie (für Violine und Synthesizer/Sampler) und Zerstören II (für verstärktes Orchester) angesprochen, entgegnete die Komponistin: »Zerstören [sagt sie] ist ja schon ein älteres Stück, und damals kam es mir so vor, als wären ganz besonders archaische Kräfte im globalen politischen Geschehen am Wirken. Ich mag gar nicht genauer darauf eingehen, aber es war ein beängstigendes Klima gewesen, das mich extrem beschäftigt hat – so wie heute eigentlich auch. Ich bin eine Komponistin, die sich nicht von so etwas frei machen kann und die auf das, was sie umgibt, künstlerisch reagiert. Meine Musik ist – wenn Sie so wollen – eine Reaktion auf das, wie ich Welt wahrnehme und rezipiere.«
Neben den politischen/antipolitischen Implikationen ist ter Schiphorsts kreative Arbeit geprägt von der »Liebe zu dem, was klingt«. Diese »Grundliebe zu allem Klingenden« lebt ter Schiphorst beispielsweise aus, indem sie die üblichen Klangkörper – Kammermusikensembles, Orchester – häufig durch Sample-Instrumente, Zuspielung oder Live-Elektronik erweitert. So entstanden unter anderem 13 große Orchesterwerke, Filmmusiken, vier Opern, szenische Kompositionen, Vokalmusik und Werke für Soloinstrumente. Bedeutende Arbeiten der letzten Jahre waren DAS IMAGINÄRE NACH LACAN (Wien Modern, 2017) für Sängerin/Performance und großes Orchester, Assange – Fragmente einer Unzeit (Amsterdam, 2019, Ensemble Modern und Sarah Maria Sun) und Whistle-Blower 1 (Stuttgart, 2021) und Whistle-Blower 2 (Elbphilharmonie, 2021) für Blockflöte und Streichorchester (Jeremias Schwarzer und Ensemble Resonanz).
Zu den jüngst vermehrt politischen Inhalten der Werke ter Schiphorsts kommt in ihrer Ästhetik auch immer »etwas anderes hinzu«. Das ist beispielsweise der tonliche Fluss und die durchaus musikantische Spieldichte mancher Stücke. Bei einer ohrenscheinlich »üblichen« Neue-Musik-Besetzung wie anlässlich ihres Werkes Miniaturen für Klarinette und Akkordeon (2008) herrscht aber dabei nicht jenes »durchbrochene Spiel« voller Pausen und scheininteressanter Atemlosigkeitsfermaten, sondern ein »Ton-Band«, eine Reihe von vielgestaltigen Ton-Situationen– durchaus in der »Sprache Neuer Musik«, aber nicht als sich-Verlassen darauf, es könnte genügen, ewig(e) »Augenblicke« zu kreieren.
Iris ter Schiphorsts Kompositionen »erzählen« Musik, kommen vom improvisatorischen Spiel, das auch einmal selbstversunken, melancholisch sein kann, auf eine avantgardistische Weise zugewandt, menschlich – und doch mit der immer wieder »nötigen« Bitterkeit, unsere unrühmlichen Epochen und Katastrophen nicht vergessend.
HUNDERT KOMMA NULL. Ballade für Orchester und Sample-Keyboard entstand 1999 – und wurde am 11. Februar 2000 im Herkulessaal München vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Martyn Brabbins uraufgeführt. Die Komponistin bezieht sich auf ein Anagramm der Schriftstellerin und Zeichnerin Unica Zürn, die 1916 in Berlin geboren, von den Faschisten vertrieben wurde, sich in ästhetischer Verwandtschaft zum französischen Surrealismus wähnte und sich schließlich 1970 in Paris das Leben nahm. Der gnadenlose Pessimismus Zürns drückt sich in dem Anagramm Das Leben ist schrecklich wie folgt aus: »Besser / stick ich lachend Asse, / Dreck in’s Blechlicht schandstrickbleich. / Lese / schlicht als dicker Besen: / Leben, das ist schrecklich.«
Die Worte »Besser«, »Lese« und »Leben, das ist« bilden gewissermaßen die Überschriften für die dreiteilige Komposition ter Schiphorsts. Winselnde Laute dringend von Ferne stoßartig an uns heran, dann formieren sie sich mehrstimmig, von Marschimplikationen unterbrochen. Die Atmosphäre erscheint extrem bedrohlich.
Nach einer guten Minute setzt das Werk neu an. Der erste formale Trick, mit dem der Ausdruck wie plastisch »eingerahmt« erscheint. Dann kommt es zu einer massiven und aufregenden Ausdrucksgebärde des ganzen Orchesters, das fast wie eine wildgewordene Big Band aus kaputten Motorsägen dampfeisenbahnähnlich losdröhnt. Deutlich rhythmisch strukturierte Grooves und Multiphonics dringen heraus. Das Ganze stampft, gebärdet sich wie Stottern gewordene Post-Rockmusik, mit Blechblas-Kombo als Verstärkung.
Und da ist wieder das Winselns des Anfangs, die Exposition einer Geschichte. Erzählt von einer Komponistin, die sowohl formal, aber vor allem klangfarblich, rhythmisch und mit höchst unterhaltsamer Instrumentation komponiert. Den Hörenden intuitiv zugewandt, doch diese an der Kandare durch die Manege existenzieller (und durchaus mal amouröser) Zustände führend. Toll. ¶