Estland ist mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern ein kleines Land. Die estnische Kultur- und Musikszene ist – besonders mit Blick auf die Größe des Landes – stark ausdifferenziert, wie man im Bereich der Musik sehen kann: Es gibt neben dem namhaften Nationalen Sinfonieorchester Tallinn mehrere Opernensembles, ein reiches Chorleben sowie Spezialensembles für Alte und Neue Musik. Schon in der Vergangenheit war es bemerkenswert, dass es in Estland öfters Komponisten waren, die intellektuelle Meinungsführerschaft übernahmen. Arvo Pärt etwa wurde seit den 1990er Jahren zu so etwas wie einem internationalen Botschafter und einer moralischen Instanz Estlands. Sein Kollege Lepo Sumera, dessen Musik noch heute in Estland viel gespielt wird, brachte es 1988 sogar zum ersten Kulturminister des von der Sowjetunion unabhängig gewordenen Landes. Sumeras einstiger Kompositionsschüler Jüri Reinvere seinerseits ist derzeit einer der international erfolgreichsten Komponisten Estlands – Uraufführungen bei Orchestern wie den Berliner Philharmonikern zählen zu seinem Portfolio. Auch Reinvere, der in Frankfurt am Main lebt, füllt als politischer Journalist zugleich eine Funktion als intellektuelles Gewissen seines Landes aus. Für Estlands größte Tageszeitung Postimees kommentiert er ausführlich das Zeitgeschehen und ist dafür 2023 zum »Meinungsführer des Jahres« gewählt worden. Seit der legendären »Singenden Revolution« im Estland der 1980er Jahre scheinen hier Musik und Politik auch heute noch eng verknüpft.

VAN: Werden Diskussionen über den Krieg zwischen Russland und der Ukraine in der estnischen Kulturszene signifikant anders geführt als in Deutschland?

Jüri Reinvere: Ganz verschieden ist schon die Grundlage. Für Deutschland ist der Krieg in der Ukraine zwar irgendwie in der Nähe. Aber für das Baltikum – und auch für Finnland, wegen des Eintritts in die NATO – ist das ein Krieg, der sprichwörtlich vor der Tür stattfindet. Und deshalb ist die Sorge, ob im eigenen Land Krieg losbricht, längst nicht so theoretisch wie in Deutschland.

Ich gebe Menschen immer dieses Beispiel: Vor fünf oder sechs Jahren starb ein entfernter Verwandter meiner Mutter, und als letztes sagte er zu ihr: ›Gut, dass ich sterbe, bevor der Russe zurückkommt.‹ Das war noch vor dem Ukraine-Krieg. Die Vorstellung, dass der Kreml irgendwann kommt und dass der Westen uns dann im Stich lässt – das ist sehr lebendig bei den Esten.

Wir reden hier über die Kultur- und Musikszene. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine gab es in dieser Szene etliche symbolische Handlungen, aber auch sehr konkrete administrative Maßnahmen. Es gibt Diskussionen darüber, ob man bestimmte Kreml-freundliche Künstler:innen wie Anna Netrebko oder solche wie Teodor Currentzis, die sich öffentlich nicht positionieren wollen, noch einladen soll. Gibt es in Estland Reaktionen, die so vielleicht nur dort stattfinden könnten?

Was mir da zu Estland sofort einfällt: das Nationale Sinfonieorchester [Estonian National Symphony Orchestra (ERSO)] in Tallinn. Das ist wirklich sehr beliebt, in allen Generationen. Und es ist jetzt schon seit mehreren Jahren Tradition, dass jedes Konzert mit der ukrainischen Nationalhymne anfängt. Alle stehen auf, hören die Hymne, und erst dann geht das Konzert los.

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Solche wirklich sehr innigen Unterstützungsaktionen nimmt man in Estland sehr gerne vor. Auch die Künstler – Organisten oder Geiger oder was auch immer – spielen gerne ukrainische Musik in ihren Programmen. Es wird auch in persönlichen Kontakten sehr viel für die Ukraine getan. Wenn also jemand Musikerfreunde in der Ukraine hat, dann werden die aus vollem Herzen unterstützt. Das ist, würde ich sagen, fast die Hauptsache. Denn in den Ex-Sowjetrepubliken, wozu Estland ja gehört, versteht man das politische System ja als einen Apparat, der nicht zu kontrollieren ist. Was zu kontrollieren ist, sind die persönlichen Kontakte. Die werden auch deshalb von den Menschen viel lieber genutzt. Auf staatliche Symbolik verlässt man sich nicht so gerne – und das ist auch im Fall des Ukraine-Kriegs so. Alle haben eine gewisse Skepsis, wozu die große Politik da überhaupt in der Lage ist. Deshalb ist auch im Musikbereich entscheidend, was die Einzelnen tun. Das muss nur ein Chorlied innerhalb des Chorkonzerts sein oder ein Orgelsolo irgendwo. Das ist, was sie tun – allerdings tun sie das sehr viel. Und dieses ›Sehr viel‹ macht auch sehr viel aus. 

Hat sich in den Programmen der Konzerte etwas verändert? 

Wie gesagt: Estland ist sehr nah an Russland. Das bedeutet, dass gerade die ältere Generation sehr viele Kontakte nach Russland hat. Viele haben dort studiert, viele haben Verwandte. Ein Drittel der Esten ist ja in Sibirien geboren, aufgewachsen oder in die Schule gegangen, weil sie Kinder von Deportierten sind. Deshalb ist der kulturelle Kontakt mit Russland in Estland sehr stark, auch wenn das manchmal ein bisschen kleingeredet wird. Deshalb bemerke ich auch keine bedeutende Russophobie. Natürlich kommt es dazu, dass weniger russische Musik gespielt wird. Das betrifft gerade Werke, die deutlich – wie wir sagen – ›großrussisch‹ sind. Die kommen jetzt weniger vor.

Was wäre das zum Beispiel?

Ich kann mir zum Beispiel sehr schlecht vorstellen, dass zur Zeit jemand im Baltikum freiwillig Alexander Newski von Prokofjew spielen würde. Als die Finnen das tatsächlich taten vor einem oder zwei Jahren, da war ich selbst wütend. Ich dachte: Wie wäre es, wenn irgendein Ensemble einen russischen Lobgesang an den Winterkrieg aufführen würde – an den wiederum die Finnen ja sehr schmerzliche Erinnerungen haben? Fakt ist also: Es gibt zurzeit eine gewisse Reserviertheit gegenüber russischer Musik. Aber eine fast fanatische Russophobie, wie wir sie im Moment zum Beispiel in Polen – zumindest in radikalen Kreisen – sehen: So etwas bemerke ich im Baltikum wenig. 

Man beobachtet in der Kultur vieler Länder, ob Ost- oder Westeuropa, eine starke Internationalisierung. Allerdings ist das nationale kulturelle Erbe in der estnischen Geschichte politisch manchmal ziemlich entscheidend gewesen. Ist Estland in kulturellen Fragen noch eine souveräne Nation?

Es gibt tatsächlich einen inneren Konflikt in Estland und auch in anderen Ländern der Region. In der politischen Elite in Estland und Finnland beobachte ich ein neues Verhältnis zur Kultur. An Hochkultur werden ganz andere Erwartungen herangetragen als früher, gepaart mit Missgunst und mit der Ambition, die Kultur für die eigenen Zwecke zu nutzen. Darüber könnte ich stundenlang erzählen. Akteure der Hochkultur beobachten das mit Bitterkeit.

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Ein gutes Beispiel, auch wenn das in Finnland war: Als die im Westen sehr bejubelte Sanna Marin noch Premierministerin von Finnland war, lud sie die kulturellen Influencer ihres Landes ein. Und man weiß, wie extrem stolz Finnland bis heute auf seinen Sibelius ist. Die ganze Identität des Landes beruht für viele auf Sauna, Sibelius und Design. Meinen Sie, Marin hätte irgendeinen klassischen Musiker eingeladen? Hat sie nicht. Da waren YouTube-Influencer, Popmusiker, vielleicht noch einige Volksmusiker. Man wollte da so ein cooles neues Denken ausstellen. Es gibt zurzeit zum Beispiel etliche finnische Dirigenten, die international sehr erfolgreich sind. Kein einziger war eingeladen. Das ist eine Mentalität, die sich auch im Baltikum wie eine Epidemie verbreitet. Die jungen politischen Eliten wollen fast explizit nichts wissen von den Dingen, die für die alten Eliten wichtig waren – so Wolfgang-Schäuble-Leute, die sich nach dem Arbeitstag noch ins Konzert fahren ließen. Die Jüngeren unterstützen eine Form von Kultur, deren Events möglichst morgen schon vergessen sind, während klassische Hochkultur ja immer sehr stark versucht, mit Erinnerung zu arbeiten – damit Generationen sich immer wieder mit dem gleichen Kunstwerk konfrontieren, neue Sachen darin entdecken und zu neuem Wissen über sich selbst kommen. Hier geht es aber darum, das einmalige Erlebnis für den jeweiligen Abend zu feiern. Und morgen gibts dann was Neues, mit neuen Instagram-Bildern. 

Ist das nicht ein bisschen zu kulturpessimistisch?

Ich kann nicht genug betonen, wie einschneidend diese Änderung ist, und wie politisch gefährlich. In Estland sieht man das an Tartu, der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt. Tartu ist eine Stadt mit einer der reichsten Geschichten in Europa. Zwischen Deutschland, Estland, Finnland sowieso, Deutschem Orden, Russland, Zar-Russland. Keyserling hat dort studiert – um einen Namen zu nennen. Davon ist nichts zu sehen. Stattdessen sind die Highlights der Kulturhauptstadt Conchita Wurst und Bryan Adams. Wenn du das aus Londoner Perspektive anguckst, ist das schon der fünfte, sechste Grad an Promis, die nirgendwo sonst ihre Miete verdienen können. Das zeigt so markant, wie stark das Selbstbewusstsein und Selbstinteresse verschwunden ist und wie verzweifelt die estnische Kulturszene momentan versucht, das nachzumachen, was in London sozusagen fünfte oder sechste Bühne ist. Das ist unglaublich traurig. Und ich habe immer auch in estnischen Medien darüber geschrieben, dass es ein großes Sicherheitsrisiko ist. Denn sobald Estland ohne Kultur ist, ist dieses Land Freiwild für russische Propaganda und russische Aggressionen. Das Baltikum und auch gewissermaßen Skandinavien haben eine Selbstständigkeit vorwiegend in kulturellen Dingen. Wirtschaft und Finanzen sind zu schwach, die können nicht mit französischen, britischen oder deutschen Finanzen und Wirtschaft rivalisieren. Also ist das einzige, was übrigbleibt, die Kultur. Und wenn die Kultur so schlecht behandelt wird, könnten wir uns in zehn Jahren in einer wirklich schwierigen Situation wiederfinden – wenn wir sehen, wie aggressiv und immer aggressiver Russland auftritt und die USA immer schwächer. Die Kombination, die sich da momentan abspielt, sieht leider nicht gut aus.

Das musikalische Erbe der estnischen Regionen war ja sehr wichtig dafür, dass in den 1980er Jahren die ›Singende Revolution‹ zustande kam – dass also in der großen Chormuschel von Tallinn plötzlich Zigtausende alte estnische Volkslieder sangen, die in der Sowjetunion eigentlich verboten waren. Es konnte damals nur nicht sanktioniert werden, weil man so viele Menschen einfach nicht auf einmal verhaften konnte. Wenn die Dinge wirklich so liegen, wie Sie sie hier beschreiben – kann man sich dann eine solche musikalische Art zivilen Widerstands gegen eine etwaige neue russische Obrigkeit oder einen anderen potenziellen Usurpator heute gar nicht mehr vorstellen?

Momentan nicht – aber wer weiß, wie die Dinge sich entwickeln. Die ›Singende Revolution‹ war ja in Estland keine zentral geplante Staatsaktion. Das war eine Volksbewegung, die spontan entstand. Ich kann mir schon vorstellen, dass so etwas wieder entsteht, wenn es wirklich ernst wird. Es ist auch die einzige Art von Waffe, die die Menschen in Ländern wie der Ukraine, in Weißrussland und eben auch im Baltikum haben. An eine zuverlässige Unterstützung durch den Westen glauben in ihrem Innersten die wenigsten Menschen dort. Das ist eher ein deutsches oder französisches Mantra, dass auf die USA immer Verlass ist. Die Leute in den Ländern des Baltikums haben diese Gewissheit nicht. ¶

… arbeitet als Musikjournalist für Berliner Tageszeitungen und die Kulturprogramme von ARD und Deutschlandradio. Er studierte Musikwissenschaft, Musik und Philosophie. 2008 erschien sein Buch ›Als Bürger leben, als Halbgott sprechen‹. In seiner Freizeit unterhält er drei Töchter und ein sehr altes Holzhaus.