Im November 2021 schlängeln sich zwei Trompeten des Sinfonieorchesters Wuppertal durch die chromatischen Linien des Anfangsmotivs des Tuba Mirum, des vierten Satzes aus Antonin Dvořáks Requiem, bis ihr Klang schließlich mit einem beunruhigenden Holzbläserakkord verschwimmt. Es ist diese Art von exponierter Orchesterpassage, bei der man nur merkt, wie schwer sie eigentlich zu spielen ist, wenn jemand einen Ton verreißt oder die Intonation beider Instrumente unangenehm flirrt. In Wuppertal klingt das Motiv bei jeder der drei Wiederholungen kristallklar und transparent wie ein einziges Instrument. Die Passage gelingt perfekt.
Für den zufälligen Beobachter ist zunächst gar nicht unbedingt ersichtlich, warum hier mit so hoher Präzision musiziert wird. Das Sinfonieorchester Wuppertal ist ein ausgezeichnetes A-Ensemble, das in einem schönen, historischen Saal beheimatet ist. Aber an diesem kalten Novemberabend musiziert es Dvořáks Requiem mit einem lokalen Laienchor, der, nun ja, wie ein Laienchor klingt. Der Saal ist nur etwa halb voll und wer hier im Publikum sitzt, scheint entweder zum Freundeskreis oder zur Familie der Sänger:innen zu gehören. Für Markus Czieharz, den 26-jährigen zweiten Trompeter, steht jedoch einiges auf dem Spiel – genau wie in jedem anderen Konzert des Wuppertaler Sinfonieorchesters in dieser Saison. Czieharz ist hier im Probejahr, jeder Fehler kann ihn seine berufliche Zukunft kosten.
Am 3. Juni 2021 hatte Czieharz in Wuppertal das Probespiel gewonnen für die Stelle der Wechseltrompete (also alle Trompetenstimmen außer der Solostimme). Orchesterprobespiele sind unglaublich zermürbend. Viele fantastische Musiker:innen müssen Dutzende oder sogar Hunderte solcher Auswahlverfahren auf sich nehmen, bevor sie eine Stelle bekommen. So jung wie Czieharz ein derartiges Probespiel zu gewinnen, ist eher unüblich. Doch mit diesem Erfolg endet der Bewerbungsprozess noch nicht. Während einer ganzen Konzertsaison muss Czieharz im Anschluss beweisen, dass er das Zeug zum vollwertigen Mitglied des Orchesters hat.

Dass der Berufseinstieg mit einer Probezeit beginnt, ist völlig normal, aber das Probejahr in einem Orchester ist verglichen mit der Anfangszeit in anderen Branchen besonders hart. Offene Stellen in Orchestern sind rar und so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man als Gewinner des letzten Probespiels der einzige im Ensemble ist, der sich beweisen muss und somit von allen kritisch beäugt wird. Die Probezeit dauert mindestens eine Spielzeit, manchmal auch länger. Orchester sind nicht gerade für ihre klaren Personalstrukturen bekannt, und wer im Probejahr ist, kann keine Mitarbeiter:innen- oder Feedbackgespräche wie bei anderen Unternehmen erwarten. Stattdessen wird eher beiläufig, in den Probenpausen oder nach Konzerten, vermittelt, wie das Orchester eine musikalische Leistung einschätzt und welcher Platz jemandem im Sozialgefüge des Klangkörpers zugewiesen wird. Am Ende des Probejahrs stimmen alle Kolleg:innen – etwa 70 bis 100 Personen – über den Probanden ab. Wenn er mehr als die Hälfte der Stimmen erhält, darf er bleiben. Wenn nicht, geht es zurück auf Los und die aufreibende Probespiel-Prozedur beginnt von Neuem. (So läuft es in Deutschland und den USA, im Vereinigten Königreich ist das Verfahren etwas anders. Dazu später mehr.)
Markus Czieharz’ Probejahr beim Sinfonieorchester Wuppertal begleite ich von Beginn im September 2021 an bis zum Ende im Mai 2022. In dieser Zeit haben wir etwa zehnmal telefoniert oder uns persönlich zum Gespräch getroffen; ich habe andere Mitglieder des Orchesters interviewt, genau wie weitere Musiker:innen, die ihr Probejahr bestanden oder auch nicht bestanden haben. Als Nicht-Musiker wollte ich dieses Ritual, das meines Erachtens die Arbeit im Orchester grundlegend prägt, verstehen – mit seinen geheimnisvollen Codes, seiner langen Tradition, seiner Willkür und auch seiner gelegentlich zutage tretenden Grausamkeit.

Bei meinem ersten Gespräch mit Czieharz bin ich sofort beeindruckt von seiner angenehmen Art. Er ist ein ausgeglichener junger Mann, der zu seinen Schwächen und Zweifeln steht, zugleich aber in allem das Positive sieht. Als ewiger Neurotiker frage ich mich oft, wie Menschen es schaffen, so im besten Sinne normal zu sein. Das passt gut zum Orchesterdasein, in dem Gutmütigkeit genauso hoch im Kurs steht wie musikalische Fähigkeiten. (Von einigen Ausnahmen abgesehen, fühlen sich exzentrische »Genies« in Orchestern selten zu Hause.)
Wie bei so vielen anderen herausragenden Musiker:innen ist Czieharz’ Erfolg auch das Ergebnis vieler glücklicher Fügungen. Kolleg:innen, die neben einem außerordentlichen Talent wie dem von Czieharz nicht auch über entsprechende familiäre Ressourcen verfügen, schaffen es nur selten, ein Probespiel für ein professionelles Orchester zu gewinnen. Czieharz’ Vater war Posaunist bei den Nürnberger Symphonikern, Mutter, Schwester und Großvater spielten im lokalen Musikverein, unter der Leitung des Vaters. Seinen ersten Trompetenunterricht bekam Czieharz ebenfalls von seinem Vater, außerdem besuchte er ihn oft bei Orchesterproben und sog die dortige Atmosphäre in sich auf. »Ich fand das immer wahnsinnig faszinierend und toll, diese Klangfarbe, wie so ein Orchester funktioniert«, erzählt er mir. »Und dass es natürlich Spannungen und Reibereien gibt, nicht immer alles cool ist. Und trotzdem ist am Tag X Konzert und es muss funktionieren.« Mit 12 weiß Czieharz, dass er auch Profimusiker werden will.
Mit Beginn der Pubertät werden die Unterrichtsstunden mit dem Vater »immer weniger produktiv«. Der 14-Jährige wechselt also zu einem der besten Trompeter Deutschlands: Hannes Läubin, der beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) spielt und an der Münchener Musikhochschule eine Trompetenprofessur innehat. Nach seinem Abi zieht Czieharz weiter und studiert in einer der besten Trompetenklassen hierzulande, bei Reinhold Friedrich in Karlsruhe.
Als 20-Jähriger gewinnt Czieharz 2015 das Probespiel für eine Akademiestelle beim BRSO, wo junge Musiker:innen über Stipendien die Möglichkeit bekommen, an der Seite von Profis zu spielen und ihr Handwerk zu perfektionieren. Czieharz bricht sein Studium in Karlsruhe für die Akademie ab und spielt unter Dirigenten wie Mariss Jansons, Herbert Blomstedt und Riccardo Muti. »Das war ein Wahnsinnserlebnis. Damals war ich eigentlich zu jung, um zu kapieren, was dort alles passiert, was dieser Mensch vorne gerade erzählt, was man da eigentlich für Informationen rausziehen kann«, erinnert er sich. Die Akademiezeit ist durchaus glamourös: Das Orchester tourt durch Kanada und die USA, Czieharz spielt Schostakowitschs Siebte in der Carnegie Hall.
Zunächst hegt Czieharz heimlich die Hoffnung, beim BRSO Solotrompeter zu werden, denn diese Stelle ist damals unbesetzt. Doch mit der Zeit wird ihm klar, dass er zu jung und dieser Verantwortung noch nicht gewachsen ist. Czieharz beschließt, sein Studium abzuschließen. 2017 wechselt er an die Musikhochschule in Hannover, wo er seinen Bachelor fertig studiert und ein Masterstudium bei Jeroen Berwaerts anfängt.
Zeitgleich beginnt Czieharz, an Probespielen teilzunehmen. Im Alter von 20 Jahren besitzt er noch eine gewisse Sorglosigkeit beim Vorspielen. Je älter er wird, desto bewusster wird ihm, was auf dem Spiel steht – und das blockiert ihn zunehmend. Über die Zeit nach seinem Weggang von der Akademie des BRSO erzählt er: »Ich habe dann eigentlich drei bis vier Jahre gebraucht, bis ich an dem Punkt war, dass ich mir sicher war, was ich mache, und mich selbst gut genug kannte, um Probespiele gewinnen zu können.« Es braucht noch gut 30 Probespiele – und ein ›Mentales Training‹ mit einem Coach, der hauptsächlich für Sportler:innen arbeitet – bis er die Stelle in Wuppertal gewinnt. Wenn er sein Probejahr hier besteht, erwartet ihn eine unbefristete volle Anstellung.
Am 3. September 2021 spielt Czieharz sein erstes Konzert mit dem Sinfonieorchester Wuppertal. Auf dem Programm steht die bläserlastige Alpensinfonie von Richard Strauss, am Pult steht der neue GMD Patrick Hahn, mit 26 Jahren der jüngste Chefdirigent eines professionellen Orchesters im deutschsprachigen Raum.
In Wuppertal muss er erstmal ankommen. Er hat in verschiedenen deutschen Jugendorchestern gespielt, so dass er überall im Land Freund:innen hat – aber in Wuppertal kennt er niemanden. Seine Freundin, eine österreichische Wissenschaftlerin, wohnt in Hannover. Sein Start in die Orchestersaison wird also getrübt durch alltägliche Sorgen, und das in einer entscheidenden Phase seines Probejahrs (viele Orchester tendieren zu (vor)schnellen Urteilen über neue Musiker:innen). Czieharz steckt am Tag des ersten Konzerts noch mitten im Umzug, muss einen defekt gelieferten Kühlschrank zurücksenden. »Ich hatte nicht so richtig die Ruhe, die ich mir normalerweise vor so einem Konzert wünsche«, sagt er. Dennoch hat er das Gefühl, dass das Konzert gut läuft.
Einige Wochen später (und drei vergebliche Versuche, einen neuen Kühlschrank liefern zu lassen), fühlt sich Czieharz schon etwas wohler. Nach einer Aufführung von Bruckners Fünfter geht er mit seinen Kolleg:innen in einem italienischen Restaurant namens ›Rossini‹ etwas trinken. Es bleibt aber ein kurzer Abend. Die meisten seiner Kolleg:innen haben Kinder und nicht viel Zeit, sich nach den Proben und Konzerten zu treffen.
Aber es gibt auch kleine Rückschläge: So wird Czieharz erst nach und nach klar, was es bedeutet, dass das Orchester – allein vom Umfang her – nicht ganz an das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks herankommt. Nach dem ersten Post-COVID-Konzert Anfang September gehen die Publikumszahlen etwas zurück. Geprobt wird nicht in der Wuppertaler Konzerthalle, sondern in einer Turnhalle mit entsprechender Akustik in einem tristen Viertel außerhalb des Stadtzentrums. Doch im Probejahr selbst läuft es nach Czieharz’ Einschätzung gut. »Meine Kollegen sind, glaube ich, sehr glücklich mit meiner Leistung«, meint er im September 2021. »Momentan denke ich sehr positiv. Aber es ist ein bisschen Zeit. Ich freue mich lieber nicht zu früh.«

Im Februar 2013 gewinnt eine junge Blechbläserin, die ich hier Joanna Meyer nenne (sie bat um ein Pseudonym, weil sie immer noch mit einigen Musiker:innen aus ihrem Probejahr zusammenarbeitet), eine Stelle als Wechseltrompete beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB). Sie ist damals einige Jahre jünger als Czieharz, hat aber ansonsten viel mit ihm gemeinsam. Das RSB ist das erste professionelle Orchester, bei dem sie ein Probespiel gewinnt. Joanna erinnert sich, dass sie froh und gleichzeitig überwältigt war, als sie die Stelle bekam; das Probejahr hatte sie kaum auf dem Radar. »Ich dachte: ›Das war’s, du hast gewonnen‹«, sagt sie. »Ich habe gar nicht so wirklich über dieses Probejahr nachgedacht.«
Als sie im Herbst 2013 mit dem RSB in die neue Saison startet, fühlt sie sich bei Proben und Konzerten wohl, ist aber im Sozialgefüge Orchester zurückhaltend und fühlt sich fehl am Platz. »Mein Deutsch war nicht so gut, und ich kannte nicht wirklich viele Musiker:innen«, sagt sie. »Ich wusste nicht wirklich, wie ich mich verhalten soll, mit wem ich reden soll und worüber.« Bei ihrer ersten Probe ist es gleich Vladimir Jurowski, der Chefdirigent des Orchesters, der mit ihr ein Gespräch beginnen will.
»Frau Mmmmm…?«, fragt er. »Frau Mmmmm…?«
»Er will deinen Namen wissen«, flüstert ein Kollege.
»Joanna!«, antwortet sie verdattert, und vergisst in dem Moment, dass man mit dem Dirigenten für gewöhnlich per Sie ist.
Die ersten Monate ihres Probejahrs verlaufen mehr oder weniger ohne Zwischenfälle, obwohl sie Schwierigkeiten hat, im RSB wirklich ihren Rhythmus zu finden. Als Teilzeitkraft spielt sie normalerweise eine Woche lang und hat dann die nächsten zwei Wochen frei. Doch sie erinnert sich: »Ich hatte immer noch diese studentische Mentalität, dass es, wenn niemand was sagt, bedeutet, dass es gut genug ist.«
Das ändert sich Anfang Januar 2014. Das Orchester spielt sein traditionelles Neujahrskonzert mit Beethovens Neunter, während der Proben nimmt der Solotrompeter Joanna beiseite – und jetzt hagelt es Kritik. Für Laien mag dieses Feedback als nicht der Rede wert erscheinen: Die anderen Trompeter:innen wollten, dass sie lauter spiele, wenn sie als zweite Trompete die untere Oktave zu spielen habe, und dass sie bei Repertoire wie Beethoven von einer C- auf eine B-Trompete wechsle. Auf dem hohen Niveau der heutigen professionellen Orchester entscheiden solche Fragen allerdings darüber, ob man Erfolg hat oder gehen muss. Sie ist verblüfft; sie dachte, dass musikalisch eigentlich alles gut lief. Sie versucht, auf die Kritik einzugehen, gleichzeitig weiß sie aber gar nicht, ob ihre Reaktion überhaupt einen Unterschied macht. »Ich hatte das Gefühl, dass einige Leute, besonders in der Bläsergruppe, schon früh beschlossen hatten, dass sie nicht mit mir spielen wollen, und dann war es fast egal, ob ich besser wurde oder nicht«, erinnert sie sich.
Im Laufe des Jahres fühlt sich Joanna im Orchester zunehmend isoliert. Nach einem Konzert steht sie bei »den Jüngeren« aus dem Orchester (sie ist eine der jüngsten). Die anderen planen eine Party. »Und sie sprachen darüber, und ich war dabei, und niemand hat mich gefragt, ob ich auch kommen will, und ich erinnere mich, dass ich da sehr traurig war«, meint Joanna. »Ich habe mich ausgeschlossen gefühlt.«
In den folgenden Monaten nimmt Joanna sich die Kritik des Solotrompeters zu Herzen und ist wieder optimistisch, ihr Probejahr zu bestehen. Im April 2014 probt das Orchester gerade Strauss’ bombastisches Heldenleben, als die Sektion sie in der Pause zur Seite nimmt und ihr mitteilt, dass sie ihr Probejahr nicht bestehen wird. Die Abstimmung würde nicht knapp ausfallen, sagten sie. Sie begann zu weinen. »Ich war ziemlich traurig und verstand nicht, was da gerade mit mir geschieht«, erinnert sie sich. »Ich saß alleine in der Ecke und weinte, und dann musste ich zurück in die Probe, um Heldenleben zu spielen.«

Im Oktober 2021 reist Czieharz nach Bayern, um als Solotrompeter bei den Bamberger Symphonikern einzuspringen und unter der Leitung von Chefdirigent Jakub Hrůša Werke von Hugo Wolff, Gustav Mahler und Hans Rott zu spielen. Die Bamberger sind ein prestigeträchtigeres Orchester als das in Wuppertal – und ich frage Czieharz, wie die beiden im Vergleich zueinander abschneiden. Er zögert einen Moment, bevor er antwortet. »Gut, das individuelle Niveau in Bamberg ist ein bisschen höher als in Wuppertal, was die Bläser anbetrifft«, sagt er diplomatisch und fügt hinzu: »Es waren viele junge Leute in Bamberg, wo gefragt wurde: ›Hey, hast du noch Lust auf ein kurzes Bier?‹, oder: ›Nach dem Konzert gehen wir irgendwo hin?‹ Das habe ich in Wuppertal nicht in dem Ausmass.« Außerdem stellt Czieharz fest, dass Hrůša in den Proben unnachgiebiger ist als Patrick Hahn, der junge Dirigent in Wuppertal, und seine musikalischen Ideen konsequenter durchsetzt. Czieharz gefällt dieser striktere Führungsstil.
Im November hat Czieharz sein Dreimonatsgespräch, bei dem ihm die Mitglieder der Trompeten-Gruppe und der Orchestervorstand Feedback geben können – vor dem formelleren Halbzeitgespräch, bei dem es auch schon eine vorläufige und nicht bindenden Abstimmung zu seinem Verbleib im Orchester geben soll. Gemeinsam laufen wir danach – um 10 Uhr abends – durch das nächtlich-stille Wuppertal und Czieharz berichtet, dass die Rückmeldungen fast nur positiv waren. Das Orchester ist sowohl auf musikalischer als auch auf persönlicher Eben zufrieden mit ihm. Mit dem Trompeter, der Czieharz’ Stelle vorher innehatte und der an einem Herzinfakt gestorben ist, war es auf persönlicher Ebene offenbar manchmal etwas schwierig gewesen und darum sind viele erleichtert, mit Czieharz einen so umgänglichen Kollegen gefunden zu haben.
Czieharz hat trotzdem beschlossen, weiterhin auch bei bei anderen Orchester an Probespielen teilzunehmen, was er aber nur seiner Trompetengruppe erzählt, um im Orchester keine schlechte Stimmung aufkommen zu lassen. Im Dezember spielt er für die Solo-Trompeten-Stelle in Bamberg vor. Er kommt in die dritte Runde, von der er mir berichtet: »Die dritte Runde war leider ziemlich schlecht von mir. Ein anderer hat’s bekommen. Umso trauriger, weil ich eigentlich nach der ersten und zweiten Runde der Favorit vom Orchester war.« So wird ihm jedoch wieder in Erinnerung gerufen, wie hart der Kampf um Orchesterstellen – trotz seines Erfolges in Wuppertal – bleibt, und dass jeder Fehler fatale Folgen haben kann.
Czieharz bleibt über die Weihnachtsfeiertage in Wuppertal, nur an Heiligabend fährt er zu seiner Familie nach Nürnberg. Ansonsten verbringt er die letzte Woche des Jahres mit Werken wie Händels Judas Maccabaeus und Mozarts Zauberflöte. Diese Auftritte hindern ihn daran, Zeit mit seiner Freundin zu verbringen, und ihm hängt immer noch nach, dass er die Stelle in Bamberg nicht bekommt hat, obwohl es so gut gelaufen war, als er dort vertretungsweise gespielt hatte. Das Probespiel dort nicht zu gewinnen, »war oberflächlich OK, aber scheinbar hat mein Unterbewusstsein mehr Zeit gebraucht«, erzählt er, und fügt hinzu: »So ist es bei den Probespielen, manchmal hat man Glück, manchmal hat man kein Glück.«
Im März 2022 fällt Czieharz’ Halbzeitgespräch zum allergrößten Teil positiv aus: Das ganze Orchester stimmt für ihn, außer zwei Mitglieder, die sich enthalten. Trotzdem ist es eine schwere Zeit für den jungen Trompeter: Sein Großvater liegt im Sterben. Czieharz bewirbt sich auch weiterhin bei anderen Orchester, zum Beispiel bei der NDR Radiophilharmonie in Hannover, also für eine Stelle, die es ihm ermöglichen würde, wieder in die Nähe seiner Freundin zu ziehen. Er schafft es in die zweite Runde, ist aber mit seinem Spiel in der dritten Runde unzufrieden und kommt auch nicht weiter. (Ein Probespiel für das Orchester des Hessischen Rundfunks in Frankfurt muss er absagen, weil er positiv auf COVID getestet wird.)
Zu dieser Zeit frage ich Czieharz, ob er sich auch vorstellen kann, langfristig in Wuppertal zu bleiben. »Schwierige Frage. Grundsätzlich, glaube ich, schon«, antwortet er. »Ich meine: Das Orchester ist gut, meine Kollegen sind nett, von daher sind diese Rahmenbedingungen sehr gut. Auch die Stadt – wenn man sie sucht, findet man sehr schöne Ecken. Aber ich werde trotzdem versuchen, noch weiter Probespiele zu machen.« Dann schaffe ich es doch, ihn mit einer Frage in Verlegenheit zu bringen: Kann es sein, dass er zu gut ist für das Wuppertaler Orchester? Czieharz reagiert auch hier diplomatisch und bescheiden, räumt aber auch ein, dass er irgendwann schon gerne fest die Solo-Trompete spielen würde – in einem bekannteren Orchester.

Der einzige, der im Frühjahr 2022 noch Zweifel daran hat, ob Czieharz nach seinem Probejahr in Wuppertal bleiben wird, ist wohl er selbst. Doch diese klare Kommunikation der Bewertung ist im Orchesterprobejahr eher ungewöhnlich. Orchester-Probejahre folgen selten formalisierten Feedback-Strukturen, wie sie in nicht-künstlerischen Berufen üblich sind. Rückmeldungen gibt es sonst eher informell in Probepausen, hinter der Bühne oder abends in der Bar. Manches Mal gleicht die Einschätzung der Meinung der Kolleg:innen eher dem Kaffeesatz-Lesen als einem Mitarbeiter:innengespräch. Im Boston Magazine sagte ein Mitglied des Boston Symphony Orchestra 2016 über einen Schlagzeuger, der sein Probejahr nicht bestanden hatte: »Niemand wusste so richtig, was wir ihm sagen sollten. Es hat irgendwie einfach nicht so richtig gepasst.« Joanna wünscht sich, sie hätte beim RSB mehr konkretes Feedback zu ihrer Leistung bekommen: »Ich denke, es ist normal, dass man die Neue oder den Neuen erstmal nur spielen hören will, und sehen, wie er oder sie sich verhält, wie es läuft – aber es wäre schön, wenn man, wenn manches nicht funktioniert, nicht einfach aufgibt und sagt: ›OK, dann halt nicht‹. Man sollte den Musiker:innen im Probejahr die Chance geben, Sachen zu korrigieren.«
Diese informellen Strukturen bieten auch Vorurteilen einen guten Nährboden. Rassismus, Homo- und Transphobie werden immer seltener offen zur Schau gestellt, aber das, was Joanna die »ungeschriebenen Regeln und diese kleinen seltsamen Orchester-Sachen« nennt, die über den Erfolg eines Probejahrs entscheiden können, basiert oft auf der langen Vertrautheit mit der Welt der klassischen Musik, einer Vertrautheit, die nur denen gegeben ist, die aus einem Elternhaus mit entsprechendem sozioökonomischen Status kommen. Eric Lamb, Flötist und Professor an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien, meint mir gegenüber dazu: »Wenn man als junger Mensch, jemand aus dem Ausland oder als Person of Color an eine Institution kommt, in der die Mehrheit weiß, europäisch und zwischen 35 und 65 Jahre alt ist, dann ist man außen vor. Es wird von dir erwartet, dass du dich so verhältst, dass du in die Gemeinschaft passt, damit sie sich wohlfühlt, nicht damit du dich wohlfühlst.«
In den USA und in Deutschland müssen die, die ein Probespiel gewonnen haben, ihr Probejahr alleine durchstehen und selbst ihren Platz in den komplizierten, bereits bestehenden zwischenmenschlichen und musikalischen Dynamiken eines großen Orchesters finden. In Großbritannien spielen sowohl die besten Musiker:innen aus dem Probespiel als auch Einspringer, die das Orchester schon kennt, so lange abwechselnd im Klangkörper mit, bis irgendwann entschieden wird, wer am besten auf die Position passt. Kenneth Woods, ein Dirigent, der sowohl in den USA als auch in Großbritannien arbeitet, favorisiert eindeutig das britische System. Im US-amerikanischen Probejahr ist man (wie auf dem europäischen Festland) »der einzige und hat das Gefühl, dass man ein ganzes Jahr lang bloß niemandem auf die Nerven gehen darf. Der Druck ist einfach omnipräsent«, so Woods. In Großbritannien sind die Orchester weniger fest zusammengesetzt, kontinuierlich kommen und gehen Freiberufler:innen, was bedeutet, dass auf denen im Probejahr weniger Druck lastet, während sie versuchen, sich in die Gruppe einzufügen. Aber auch das britische System hat seine Tücken. »Alle britischen Orchestern kennen das Problem, dass Stellen lange unbesetzt bleiben und sich die Probezeit sehr, sehr lange hinzieht, und das kann für die betroffenen Musiker:innen emotional sehr belastend sein«, erzählt mir Woods. Er beschreibt einen Fall, in dem ein Musiker vor COVID einem Orchester beitreten wollte, dann aber nach einer Zwangspause feststellen musste, dass das Ensemble fünf neue Musiker:innen zur Probezeit eingeladen hatte. Im britischen System entstehe so etwas wie ein Beliebtheitswettbewerb unter den Musiker:innen auf Probe, berichtet Eric Lamb.
Trotz all seiner Schwäche ist das Probejahr also vielleicht trotzdem das geeignetste System, um neue Orchestermitglieder zu finden. Es steht viel auf dem Spiel, denn wird jemand, die oder der teilnahmslos oder selbstgefällig ist, fest angestellt, kann sich das auf die Leistung des gesamten Ensembles auswirken; zwei Menschen, die sich einfach nicht verstehen, sei es musikalisch oder persönlich oder beides, können, wenn es schlecht läuft, am Ende jahrzehntelang nebeneinander sitzen und miteinander auskommen müssen. »Ehrlich gesagt halte ich es für kein gutes System, aber ich kann mir kein anderes System vorstellen, das viel besser wäre«, meint Joanna. Für Czieharz ist das Problem mit dem Probejahr nicht das Verfahren selbst, sondern der Makel, der einem anhaftet, wenn man es nicht besteht. »Wenn man es nicht geschafft hat, bekommt man so einen Stempel: Oh, was für ein Loser… Das finde ich schlimm«, meint er. »Das kann jedem passieren und sagt nicht unbedingt was über die Qualität des Musikers aus.«

Am 24 April wird für Czieharz und das Sinfonieorchester Wuppertal dann schließlich offiziell, was eh schon alle ahnen: Er besteht sein Probejahr mit 72 Ja-Stimmen und nur einer Enthaltung. Der Orchestervorstand verkündet das Ergebnis während einer Konzertpause und heißt ihn im Orchester willkommen. »Und dann gab’s ganz viele Umarmungen und viele nette Worte«, erinnert sich Czieharz und lacht. Danach geht’s weiter zum Feiern ins Rossini. Es ist ein Sonntagabend, darum müssen viele Kolleg:innen früh nach Hause, genau wie Czieharz’ Freundin, er selbst trinkt aber bis 1 Uhr morgens, zusammen mit einem Freund. Später frage ich Cyrill Sandoz, den Solotrompeter des Orchesters, ob ihm an diesem Abend etwas an Czieharz aufgefallen sei; auf mich wirkte der junge Musiker die ganze Zeit sehr ausgeglichen. »Ja, wenn man lange Zeit direkt neben jemandem sitzt, mit Abstand von einem knappen Meter, dann merkt man schon alles, oder ganz vieles«, meint Sandoz. »Obwohl er relativ locker durch diese Probezeit gegangen ist, hat man, als die Abstimmung vorbei war, schon gemerkt, dass eine Erleichterung da ist. Auch bei ihm.«
Sowohl Sandoz als auch dem Wuppertaler GMD Patrick Hahn ist klar, dass Czieharz immer noch die Augen offen hält nach einer Solostelle bei einem noch renommierteren Orchester. »Es gibt größere und bessere Orchester. Das wissen wir auch«, lacht Sandoz. Hahn meint zu mir: »Es ist ganz klar, dass vor allem junge Leute, wenn sie so begabt sind und so toll spielen, dann auch immer weiter überlegen und sozusagen ihre Fühler ausstrecken, das ist ganz normal. Für uns wäre es natürlich schade, ihn so schnell wieder zu verlieren, aber es ist auch wichtig für ihn, da aktiv zu bleiben.« In der Saison 2022/23 wird Czieharz als stellvertretender Solotrompeter im Orchester spielen, weil ein Kollege ein Sabbatjahr einlegen wird. Czieharz erwähnt aber auch, dass es im Moment viele Probespiele für »schöne Solostellen« gebe. Seit der endgültigen Zusage in Wuppertal hat er beim Deutschen Symphonieorchester Berlin, an der Hamburger und der Stuttgarter Staatsoper vorgespielt. In Stuttgart war er unter den letzten dreien, hat aber die Stelle nicht bekommen. »Mal sehen, wo der Weg noch hinführt«, meint er.
Joanna gewinnt 2018 ein Probespiel für die zweite Trompete bei der Berliner Staatskapelle unter Daniel Barenboim. Mittlerweile ist ihr Deutsch fließend, sie ist selbstbewusster im Umgang mit anderen Musiker:innen und weiß, dass es durchaus eine Rolle spielt, wenn man bei jedem Zusammentreffen allen im Orchester »Hallo« sagt. Vor dem erneuten Probejahr hat sie ihren Master-Abschluss gemacht und war ein Jahr lang bei einem anderen deutschen Opernorchester unter Vertrag. Während ihres zweiten Probejahrs, im Mai 2019, nimmt Barenboim sie irgendwann zur Seite und gibt wertvolle Tipps und konstruktive Kritik.
Die finale Abstimmung über Joannas Verbleib im Orchester findet im Juni 2019 statt. In den Wochen zuvor wird sie zunehmend nervöser und kann an nichts anderes denken. Dieses Mal wird sie jedoch mit überwältigender Mehrheit ins Orchester gewählt; wie bei Czieharz stimmt nur eine einzige Person nicht für ihre Aufnahme in die Staatskapelle. Ich fragt sie, was im zweiten Probejahr anders gelaufen ist. »Der größte Unterschied war ich«, sagt sie.
Als sie erfährt, dass sie bei der Staatskapelle bleiben kann, geht sie mit einer großen Runde von Freund:innen in ein indisches Restaurant am Potsdamer Platz, denn das ist der einzige Ort, der ihr einfällt, der genug Platz bietet für alle, die sie eingeladen hat. Ich erinnere mich noch genau an die Szenerie: wie Joanna dort sitzt, redet, trinkt und lacht. Völlig unbeschwert, weil auch sie jetzt ihren Platz gefunden hat. ¶