Die Musikszene Armeniens ist zum Teil bis heute von ihrer (wunderbaren) Volksmusik geprägt. Die Duduk – ein Holzblasinstrument, das in seiner warmen, klagenden Anmutung ein wenig wie eine Mischung aus Klarinette, Saxophon und Fagott tönt – steht dabei häufig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sowohl bei originaler Duduk-Folklore als auch bei neu komponierter U-Musik sowie im Zeichen von Adaptionen abendländischer Barockmusik. Und beim Blick auf die (E-)Musik-Geschichte Armeniens sehen wir fast immer nur die bekannten Werke von »Nationalheiligtum« Aram Chatschaturjan (1903–1978), der aber »immerhin« mit einer Komponistin verheiratet war (Nina Makarova, 1908–1976). Von Gajane Tschebotarjan, geboren heute vor genau 114 Jahren (am 9. November 1918 in Rostow am Don, unweit des Asowschen Meers), werden die wenigsten bisher etwas gehört haben.
Tschebotarjans Geburtsort Rostow am Don gehörte damals schon zu Russland, nur hatten sich in der Region bereits im 18. Jahrhundert viele Armenierinnen und Armenier angesiedelt – und ihre Kultur mitgebracht, ja, bald ganze Stadtteile für sich in Anspruch genommen. Um die Zeit der Geburt von Gajane Tschebotarjan gab es nur eine einzige griechisch-katholische Kirche in der Stadt, dafür aber sieben armenische Kirchen und sogar ein veritables armenisches Kloster.
Gajane Tschebotarjans musikalische Talente wurden offenbar früh erkannt: Nach den ersten Jahren an der örtlichen Musikschule ging es für sie ab 1938 ans Leningrader Konservatorium. Ihr Kompositionslehrer war der heute fast völlig vergessene Christofor Kuschnarjow (1890–1960), der unter anderem fein traditionelle Orgelmusik zu Papier brachte. Klavierunterricht erfolgte bei Mosei Halfin (1907–1990), bei dem später Grigory Sokolov (*1950) studierte. Mitten im Zweiten Weltkrieg (1943) schloss Tschebotarjan ihr Studium in Leningrad ab und wechselte ans Konservatorium Jerewan.
Hier in Jerewan verlegte Gajane Tschebotarjan ihren Arbeitsschwerpunkt in Richtung Musikwissenschaft und forschte intensiv zu der Volksmusik ihres Landes – wie auch zu den Werken des besagten Chatschaturjans. 1977 berief man sie am Konservatorium zur Professorin, wo sie nun mehr als drei Jahrzehnte Musikwissenschaft lehrte. 1984 siedelte sie zu ihrem Sohn nach Moskau über und starb dort am 16. Januar 1998 im Alter von 79 Jahren.
Gajane Tschebotarjan (1918–1998)
Sechs Préludes für Klavier (1948)
Als Komponistin war Gajane Tschebotarjan recht stark aufs Klavier fixiert – und schrieb neben einem Streichquartett fast ausschließlich Werke »ums Klavier herum«, darunter ein Klavierkonzert und mehrere entsprechende Sonaten. Im Alter von 30 Jahren (1948) legte sie die Sechs Préludes für Klavier vor.
Das erste Prélude kommt einem vor wie ein mit armenischer Folklore remixter Gershwin. Modale Tonleiterausschnitte führen quasi improvisatorisch zu neuen Akkorden – und daraus schält sich eine hier durch ein interessantes Grooven untergründelte Melodie heraus; einem 3-gegen-2-Grooven, das pianistisch-kompositorisch auf gewisse Chopin-Erfahrungen hindeutet. Wir hören viele kleine Vorschlagsverzierungen, die auch von einer Duduk stammen könnten. Langsam türmen sich Emotionen des Nachdenkens auf; das macht sich in der Dynamik inbrünstig bemerkbar. Das »Folkloregefühl« stellt sich freilich auch deswegen ein, weil Tschebotarjan ausdauernd mit schön hartnäckigen Bordunquinten im Bass arbeitet. Dadurch »ruht« die Emotionalität des Ganzen auf alter Erde – und wird doch durch die sich emporschlängelnde Melodik in ein Gefühl des landschaftlichen Überblicks transzendiert. Erhabenheit – im Lichte zwielichtiger Klagen (die vielleicht aber schlichtweg zum Alltag irgendwie dazugehören). ¶