Vor fünf Tagen, am 16. September 2022, war es genau 135 Jahre her, dass Nadia Boulanger in Paris geboren wurde. Häufig erwähnt man sie nur als »Kompositionslehrerin von …«. Und in der Tat: Die Liste von Komponistinnen und Komponisten, die bei Boulanger in Paris in die Lehre gingen, klingt – sowohl quantitativ, als auch in der ganzen Verschiedenheit der Ästhetiken qualitativ – beeindruckend: Aaron Copland (1900–1990), Grażyna Bacewicz (1909–1969), Astor Piazzolla (1921–1992), Quincy Jones (*1933), Philip Glass (*1937) – und viele mehr.

Insgesamt waren es, wie man in dem Artikel von Melanie Unseld lesen kann, über 1.000 Kompositionsschülerinnen und -schüler, die von dem herausragenden pädagogischen Talent Boulangers profitierten. Auch unterrichte Nadia Boulanger das Fach Klavier. Ihr mit Abstand berühmtester Schüler, mit dem sie auch als Pianistin zusammen auftrat, war der früh verstorbene Dinu Lipatti (1917–1950).

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Boulanger selbst begann im Alter von nur zehn Jahren ihr Studium am Konservatorium von Paris. Sie war die älteste Tochter der aus Russland stammenden adeligen Sängerin Raïssa Mychetskaja (1858–1935) und des Komponisten Ernest Boulanger (1815–1900), der zwar acht Opern schrieb, dessen Werke aber nirgendwo mehr gegeben werden; ganz im Gegensatz zu denen von Nadias sechs Jahre jüngerer Schwester Lili Boulanger (1893–1918). Lili wurde nur 24 Jahre alt und starb 1918 an Tuberkulose. Schwester Nadia erreicht mit 92 Jahren ein geradezu biblisches Alter.

1900 starb Nadias Vater Ernest Boulanger. Die 12-Jährige nahm sich vor, ihr Studium möglichst schnell zu beenden. So kümmerte sie sich ab dem Alter von 17 Jahren um den Familienunterhalt und unterrichtete, um das nötige Geld zu verdienen. Gleichzeitig arbeitete sie aber zunächst noch weiter als Komponistin. Boulanger traf mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten aus der Kulturwelt zusammen. Unter anderem verband sie mit Igor Strawinsky eine enge Freundschaft.

Ab 1921 bis 1979 – also bis zu ihrem Tod – unterrichtete Nadia Boulanger jeden Sommer in Fontainebleau (südlich von Paris). Diese Sommerkurse wurden vor allem von Kompositionsstudierenden aus den USA frequentiert, womit auch die Vielzahl an US-Amerikaner:innen unter den Schüler:innen Boulangers zu erklären ist. Boulanger unterrichtete durchweg – und äußerst ausdauernd – an mehreren bedeutenden Ausbildungsstätten. 1935 wurde sie Nachfolgerin des verstorbenen Paul Dukas an der Royal Academy of Music in London (gleichzeitig galt die Unterrichtsverpflichtung auch für das Royal College of Music sowie für die Yehudi Menuhin School). Die vielen pädagogischen und organisatorischen Aufgaben bedingten allerdings die Einstellung aller kompositorischer Arbeiten. Ab 1919 trat Nadia Boulanger kompositorisch nicht mehr öffentlich in Erscheinung. »Je mehr sie unterrichtete, desto weniger komponierte sie«, so Autorin Unseld.

Nadia Boulanger starb mit 92 Jahren am 22. Oktober 1979 in Paris.


Nadia Boulanger (1887–1979)
Soir d’hiver (1914/1915)

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Nadia Boulangers Werkkatalog umfasst ein paar Stücke für Orgel, ein Werk für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1912, Kantaten, eine – wie es scheint: bis zum heutigen Tage nicht uraufgeführte – Oper (La vielle mort, 1913), die zusammen mit Lebensfreund Raoul Pugno (Pianist, Organist und Komponist, 1852–1913) entstand sowie ungefähr zwei Dutzend (veröffentlichte) Lieder. Dazu zählt auch das Lied Soir d’hiver aus dem Jahr 1915. Nadia Boulanger war also 28 Jahre alt.

Der Text stammt von Nadia Boulanger selbst. Eine junge Frau wiegt ihr Kind in den Schlaf. Die Mutter selbst ist alleine – traurig, und muss doch das Trostlied für ihr Kind weiter und weiter singen. Wie sich bald herausstellt (»Nun ist Weihnacht‘, mein frierendes Kind … Sie weint, aber sie ist voller Hoffnung. Sie hört die Siegessignale aus der Ferne, sie ahnt den erbarmungslosen Kampf«), handelt es sich um ein Lied, das sich auf die Schrecken des Ersten Weltkriegs bezieht – und das im Angesicht des Weihnachtsfestes. Damit ergibt sich eine luzide Verbindung zu Debussys bitterem Erste-Weltkriegs-Weihnachtslied Noël des enfants qui n’ont plus de maison aus denselben Monaten. Auch hier stammt der Text vom Komponisten selbst.

Die Musik erzählt zunächst eine Geschichte der Leere, der Erschöpfung. Gleich zwei »leere« Quinten finden sich unter den ersten drei Klavierklängen des ersten Taktes. Zeitlos, gleichbleibende Traurigkeit in Tonworte setzend; vom Satz her zuerst spärlich, kalt ausgedorrt. Nach den ersten Worten im Gesang bewegt sich das Klavier zumindest auf seiner dritten Zählzeit triolisch ein wenig fort. Freitonal bildet Boulanger mal diatonische Akkorde zwischen Gesang und Klavier, mal stehen beide in einem dissonanten Verhältnis.

Viertel-Terzketten durchziehen dann die Klavierbegleitung. In dem Moment der Äußerung des mütterlichen Einschlafwunsches schreibt Nadia Boulanger eine kleine Belebung im Tempo vor (»Un pleu plus vite«). Jetzt, wo das Kind schläft, erklingen also die Glocken des Erzählens – anders gesagt: Wir müssen nicht mehr so still sein! Die erschöpfte Mutter im Krieg hat Raum, uns ihre Gedanken näher zu beschreiben. Ein berückender, berührender Augenblick. Und überhaupt: Was für ein schönes, großartig frei komponiertes und unfassbar trauriges Lied, das im weiteren Verlauf noch besondere – völlig avantgardistische (doch auch angenehm an Rachmaninow, Debussy und Ravel erinnernde) Überraschungen bereithält! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.