Als ich 12 Jahre alt war wurde James Levine Chefdirigent beim Boston Symphony Orchestra. Mein Vater war dort Cellist. Dieser Essay handelt nicht von Missbrauch – ich habe James Levine nie getroffen. Dieser Essay handelt von dem, was passiert, wenn ein Interpretenkult vorhandenes Wissen verschleiert. Er handelt davon, wie mein musikalisches Verständnis fundamental durch James Levines Handwerk strukturiert wurde, als ich so alt war wie die Jugendlichen, die er mutmaßlich missbrauchte; davon, wie ich mich während dieses Prozesses dazu entschied das, was ich wusste, nicht zu wissen. Er handelt davon, was es für mich bedeutet, dass meine Liebe zur Musik und meine Vorstellungen davon, wie sie zu klingen hat, von jemandem geformt wurden, der Jugendliche missbraucht hat und dass die Institutionen, in und von denen diese Liebe gefördert wurde, möglicherweise den Täter beschützt und den Missbrauch ermöglicht haben.
Worum geht es? James Levine wird beschuldigt, seine Macht über junge Menschen – viele davon seine Studenten oder Schützlinge, viele noch im Teenager-Alter – derart missbraucht zu haben, dass die Opfer ein Leben lang unter den Folgen leiden und diese sie teilweise an den Rand des Suizids trieben. Bislang haben sich vier von ihnen zu Wort gemeldet: Ashok Pai, Chris Brown, James Lestock und Albin Ifisch. Im Leben dieser Männer findet sich immer wieder dasselbe Muster, das den Missbrauch von den späten 1960er Jahren bis in die Mitte der 1990er kennzeichnet. Alle trafen Levine als Kinder oder Jugendliche, alle sahen in ihm einen musikalischen Mentor – einige als seine tatsächlichen Studenten, andere als Fans. In jedem Fall erschlich er sich das Vertrauen der Kinder, wurde ihr Lehrmeister, kam ihnen nahe und machte schließlich sexuelle Avancen.
Das, was die Männer beschreiben, ist Missbrauch, der an Folter grenzt. Levine überschüttete sie mit Aufmerksamkeit, erschlich sich ihr Vertrauen, um sie schließlich sexuell zu missbrauchen – sobald sie ihn und seine Annäherungsversuche ablehnten, schenkte er ihnen keine Beachtung mehr und drohte damit, ihre Karriere zu zerstören. Er ignorierte immer wieder das »Nein« seiner Opfer und zwang die Jugendlichen dazu, seine sexuellen Avancen zu akzeptieren. Ein Mann erinnert sich in der New York Times, dass »Levine ihm in einem Hotel nahe des Ravinia Festivals physischen Schmerz zufügte, ihm sagte, er solle seine ›emotionale Bandbreite erweitern‹ und ihn – wiederholt und sehr stark – zwischen seine Beine geklemmt habe. ›Auch als ich schon zusammengebrochen war und weinte, versuchte er mir weiter wehzutun.‹«
Lesen Sie bitte diese Darstellungen, bevor Sie meine lesen. Lesen Sie sie und versuchen Sie zu verstehen, was diese Männer durchlebten – das Trauma der Tat und danach das der Vertuschung. Ich glaube diesen Männern. Ich glaube, dass James Levine ihnen all das angetan hat.
Als ich 12 Jahre alt war und James Levine seinen Posten als Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra antrat, setzten sich meine Eltern mit mir zusammen und erklärten mir, dass es ernstzunehmende Gerüchte über Levine gebe. Sie erzählten mir, dass sie gehört hätten, er habe sich kleinen Jungen gegenüber unangemessen verhalten. Damals war ich oft im Backstagebereich des BSO und in Tanglewood, wo ich mit meinen Freunden, die ebenfalls Kinder von Musikern des BSO waren, rumhing und mir die Proben anhörte. Sie sagten mir damals, dass ich niemals mit James Levine allein in einem Raum sein sollte. Sie sagten mir, dass ich in die andere Richtung laufen solle, wenn ich ihn kommen sähe.
In den nächsten Jahren eröffnete mir James Levine während der zahlreichen Konzerte des BSO, die ich anhörte (etwa auf freien Plätzen im zweiten Rang oder an den Seiten des Tanglewood Shed neben den freundlichen Platzanweisern stehend) die Welten des Orchesterrepertoires. Die Art, wie ich Orchestermusik denke – wie sie klingt, wenn ich sie in meinem Kopf höre – wurde zutiefst geprägt durch seine Programme und seine Interpretationen. An eine unglaublich Fülle von Musik kann ich nicht denken, ohne an James Levine zu denken.
Wenn ich an James Levine denke, dann denke ich an ein Wagner-Programm in der Carnegie Hall, das mit Ausschnitten aus dem Rheingold eröffnet wurde und mit einer Opferszene schloss, die mich mit Weinkrämpfen zurückließ. Ich denke daran, wie ich zitternd in der Symphony Hall saß, überwältigt von der Klarheit und Kraft der Dur-Akkorde, die für die Öffnung der fünften Tür in Herzog Blaubarts Burg standen. Ich denke an eine unheimlich starke Karita Mattila in Fidelio, an eine Aufführung der Gurre-Lieder von besonderer Balance und Klarheit. Moses und Aron, die Mozart-Symphonien, die Missa Solemnis – viele dieser Stücke habe ich zum ersten Mal während Levines früher Jahren als Chefdirigent in Boston im Konzert gehört.
Und was für großartige Konzerte das waren: ausbalanciert, mit Biss, Leben und einer Vision – herausfordernd und spannend. Ein ausverkaufter Konzertsaal bei einem Programm mit Ives, Foss, Carter und Gershwin – wie berauschend! Levine schrieb immer kurze Programmnotizen für jedes Konzert, das er dirigierte. Ich las sie immer sorgfältig. Sie waren mit großer Offenheit und Intelligenz geschrieben, nie von oben herab, sondern immer über die Musik als Musik. »Die Missa Solemnis ist das größte Stück, das jemals geschrieben wurde. Das meine ich ernst.« Jede Unterhaltung und jede Rezension über diese Konzerte konzentrierten sich auf Levine. Sein Dirigat, seine Orchesterarbeit, seine Vision. Ich habe diese Sprache genauso verinnerlicht wie die Idee, innerhalb eines Programmes gewagte Kombinationen zusammenzustellen – gleichzeitig aber auch Levines Vorliebe für Balance und eine zurückhaltende Schlagtechnik. All das sind Dinge, die ich an Musik zu schätzen lernte.
Seitdem ich 12 war, hatte ich Gerüchte gehört. Die Informationen kamen zum Teil aus zweiter Hand. Aber dann war ich auch immer wieder tief berührt von Levines Konzerten, die die Grundlage für meine Wertschätzung von Musik legten. Ich entschied für mich, dass die Gerüchte nicht wahr seien.
Im Jahr 2001 rezensierte Alex Ross im New Yorker ein Buch von Johanna Fiedler über die Met. In ihrem Buch tat Fiedler den Szenetratsch über Levine als üble Nachrede ab, er basiere nicht auf Fakten und sei schlicht erlogen. Ross stimmte ihr zu und schrieb, dass die Gerüchte »in die Kategorie der personalisierten urban legends gehören, die sich an manche Berühmtheiten ohne besonderen Grund anheften… seine (Levines) effektivste Antwort auf die Unterstellungen sind seine Konzerte, die den Tratsch verbittert und unwürdig erscheinen lassen.« Wie konnten die Gerüchte wahr sein, wenn Levines Konzerte so großartig waren? Ich zitiere Ross hier nicht um ihn bloßzustellen (er hat sich für seine Worte mittlerweile entschuldigt). Ich zitiere ihn, weil ich als Teenager, der innerhalb der klassischen Musikkultur sozialisiert wurde, dieselben Schlüsse zog. Ich geisterte durch Internetforen und Kommentarspalten von Blogs, googelte die Gerüchte und versuchte Diskussionen zu finden, in denen sie stichhaltig widerlegt wurden. Ich entschied mich schließlich für ein Bündel von Theorien, die die Gerüchte der bösartigen Homophobie einiger konservativer Sponsoren der Met zuschrieben. Wahrscheinlich lebt Levine ein unkonventionelles Leben, dachte ich, und eine Clique von Met-Unterstützern fühlt sich dabei unwohl. Vielleicht hatte er ja etwas mit jüngeren Männern Anfang 20 und die Gerüchte korrigierten deren Alter nur nach unten. Vielleicht hatte es auch mit seinem Aussehen zu tun – seiner Brille, den Haaren, seinem wuchtigen Bau.
Wie viele queere Menschen, besonders solche mit einem politischen und kulturellen Interesse an der Verteidigung von nicht-normativem, einvernehmlichen Sexualverhalten zwischen Erwachsenen, habe ich Angst vor moralischer Panik und ihren Konsequenzen. Levine fütterte diese Ängste auf zynische Weise, wenn er in Interviews auf seine Privatsphäre hinwies und beteuerte, dass er »gut« sei. »Ich bin zu gut, um wahr zu sein«, sagte er einmal der New York Times, als er auf die »Gerüchte« angesprochen wurde, die sein Privatleben umkreisten. »Schauen Sie, ich bin kein Doktor, der verheiratet mit seinen drei Kindern in der Vorstadt lebt. Ich lebe mein Leben offen; stellen Sie bitte keine Behauptungen über irgendetwas auf. Es geschieht nichts im Unsichtbaren.« Ich akzeptierte das, weil ich wusste, wie schnell aus den untoten und gefährlichen Lügen der politischen Rechten Angriffe auf die sexuelle Freiheit und die Privatsphäre werden können. Heute bin ich auch deswegen traurig, weil meine damals gut gemeinten Gefühle verdreht wurden, um den Missbrauch von Vertrauen und Macht zu verdecken.
Ich war ein Fan, ein junger noch dazu. Dieselben Rechtfertigungen, dieselben Ausreden dafür, dass man nichts wusste, teilten aber auch mächtige Verwaltungspersonen. Die Met etwa erklärte, dass sie »zutiefst beunruhigt über die Nachrichtenmeldungen« sei, die über James Levine veröffentlicht wurden. Das sorgfältig formulierte Statement der Boston Symphony behauptete, dass das Management »während Levines Amtszeit beim BSO von 2004–2011« nie Berichte von Angriffen oder Belästigungen erhalten habe. Ich gehe davon aus, dass es sein kann, dass die Teenager-Kinder von Orchestermitgliedern des BSO untereinander Witze über James Levines Pädophilie machen konnten, ohne dass die Orchesterverwaltung davon mitbekam, dass es einen »Grund zur Besorgnis« gab. Ich denke auch, dass es sein kann, dass die Metropolitan Opera 1979 eine tiefgehende und gründliche Untersuchung anstellte, nachdem sie entsprechende Berichte erhalten hatte. In einem kürzlich erschienenen Interview mit der Welt erinnert sich die Sopranistin Edda Moser daran, dass »Jimmy immer so einen Tross kleiner Buben um sich hatte … zwischen sieben und vielleicht zwölf Jahre alt. Die saßen dann während der Bühnenprobe immer in den Kulissen und haben sich schrecklich gelangweilt. Er konnte sie dort nicht sehen, aber uns gingen sie eigentlich nur auf die Nerven, weil sie immer gegen den Takt mit den Beinen gebaumelt und uns musikalisch durcheinandergebracht haben. Die warteten auf Levine, bis die Probe vorbei war.« Es könnte sein, dass das wirklich so passiert ist und dass niemand in der Met irgendetwas bemerkte oder sich dazu entschloss, der Sache nachzugehen; vielleicht wurde das Ganze auch untersucht und nichts gefunden. Ich will nur anmerken, gewissermaßen um die Plausibilität dieser Theorie zu prüfen, dass die Met schon vor über einem Jahr von dem Polizeibericht erfuhr, der die ganze Sache anstieß; und dass es nach dem Erhalt des Polizeiberichts, auch vor dem Hintergrund der nicht zu überhörenden Gerüchte und dem Vorfall von 1979, keine interne Untersuchung gab, dass niemand an die Öffentlichkeit ging, dass Levine sogar einen Ehrentitel bekam und weiter für Konzerte engagiert wurde.
Tratsch reicht nicht und sollte nie reichen, um eine Karriere zu beenden. Aber Gerüchte, die sich so hartnäckig halten und 1979 und 2016 in Berichten gegenüber der Met dokumentiert werden, hätten viel ernsthaftere Untersuchungen nach sich ziehen sollen, als diejenigen, die es schließlich gab. Es gibt immer noch Leute, die Levines Suspendierung von der Met schlechtreden. Immer noch, nachdem vier und möglicherweise mehr Personen mit ihren Berichten an die Öffentlichkeit gegangen sind. Nachdem es einen Polizeibericht gab. Immer noch. Ein Twitter-User schrieb: »Direkt nach diesem fabelhaften Verdi-Requiem! Konntet ihr euch mit einem so grausamen öffentlichen Statement nicht zurückhalten bis ein faires Verhör stattgefunden hat?« Niemand möchte gerne glauben, dass ein Künstler, der einen derart tief bewegt hat, seine große Macht dafür ausgenutzt haben könnte, anderen Menschen so sehr wehzutun. Der derzeitige Chefdirigent des BSO, Andris Nelsons, behauptete öffentlich, dass es in der klassischen Musikwelt keine sexuelle Belästigung gebe, weil »die Kunst bessere Menschen aus den Leuten macht.« Auch das ist Teil des Genie-Narrativs, in dem es heißt, dass schöne Klänge nicht von hässlichen Menschen hervorgebracht werden können. Es ist allerhöchste Zeit, diesem Narrativ den Boden zu entziehen.
James Levine wurde von Strukturen getragen wurde, die den Missbrauch und die Verletzung von Kindern und Jugendlichen möglich machten. Die klassische Musikkultur – in der der Interpretenkult über allem anderen steht, in der geniale Menschen abgekapselt und von den Folgen ihrer Handlungen abgeschirmt werden, und in der Institutionen mit sinkenden Zuschauerzahlen immer abhängiger von großen Stars und Stifteroligarchen werden – entschied sich dafür, dass der künstlerische Beitrag von James Levine wichtiger war, als die Gesundheit und die Sicherheit von Jugendlichen. In der klassischen Musik werden Menschen wie James Levine zum Fetisch. Wir konstruieren Systeme, die sie schützen und ihnen Macht geben, und rechtfertigen uns, indem wir ihr Talent hochhalten, ihr Potenzial und die Schönheit, die sie in die Welt bringen. Wir tun das, ohne uns um die alptraumhaften Erfahrungen ihrer Opfer zu kümmern oder das Potenzial, das durch ihre Verbrechen zunichte gemacht wird.
Der Kult um das Genie des Interpreten, in dem ein einzelner Mann als so begabt und wichtig angesehen werden kann, dass die Institutionen und das System ihn 40 Jahre lang beschützen, ist verbunden mit einer Vorstellung von sexuellem Missbrauch, die die Täter als einzigartige, von Perversion getriebene Räuber betrachtet, anstatt ihre Taten als schrecklich vorhersehbare Resultate einer Anhäufung von Macht zu sehen. Damit wir Musik auf gesunde Art und Weise machen und rezipieren können, damit wir auf gesunde Art und Weise über Sex denken können, müssen wir das System der Stars und die damit zusammenhängende Akkumulation von Macht zerstören und ersetzen. Am Ende konnte ich mir selbst nur auf diese Weise die profunde Schönheit, die ich über Jahre in Boston erfahren habe, erklären. Was ich damals hörte, war nicht einfach »James Levine, der Dirigent«, sondern es waren all die fantastischen Musikerinnen und Sänger, die die Werke zum Leben erweckt haben. Sie waren ohnehin immer wichtiger. In einer gesunden Musikkultur wäre das klar gewesen. Sie hätte mir das von vornherein so beigebracht – neben oder anstatt dem Figurenkult um den großen Interpreten. Eine gesunde Musikkultur hätte die arbeitenden Musiker – und neue Werke und ihre Komponistinnen oder ihre Verfechter – höher wertgeschätzt als einen einzelnen Stardirigenten, der im Jahr mehrere Millionen Dollar verdient.
Letzten Samstag kam ich gegen sieben Uhr aus der Bibliothek zurück nach Hause. Ich schaute, was es beim Webmagazin »Parterre« so gab und sah, dass sie das Verdi-Requiem aus der Met übertrugen, das vor etwa einer Stunde begonnen hatte. Ich klickte auf den Stream und hörte mir die letzten 20 Minuten an. Wie sich herausstellte, waren dies wohl die letzten Minuten von James Levines Karriere. Das Requiem endet mit einem gedämpften Appell: Libera me, Domine, de morte æterna, in die illa tremenda. »Herr, befreie mich vom Tod an diesem schicksalhaften Tag.« Krassimira Stoyanova intonierte die Abschlusszeilen. Der letzte Akkord verklang. Das Orchester spielte wunderschön, der Chor sang wunderschön. Levine hielt den Applaus zurück, so wie er es oft nach Konzerten tat. Im Publikum herrschte Stille für 15 Sekunden. 30 Sekunden. Eine Minute. Das Schweigen hielt, so wie es 40 Jahre lang immer gehalten hatte. Irgendwann brach es. ¶