Seit dem 21. Mai dürfen bayerische Laienchöre in Gemeinden mit einer stabilen 7-Tage-Inzidenz von unter 100 wieder proben – mit 10 Teilnehmenden in geschlossenen Räumen, an der frischen Luft sind 20 erlaubt. Außerdem müssen alle Beteiligten genesen, vollständig geimpft oder tagesaktuell getestet sein. Ähnlich sieht es mittlerweile zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und dem Saarland aus. Für Kirchen- und Kinder- und Jugendchöre gelten in einigen Bundesländern gelockerte Regelungen. Wieder andere Landesregierungen wie die brandenburgische machen keine gesonderten Vorgaben für Laienchöre, hier greifen die allgemeinen Kontaktbeschränkungen. So ergibt sich, mal wieder, ein bunter Flickenteppich an Verordnungen und Bestimmungen. (An einem Überblick versucht sich beispielsweise der Musikverband Chor und Orchester). Hat man endlich die Regelungen gefunden, die für den eigenen Chor gelten, bleiben Fragen wie: Gibt es überhaupt noch genug motivierte Chormitglieder? Reicht das aktuelle Budget des Chores für Chorleitungs-Honorare und den Noteneinkauf? 

Tiefere Einblicke in diese Herausforderungen, mit denen sich Laienchören beim Neustart in Deutschland, Österreich und der Schweiz konfrontiert sehen, hat jüngst Kathrin Schlemmer erhalten. Schlemmer ist Professorin für Musikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstatt, hat aber auch in Psychologie promoviert und singt selbst in einem Kirchenchor. Zusammen mit Johannes Graulich und Ester Petri vom auf Chorliteratur spezialisierten Carus-Verlag, dem Berliner Domkantor Tobias Brommann und Jan Schumacher von der Frankfurter Universität hat sie im März eine Online-Befragung von Chören aus Deutschland, Österreich und der Schweiz durchgeführt. Ausgewertet wurden die Rückmeldungen von über 4.300 Ensembles, davon 588 Kinder- und Jugendchöre. Befragt wurden dabei nicht Chorsänger:innen selbst, sondern die Chorleitenden. Diese sind laut Kathrin Schlemmer aber in regem Kontakt mit »ihren« Chören – die Antwortmöglichkeit »weiß ich nicht« sei selten gewählt worden. So ergibt sich ein Gesamtbild, dass einerseits die Vermutungen zur schwierigen Lage vieler Laienchöre bestätigt, andererseits aber auch klare Richtungen für einen erfolgreichen Neustart aufzeigt. 

Kathrin Schlemmer • Foto © Christian Klenk

Welchen Zeitpunkt bildet die Studie ab?

Sie lief den ganzen März, bildet also einen Zeitraum ab, in dem sich die dritte Welle schon abgezeichnet hat, aber der schärfere Lockdown noch nicht beschlossen war.

Was sind die für Sie wichtigsten Ergebnisse der Studie?

Da gibt es für mich nicht das eine wichtigste Ergebnis, da durch die Studie verschiedene Bereiche der Chorarbeit abgedeckt werden. Angefangen bei den Mitgliederzahlen: Da haben wir verglichen, wie viele Mitglieder die Chöre vor der Krise hatten und wie viele im März aktiv waren. Es fehlte ungefähr ein Viertel. Ob die wieder reaktivierbar sind oder nicht, können wir noch nicht sagen.

Dann haben wir nach den Proben gefragt. Die Probenzahl hat sich erheblich reduziert. Nur etwa die Hälfte der Chöre probt digital. Dazu haben wir viele Schwierigkeiten zurückgemeldet bekommen, zum Beispiel dass man wegen der Latenzen in Zoom nicht gemeinsam singen kann. Man kann einzeln üben und singen, aber das Gemeinschaftsgefühl fehlt, das ist für die Chöre darum nicht befriedigend. Drei Viertel der Chöre haben in Präsenz geprobt, aber auch nicht in voller Zahl sondern zum Beispiel in Stimmgruppen, oft auch draußen. Aber auch da wurden nicht alle Mitglieder erreicht, die, zum Beispiel weil sie zu einer Risikogruppe gehören, nicht in Präsenz proben wollen.

Wir haben auch nach der mentalen Verfassung der Chöre gefragt, da waren 50 Prozent der Antworten im negativen Bereich – was ja auch nicht verwunderlich ist, wenn die Mitglieder schwinden oder keine richtigen Proben stattfinden können. Der Zusammenhalt war aber bei den Erwachsenenchören noch ganz gut, die haben offensichtlich noch ein Gemeinschaftsgefühl erhalten können – vielleicht auch weil für viele Chorsingen einfach etwas ganz Besonderes ist. Die Kinder- und Jugendchöre haben da schlechtere Werte. Die haben sich aber auch – relativ zu ihrem Lebensalter – länger nicht gesehen.

Woran leiden denn die Chöre, die mental in nicht so guter Verfassung sind?

Dazu haben wir eine offene Frage gestellt, da sind wir aber noch in der Auswertung der über 4.000 Antworten. Aber was wir schon sagen können, ist: Zum Teil geht es in die Richtung, dass die Mitglieder darunter leiden, nicht singen zu dürfen, also ihnen wirklich die Musik an sich fehlt. Und gleichzeitig fehlt die Gemeinschaft miteinander. Denn egal ob man jetzt digital oder in Kleingruppen probt – was man wirklich nicht hat, ist der Gesamtklang des Chores und diese Gesamtgemeinschaft.

Gab es Ergebnisse, die Sie überrascht haben?

Es gab im Grunde keine Ergebnisse, die uns total überrascht haben, weil wir als Team durch unsere vielen Kontakte in verschiedene Chöre das Gefühl hatten, dass es den Chören im Moment nicht so gut gehen kann. Wir wollten diese Situation dann systematisch erfassen. Jetzt haben wir zu ein paar Problemfeldern etwas genauere Zahlen, aber wir haben keine völlig neuen Problemfelder aufgezeigt. 

Wie sehen die Zukunftsperspektiven der Chöre aus?

Viele Chöre machen sich Sorgen, dass die Mitgliederzahlen dauerhaft sinken. Das ist gerade für die Chöre, die sowieso schon Nachwuchsprobleme hatten, dramatisch – für Kirchenchöre auf dem Land zum Beispiel. Die haben jetzt vielleicht ihren letzten Tenor verloren. Auch die Kinder- und Jugendchöre machen sich große Sorgen, weil bei denen die Fluktuation eh immer groß ist.

Ein großes Zukunftsthema ist auch die finanzielle Situation. Viele Chöre sind auf Konzerteinnahmen angewiesen, die seit längerem ausfallen und auch bis auf weiteres ausfallen werden, weil man ja noch immer keine Konzerte geben kann in absehbarer Zeit, zumindest nicht in vollbesetzten Sälen. Den Chören fehlt da also Geld, viele können ihre Chorleiter:innen nicht mehr bezahlen – was besonders schlimm ist, weil das oft freiberufliche Musiker:innen sind, die ohnehin schon sehr leiden.

Und wenn wie Mitgliederzahlen sinken, bedeutet das ja auch weniger Mitgliedsbeiträge.

Genau. Und außerdem kommen auch Mitglieder in finanzielle Bedrängnis, die in Kurzarbeit sind oder arbeitslos. Weniger Mitgliedsbeiträge und Konzerteinnahmen – das ist für manche Chöre verkraftbar. Aber rund ein Drittel der Chöre macht sich Sorgen um die Finanzen.

Heißt das, dass dieses Drittel der Chöre tatsächlich um die eigene Existenz fürchten muss?

Ein Drittel hat gesagt, die Situation wird wirklich bedrohlich in diesem oder im nächsten Jahr. Und im Grunde geht es da schon um die Existenz. Wenn ein Chor weniger Mitglieder und keine Chorleitung mehr hat – da bleibt ja nicht mehr viel. Es gibt diese beunruhigende Zahl von 6 Prozent aller Chöre und sogar 12 Prozent der Kinder- und Jugendchöre, die momentan gar nicht proben und bei denen auch unsicher ist, ob die ihre Probenarbeit überhaupt wieder aufnehmen können.

Haben Sie auch die Chorleiter:innen nach ihrer finanziellen Situation und ihren beruflichen Perspektiven befragt?

Danach haben wir nicht direkt gefragt, weil die ja als Freiberufler:innen schon Teil einer Studie des Deutschen Musikrats sind. Es ist aber auch so, dass es Chöre gibt, die finanziell besser gestellt sind, weil die Chorleitenden zum Beispiel bei Universitäten oder der Kirche angestellt sind.

Können Sie ungefähr einschätzen, was sich seit März für die Chöre verändert hat? Oder haben Sie da nochmal ein Update abgefragt?

Eine Folgestudie gab es jetzt noch nicht, so eine Einschätzung beruht nur auf den Erfahrungen aus meinem Umfeld. Und da sieht es von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich aus. In Bayern durften Kirchenchöre auch während des Lockdowns anlassbezogen proben, in anderen Bundesländern war Singen komplett verboten. Für Laienchöre wäre es äußerst wünschenswert, wenn es bundesweit einheitliche Empfehlungen gäbe, ab welcher Inzidenz Chöre wieder proben dürfen. Wir haben in der Umfrage eine ganz große Offenheit für Schnelltests vorgefunden und könnten das gleiche Testregime anwenden wie zum Beispiel Ballettschulen und Fußballvereine, die ja auch schon wieder aktiv sein dürfen. Da wäre ich sehr zuversichtlich, dass die Chöre das organisieren, dass vor einer Probe alle getestet werden oder sich selbst testen.

Hat Ihre Studie da in der Kommunikation mit Politiker:innen etwas verändert?

Ohne Studie berichten wir nur von unserer eigenen Wahrnehmung und das überzeugt Politiker:innen überhaupt nicht. Jetzt haben wir konkretes Zahlenmaterial und sind damit auch an die Chorverbände herangetreten, wir haben ein Positionspapier veröffentlicht, in dem wir diese bundesweiten Regelungen oder zumindest Empfehlungen fordern, damit die Probenarbeit wieder beginnen kann. Aber im Prinzip ist das Anbahnen von politischen Konsequenzen nicht mehr die Aufgabe von uns Wissenschaftler:innen.

Was fordern Sie außerdem in diesem Positionspapier?

Besonders wichtig sind klare und verbindliche Öffnungsszenarien, natürlich auf Basis der Inzidenzwerte – wir sind keine Querdenker:innen [lacht]. Wir glauben, dass Öffnungsszenarien mit Schnelltests jetzt gut vorstellbar sind. Außerdem fordern wir staatliche Förderung auch für Laienchöre, weil ihre Ressourcen sehr stark angegriffen und zum Teil aufgebraucht sind. Es sollte darum einen Fördertopf geben, bei dem Laienchöre Zuschüsse zum Beispiel zu Honoraren von Chorleitenden beantragen können. Wir brauchen kein Gießkannenprinzip, aber begründete Anträge – auch für kurzfristige Ausfälle bei Konzerteinnahmen – müssen möglich sein. Und drittens wünschen wir uns eine Initiative, die die positiven Effekte des Singens betont. Viele Jahre konnte man vor allem davon lesen und es sind auch Studien in Arbeit zu den positiven Auswirkungen des Singens auf das Wohlbefinden, das Kompetenzgefühl … Es wäre wichtig, das wieder in den Vordergrund zu rücken und nicht die Aerosole in den Mittelpunkt jeder Chorprobe zu stellen, sondern was Chöre tun können für das Gemeinschaftsgefühl. Und außerdem sollte auch in Kindergärten und Schulen wieder verstärkt gesungen werden, damit die Generation, die jetzt eineinhalb Jahre nicht gesungen hat, nicht total verstummt.

Gibt es zu diesen positive Effekten des Singens auch Studien?

Es gibt verschiedene Studien dazu, auch mit unterschiedlichen Zielgruppen. Es gibt schon ziemlich klare Befunde, die Effekte des Singens bei älteren Menschen belegen – das geht dann vor allem in Richtung Musiktherapie. Da weiß man mittlerweile zum Beispiel, dass Musik erinnerungsfördernd ist. Bei jüngeren Menschen ist die Studienlage dünner. Die momentane Studienlage könnte man so zusammenfassen, dass Singen das Wohlbefinden und eine Art Kompetenzgefühl steigert.

Hat die negative Berichterstattung über das Singen auch die Stimmung in den Chören beeinflusst?

Das wurde uns so zumindest nicht berichtet. Vielmehr wurde gesagt, dass die Chormitglieder das Gefühl haben, dass ihnen Singen gut tut und sie es nicht für gefährlicher halten als Einkaufen gehen, dass Singen sie vielmehr gesund macht. Die Singenden scheinen nicht getrieben von Ängsten zu sein. Aber die Chöre leiden unter dem schlechten Bild, das andere jetzt vom Singen haben.

Wenn man so sehr die positiven Aspekte des Singens auf einer eher psychologischen Ebene betont, läuft man dann nicht Gefahr, austauschbar zu werden mit anderen Aktivitäten? Fußball zu spielen stärkt ja auch Kompetenzgefühl und Gemeinschaftserleben. Ermuntert man damit dann nicht Politker:innen zu sagen: ›Die Sportvereine sind ja schon wieder aktiv, das reicht doch erstmal‹?

Kinder und Jugendliche, und natürlich auch Erwachsene, müssen das Hobby finden, das ihnen Spaß macht. Ich glaube nicht, dass jemand, die oder der eigentlich singen will, wegen des Gemeinschaftsgefühls sagt: ›Ach, dann geh ich jetzt eben Fußball spielen.‹ Ich glaube schon, dass das Gemeinschaftsfördernde am Chor auch im Breitensport zu finden ist. Aber da muss man wählen dürfen, wo man dieses Gefühl erfahren will. 

Gerade ist die Wahl aber noch eingeschränkt, weil Sportvereine schon wieder trainieren können, aber noch nicht alle Chöre proben.

Die Sportlobby war da einfach stärker. Auch der Gesang hat eine Lobby, aber die Gefahr des Chorsingens wurde zu Pandemiebeginn so stark betont, dass Chöre es immer noch schwer haben. Und die Kultur steht bei allen Öffnungen recht weit hinten an, trotz aller Hygienekonzepte sind die Konzerthäuser mit die letzten Einrichtungen, die öffnen dürfen.

Obwohl die Profis ja weiterhin arbeiten dürfen. Haben Sie eine Vermutung, was es für die Profichöre bedeutet, wenn das Laienmusizieren jetzt nach der Pandemie reduziert stattfindet, besonders im Nachwuchsbereich?

Da ist es ähnlich wie beim Sport: Wenn in der Breite weniger passiert, haben wir auch an der Spitze weniger. Zum einen setzen sich aus den Chorsingenden die Konzertpublika zusammen, zum anderen sind es oft die Leute, die im Kinder- und Jugendchor singen, die sich später für ein Musikstudium interessieren. Es gibt auch Umfragen  an Musikhochschulen, bei denen wir wirklich beängstigende Zahlen sehen, wie viele Musikstudierende mit dem Gedanken spielen, ihr Studium abzubrechen oder das sogar schon getan haben, weil es ihnen zu unsicher vorkommt. Der Stellenwert, den Kultur aktuell hat, ist für die Kulturschaffenden beunruhigend, auch mit Blick auf die Zukunft.

Ist eine Folgestudie geplant?

Wir sind noch gar nicht ganz fertig damit, die Umfrage aus dem März auszuwerten. Aber wir haben das im Hinterkopf.

Wie ist die Stimmung bei Ihnen im Chor jetzt?

Es ist jetzt wieder das erste Konzert geplant. Wir dürfen wieder mit zehn Leuten proben, nicht nur anlassbezogen. Zehn Singende sind natürlich kein ganzer Chor, aber man kann den Chor aufteilen und schon mal anfangen, mit zwei Leuten pro Stimme in jeder Probe. Es herrscht also eine Aufbruchstimmung. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com