Bei der ungarischen Parlamentswahl vor zehn Tagen trug Viktor Orbáns Fidesz-Partei einen überraschend deutlichen Sieg davon, das Oppositionsbündnis »Ungarn in Einheit« um dessen Spitzenkandidaten Péter Márki-Zay blieb weit hinter den Erwartungen. Ministerpräsident Orbán kann nun das vierte Mal in Folge mit einer Zweidrittelmehrheit regieren. Der Dirigent Iván Fischer hatte bei den Vorwahlen der Opposition öffentlich Márki-Zays Konkurrentin, die sozialdemokratische Europaabgeordnete Klára Dobrev, unterstützt. Während viele Intellektuelle und Künstler:innen das Land in den letzten Jahren bereits verlassen haben, will Fischer auch in Zukunft in Ungarn bleiben – und als Chefdirigent bei seinem Budapest Festival Orchestra (BFO), das er 1983 zusammen mit Zoltán Kocsis gegründet hat. In VAN erklärt er warum.
VAN: Sie haben davon gesprochen, dass Sie einen Beitrag leisten wollen, die Zweiteilung und Polarisierung des Landes, insbesondere zwischen Stadt und Land, aufzuheben. Welche Möglichkeiten hat dabei überhaupt ›Hochkultur‹, die nur von einem kleinen Prozentsatz der eher städtischen Bevölkerung wahrgenommen wird?
Iván Fischer: Man kann etwas helfen. Zuletzt tanzten bei einem Open-Air-Konzert von uns Kinder mit und ohne Romani-Hintergrund zusammen zur Musik von Mendelssohn-Bartholdy. Diese jungen Leute haben wochenlang zusammen gearbeitet. Es gab viel Freude und Lächeln. Sogar Menschen, die in verschiedenen Blasen, ganz anderen Realitäten leben, können durch Musik verbunden werden. Wir spielen Mozart für alle.
Viele Intellektuelle und Künstler:innen haben das Land verlassen, andere sprechen von ›innerer Emigration‹. Glauben Sie, dass das noch zunehmen wird?
Darf ich das in weltweiten Dimensionen beantworten? Wenn irgendwo der Nationalismus tobt, wird das Heimische bevorzugt, wie bei ›America first‹ unter Trump. Das fördert die Mittelmäßigkeit, weil man sich nicht international messen muss. Die global Wettbewerbsfähigen verlassen diese Länder, weil sie sich lieber auf der Weltbühne beweisen wollen.
Sie haben sich trotzdem entschieden zu bleiben. Warum?
Ich möchte mein Publikum nicht im Stich lassen. Sie füllen die Säle, sie brauchen Musik, sie brauchen frische Luft. Vor allem in Budapest gab es immer schon ein großes Verlangen, zu Europa zu gehören, ich fühle es in jedem Konzert.
Gibt es ein ungarisches Musikstück, das für Sie diese Verbindung zu Europa symbolisiert?
Als ich vor zwanzig Jahren in Lyon Musikdirektor war, haben wir dort die neue Oper Drei Schwestern von Péter Eötvös uraufgeführt. Das war ein europäisches Ereignis.
2016 und 2019 schien die Existenz des Budapest Festival Orchestra durch Kürzungen bedroht. Jetzt unterstützt der ungarische Staat das Orchester mit so vielen Mitteln wie noch nie, jährlich 2.000 Millionen HUF (etwa 5,3 Millionen Euro, Stand 13.04.2022) bis 2024. Woher stammt dieser Sinneswandel?
Die Regierung unterstützt die Kultur und die Musik großzügig. Das finde ich richtig. Es gibt sehr viele Orchester in Ungarn und eine seit Zoltán Kodály hervorragende Musikausbildung. Jetzt können wir ruhig arbeiten. Ich glaube, die Kürzung von 2016 war eine übereifrige Aktion des damaligen Bürgermeisters.
Ist die Förderung an Bedingungen oder Vorgaben geknüpft?
Nein, wir sind frei. Die Musik ist keine politische Kunst. Spannungen gibt es eher bei Theatern, Medien, Universitäten und in Schulen.
Vonseiten der ungarischen Regierung gibt es viele Versuche, die Kulturpolitik mit Personalentscheidungen zu steuern, zum Beispiel bei der Besetzung der Führungsposten in der Akademie für Theater und Film. Im Kulturgesetz von 2019 ist davon die Rede, ›die strategische Lenkung der kulturellen Sektoren durch die Regierung zu gewährleisten‹. Gibt es solche Versuche der Einflussnahme auch auf das BFO?
Ich habe nie Einflussnahme erlebt. Das Budapest Festival Orchestra ist eine Stiftung, die subventioniert, aber von einem unabhängigen Kuratorium geleitet wird. Die Autonomie ist uns sehr wichtig, sie hat uns geholfen, seit 1983 ungestört zu arbeiten.
Glauben Sie, dass ›klassische Musik‹ gefördert wird, weil sie gleichzeitig repräsentativ ist und vordergründig ›unpolitisch‹?
Im 18. Jahrhundert hat eine Hofkapelle sicher repräsentative Ziele gehabt. Ein großer König oder Kurfürst engagierte viele Trompeter und ließ neue Opern komponieren. In der Premiere saß er stolz in der ersten Reihe. Die Städte und Länder haben diese Hofkapellen, die wir jetzt Orchester nennen, geerbt. Ich finde diese Tradition etwas altmodisch. Musik ist eine internationale Kunst und baut Brücken. Eigentlich ist Musik das beste Mittel, Europa zu integrieren. Die EU macht einen großen Fehler, wenn sie meint, Kulturförderung solle den Mitgliedstaaten überlassen werden und nicht auf EU-Ebene stattfinden. Wir können genau die notwendigen Gefühle erzeugen, die Gruppen zueinander bringen.

Es wird gerade angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wieder viel diskutiert über das Verhältnis zwischen Musik und Politik. Haben Sie die Sorge, dass das BFO als ›unpolitisches‹ Prestigeobjekt und internationaler Exportartikel vonseiten der Regierung instrumentalisiert werden könnte?
Das ist eben nicht der Fall. Es gibt staatliche ungarische Orchester, die für die meisten Protokollaufgaben gefragt werden. Wir freuen uns, wenn ein Regierungsmitglied zu unseren Konzerten kommt. Es kommt selten vor.
Der Generalintendant der Budapester Oper, Szilveszter Ókovács, hat in einem Interview gesagt, dass es in Ordnung sei, dass die Partei an der Macht Führungspositionen in der Kultur mit einer Person besetzt, ›die sich zu ihren Werten bekennt‹. Was würden Sie antworten?
Seien wir ehrlich, so etwas kann in Frankreich auch vorkommen, wo Operndirektoren politisch ernannt werden. Ich habe eine radikale Meinung, ich finde alle politischen Ernennungen problematisch, man sollte damit aufhören. Die besten Künstler sind unabhängig, wie Mozart, der vom Dienst beim Erzbischof in Salzburg flüchtete. Dieser Erzbischof hat zum Beispiel bestimmt, wie lang eine Messe dauern darf. Das war für Mozart zu viel.
Gemäß dem im Juli 2021 in Kraft getretenen LGBTQ-Gesetz zum Verbot von ›Werbung‹ für Homo- und Transsexualität müssen zum Beispiel Bücher zu diesem Thema nun mit dem Hinweis ›Verboten für unter 18-Jährige‹ versehen und Filme dürfen nicht mehr zu Hauptsendezeiten ausgestrahlt werden. Was bedeutet das für die Musik? Dürften Sie jetzt zum Beispiel Brittens Billy Budd nicht mehr aufführen?
Ich bin sehr traurig, dass dieses Gesetz entstanden ist. Es zeigt, dass es noch ungebildete Schichten der Gesellschaft gibt, die glauben, dass sexuelle Orientierung von der Erziehung beeinflusst sein kann. Diese Leute sind beruhigt, wenn die Politik sagt: ›Wir beschützen eure Kinder.‹ Wir müssen viele Menschen noch aufklären, dass ein Kind nicht ›verdorben‹ sein kann. Das Thema interessiert mich sehr, darum führen wir in diesem Jahr Brittens The Turn of the Screw auf.
In einem Interview haben Sie 2019 gesagt: ›Politik ist nicht unser Beruf. Wir setzen allgemeine Zeichen der Menschlichkeit, Toleranz und Schönheit.‹ Gleichzeitig haben Sie sich auch immer wieder politisch geäußert, sich zum Beispiel 2015 vor einem Konzert gegen die ungarische Flüchtlingspolitik gestellt. Wann entscheiden Sie, sich öffentlich politisch zu äußern?
›Politisch‹ will ich mich überhaupt nicht äußern. Wenn es aber um Menschen und Schicksale geht, dann schon. Flüchtlingen muss man helfen.
Wann sind öffentliche Stellungnahmen hilfreich, welche Kanäle haben Sie noch, Einfluss zu nehmen?
In unserer Zeit hat niemand Kanäle. Menschen leben in isolierten Blasen, lesen nur die eigene Meinung. Wir Musiker haben noch die besten Kanäle, weil (noch) kein Konzert als links oder rechts identifiziert ist.

Die Meinungsfreiheit, die Ihnen selbst als international tätiger und angesehener Künstler in Ungarn zugestanden wird, haben nationale Künstler:innen in Ungarn weniger. Welche Rolle und Verantwortung ziehen Sie daraus?
Es geht nicht um die Meinungsfreiheit, Künstler sind keine Kritiker. Es geht um die Kunst, und Kunst muss frei und gut sein. Aber ich gebe zu: Als Musiker habe ich es leicht, für die Schriftsteller ist es viel schwieriger.
Kennen Sie Viktor Orbán persönlich, haben Sie schonmal mit ihm gesprochen?
Ja, ich hatte einmal ein Gespräch mit ihm. Mit einigen Regierungsmitgliedern hatte ich mehrere Treffen. Ich lade sie immer ins Konzert ein.
Was sagen Sie denen, und welche Antworten bekommen Sie?
Ich sage, was die Musik braucht, was Musiker brauchen um mehr Nützliches zu tun. Sie hören immer höflich zu.
Das mediale Bild Ungarns hierzulande wird fast ausschließlich bestimmt von negativen Nachrichten. Wie sehr schmerzt Sie das?
Das ist furchtbar, und ich denke immer, ich muss mehr tun. Weil ich diese Leute noch nicht besser erziehen konnte.
Ihre Großeltern mütterlicherseits wurden Opfer des Holocaust. In seinem letzten Buch kritisiert der Historiker Heinrich August Winkler das moralische Sendungsbewusstsein mancher deutscher Politiker: ›Die Art und Weise, wie deutsche Politiker ihre Folgerungen aus der NS-Zeit präsentieren, wirkt nicht selten anmaßend.‹ Unbewusst läge dieser ›Vorbildlichkeit‹ auch der Wunsch nach einer Entsorgung des schrecklichsten Kapitels der deutschen Geschichte zugrunde. Finden Sie etwas davon im Umgang der deutschen Politik und Medien mit Ungarn wieder?
Im täglichen Umgang in Berlin fühle ich, dass sich die Berliner tief und ehrlich von der Nazizeit distanziert haben. Sie möchten keinen Freispruch, sie erkennen die schreckliche Vergangenheit und deren Ursachen. Daraus sollte Ungarn lernen: Dort schiebt man die Verantwortung noch weg, es waren die Deutschen, sagen sie oft. Das ist nicht richtig, meine Großeltern wurden von ungarischen Polizisten in Wagons verschleppt und ihre Wohnung wurde von den Nachbarn leergeplündert. Die ungarische Mitwirkung von Staatsapparat und Zivilbevölkerung wird nicht mit Selbstkritik angenommen. Schade. Darum finde ich das deutsche Lernen aus der Geschichte schon vorbildlich.
›Ungarns ist immer noch farbig und blüht‹, meinten Sie 2018 nach dem Wahlsieg Viktor Orbáns. Stimmt das vier Jahre später immer noch?
Ja, vor allem in Budapest blüht die Kultur. Die Provinzstädte kenne ich weniger. ¶