Der 1971 in Tel Aviv geborene Guy Braunstein begann im Alter von sieben Jahren mit dem Geigenspiel und studierte in New York bei Glenn Dicterow und Pinchas Zuckerman. Im Jahr 2000 holte Claudio Abbado, damals Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Braunstein als jüngsten Konzertmeister aller Zeiten in sein Orchester. 2013 beendete er seine Konzertmeistertätigkeit und tritt seitdem als Violinsolist, Dirigent und in Kammermusikformationen auf. Am 4. Dezember ist Braunstein, zusammen mit Stefan Dohr (Horn) und Ohad Ben-Ari (Klavier), in der Reihe 2 x hören KLASSISCH am Konzerthaus Berlin zu erleben. VAN-Autor und Moderator der Reihe Arno Lücker hat Braunstein an einem kalten und verregneten Novembertag im Café Fleury am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte zu einem Gespräch getroffen.
Guy, ein Interviewer hat durchaus den Anspruch, jemandem wie dir nicht zum hundertsten Mal die gleichen Fragen zu stellen. Versuchst du auch, jedes Mal etwas anderes zu ›sagen‹, wenn du mit dem dreißigsten Orchester deine zweihundertfünfzigste Interpretation des Violinkonzerts von Brahms spielst?
Witzig, dass du gerade nach dem Brahms-Konzert fragst. Letzte Woche habe ich dieses Stück sieben Mal innerhalb von acht Tagen in Südamerika gespielt. Insgesamt in meinem Leben, ich weiß nicht genau, zweihundert, vielleicht dreihundert Mal. Jedes Mal ist es ein bisschen anders. Mein Herz schlägt jeden Abend anders. Die Stimmung ist anders, das Licht ist anders. Und während der dreiminütigen Orchestereinleitung vor meinem ersten Einsatz sehe ich in andere Gesichter im Publikum. Ich plane aber nichts bewusst. Die Vorbereitung ist immer methodisch, langweilig sozusagen. Jedes Konzert ist eine neue Geschichte. Wenn ich das Horn-Trio von Brahms nächsten Montag bei dir zwei Mal spiele – und wir bekommen Applaus und spielen das dann noch einmal, dann tun wir das mit der Lebenserfahrung vom ersten Mal. Und das geht dann immer so weiter…
›2 x hören‹ gibt es noch auf eine andere Weise. In Berlin spielst du ja, wenn du mit der Staatskapelle Berlin auftrittst, traditionell ein Konzert in der Philharmonie und am nächsten Tag im Konzerthaus…
(Zündet sich eine Zigarette an) Das ist jedes Mal ein großer Unterschied! Die Philharmonie ist größer. Dort kann ich mich mit dem Klang mehr an die Grenzen kämpfen.
Im Konzerthaus musst du dich also mehr ins Orchester hinein begeben?
Nicht unbedingt. Aber der Große Saal im Konzerthaus akzeptiert etwas weniger Druck auf der Geige. Man muss etwas horizontaler spielen als in der Philharmonie. Um das mit Geigenbau zu vergleichen: Die Philharmonie ist Guarneri del Gesù, das Konzerthaus dagegen eher Amati. Außerdem ist die Bühne ganz anders, das Dach ist anders. Und das Publikum. Alle diese Komponenten spielen eine große Rolle beim Musik machen.
Ganz konkret auf das Brahms-Violinkonzert bezogen: Der Holzbläser-Beginn des zweiten Satzes…
…da gehe ich immer vier bis fünf Meter an die Seite. Das ist kein Theater! Ich bin ein großer und breiter Mann. Ich möchte aber, dass sich das Publikum auf das schöne Oboen-Solo konzentrieren kann. Kurz vor meinem ersten Einsatz laufe ich dann zurück.
Ist es dir schon einmal passiert, dass du vor deinem ersten Einsatz ganz perplex warst und eigentlich gar nicht beginnen wolltest, weil deine Kollegen so schön gespielt haben?
Ja, ja, ja! Ich habe das Brahms-Konzert einmal mit meinem ehemaligen Orchester, den Berliner Philharmonikern, als Solist gemacht. Es war die Generalprobe. Und Albrecht Mayer spielte sein Solo so großartig. Dann kam mein Moment. Und ich konnte nicht. Ich habe abgebrochen und gesagt: ›So geht’s nicht! Albrecht, wenn du so fantastisch spielst, habe ich keine Chance!‹ (lacht) Das war aber nur ein freundlicher Scherz zwischen Kollegen.
Es gibt Leute, denen ist Brahms zu ›perfekt‹. Du hast alle 22 Kammermusikwerke von Brahms, bei denen eine Violine dabei ist, schon gespielt. Gibt es für dich einen ›unperfekten‹ Brahms?
Es gibt Momente wie in seiner Zweiten Sinfonie, in denen du denkst: ›Warum ist das so naiv?‹ Aber bei Brahms ist alles genauso gemeint, wie er es aufgeschrieben hat. Es ist nicht ›perfekt‹ im negativen Sinne! Als ich mich zum ersten Mal wirklich mit dem letzten Satz von Brahms’ Zweiter Sinfonie beschäftigt habe, dachte ich: ›Ich könnte das besser komponieren als Brahms, bessere Harmonien verwenden.‹ Aber dann habe ich doch gemerkt, dass die Musik genau das Gefühl vermittelt, das er suchte. Manchmal ist es vielleicht ein bisschen primitiv – und dann… kommt tatsächlich wieder diese Perfektion! Aber diese Momente der Zerbrechlichkeit, des Unperfekten hast du bei Brahms eher nicht. Ähnlich wie bei Mozart. Außerdem hat Brahms viele Gesichter. Es gibt den hamburgischen Brahms, den ungarischen Brahms, den wienerischen Brahms… Brahms hat mehr Gesichter als fast alle anderen Komponisten. Manchmal ist Brahms sogar Neo-Barock. Zum Beispiel der langsame Satz vom Streichsextett B-Dur op. 18.
(Singt das Thema) Corelli oder Händel? Natürlich in Brahms’ eigener Sprache des 19. Jahrhunderts. Oder der schon erwähnte letzte Satz der Zweiten Sinfonie: Das ist eigentlich wie ein Concerto grosso von Händel. Aber das Klarinettenquintett h-Moll op. 115 ist wieder eine komplett andere Geschichte. Da schaut Brahms zurück auf sein Leben – und weiß, dass er fast am Ende angelangt ist.
Zurück zur Frage nach der Akustik. Hast du schon in der Elbphilharmonie gespielt?
Nein, noch nicht. Aber am 7. Januar bin ich dort zum ersten Mal. Ich spiele mit den Symphonikern Hamburg Tschaikowskys Violinkonzert. Mit dem genialen Dirigenten Kirill Karabits. So ein großes und großzügiges Talent! Vor dem Violinkonzert machen wir eine Szene aus ›Schwanensee‹, die ich für Violine und Orchester bearbeitet habe. Das wird meine erste Elbphilharmonie-Erfahrung sein.
Freust du dich darauf oder hast du auch Respekt? Die Akustik wurde ja nach der Eröffnung eifrig diskutiert…
Ich freue mich immer. Ich liebe neue Erfahrungen. Und danach zurück nach Hause! (lacht) Aber wie findest du die Akustik in der Elbphilharmonie denn?
Fantastisch. Man muss halt sehr konzentriert spielen. Dafür hat man dann aber eine strukturelle Tiefe und Klarheit des Hörens, die großartig ist…
Du musst mit jeder Akustik umgehen. Wenn ich zum Beispiel in einem Raum mit ganz wenig Nachhall spiele, dann produziere ich mit meinem Instrument die Akustik eben selber. Ich spiele dann mit mehr Bogen und mehr Vibrato.
Du dirigierst ja inzwischen auch selber…
Ja, seit vier oder fünf Jahren regelmäßig. Mein erstes Orchester war die Kammerakademie Potsdam im Kammermusiksaal der Philharmonie hier in Berlin. Das war schon 2009 oder 2010. Ich wusste aber nicht, wie ich dirigieren soll. Das war mehr ›Leiten ohne Geige‹. Seitdem dirigiere ich aber mehr und mehr.
Hast du als Dirigent Dinge im und am Orchesterklang erfahren, die du vom Konzertmeisterpult aus nie so wahrgenommen hast?
Nein. Das Orchester war die beste Schule der Welt für mich! Viele Dinge probiere ich als Dirigent erst gar nicht aus, weil ich aus meiner Zeit im Orchester noch weiß, dass das nicht funktioniert.
Worauf ich hinaus will, ist, dass, laut Patrick Süskind der Kontrabass doch mit Abstand das wichtigste Instrument im Orchester ist, richtig?
(lacht) Es gibt keine Regeln für Dirigenten! Was für eine bestimmte musikalische Phrase richtig ist, ist für eine andere Phrase nicht gut. Man muss immer ganz von vorne denken. Aber es stimmt: Wenn es ein Tutti gibt – und eine Phrase entwickelt sich, poco a poco a poco… über dreißig Takte, zum Beispiel bei Brahms. Das muss man langsam aufbauen – und da hast du Recht: Da müssen die Kontrabässe das ganze Orchester mitziehen. Der Kontrabass zeigt an, wann wir kräftiger spielen können und wann wir uns zurückhalten müssen. Dann kommen die Celli und Fagotte, die Bratschen und Klarinetten, die Geigen und die hohen Holzbläser, dann Hörner, dann Trompeten, dann Posaunen. So baut man einen Orchesterklang auf. Aber richtig, der Erste an der Ampel ist der Kontrabass. In diesem Fall! Bei einer anderen Musik aber ist diese Regel wieder völlig falsch.
Wenn du dir ein Violinkonzert von einem schon toten Komponisten, der aber kein Violinkonzert geschrieben hat, wünschen dürftest: Welcher Komponist wäre das?
Das ist für die nächsten Jahre meine absolute Obsession! Im Juni fliege ich nach London. Mit Kirill Karabits. Und wir nehmen eine Tschaikowsky-Platte auf. Mit dem Original-Violinkonzert von Tschaikowsky, der originalen Sérénade mélancolique, dem mehr oder weniger originalen Valse-Scherzo, der besagten Szene aus Schwanensee für Violine und Orchester in einem Arrangement von mir – und zwei vollen Szenen aus Eugen Onegin, ebenfalls für Violine und Orchester von mir bearbeitet. Außerdem arbeite ich gerade daran, die ersten 22 Minuten der Oper Rusalka von Antonín Dvořák für Geige und Orchester zu bearbeiten. Dvořák ist einer meiner Lieblingskomponisten. Aber er hat nur ein Violinkonzert geschrieben. Und ich komponiere mir jetzt aus der Rusalka, ähnlich wie bei Tschaikowsky, ein zweites Violinkonzert. Ein anderer Fall ist Rachmaninow. Irgendwann werde ich etwas finden bei Rachmaninow, aus dem ich mir ein Rachmaninow-Violinkonzert mache! Darin sehe ich meine Zukunft. Und ich bin überhaupt kein Puritaner.
Klingt mutig und bunt… Wenn man sich Konzertprogramme aus dem 18. oder 19. Jahrhundert anschaut, dann sehen die fast immer viel bunter aus als unsere normalen Konzertabläufe mit Ouvertüre, Solo-Konzert und Sinfonie nach der Pause. Damals: Zwei Arien, ein Kammermusikwerk, ein Opern-Auszug, eine Improvisation des Komponisten des Abends und vielleicht noch eine Sinfonie…
Ich habe mal in einem Programm in Hamburg Beethovens letztes Violinsonate, Wagners Vorspiel und Liebestod aus Tristan und Isolde und nach der Pause ein Crossover-Stück mit Rock-, Jazz- und chinesischen Einflüssen von Ohad Ben-Ari gemacht, der in dem Konzert auch mein Pianist war. Der Konzertveranstalter ist fast gestorben als ich dieses Programm vorschlug. Aber der Saal war ausverkauft und das Publikum ist fast verrückt geworden vor Glück. Wir haben manchmal Angst vor dem Publikum – und das macht uns konservativer als wir sein sollten.
Und dazu gehört auch mehr zeitgenössische Musik im Orchester?
Ja. Gerade meine ›Familie‹, die Berliner Philharmoniker haben da eine große Verantwortung. Sie müssen den Weg für andere Orchester vorangehen. Es geht nicht nur um Genuss und den Verkauf von Konzertkarten. Wir müssen die ganze Welt der klassischen Musik zeigen. Simon Rattle wollte das! Er wollte vor allem die Musik der letzten fünfzig Jahre präsentieren. Er wollte György Ligeti, Hans Werner Henze und Wolfgang Rihm zum Mainstream machen. Nicht als ›Bonbon‹ vor der Brahms-Sinfonie!
Letzte Frage: Welchen Fußballverein unterstützt du und warum hast du nie für die Berliner Philharmoniker beim Fußballturnier der Berliner Orchester mitgespielt?
Wenn ich beim Fußballturnier mitgespielt hätte, dann hätten wir garantiert verloren. So schlecht bin ich! Ich bin eher ein Basketball-Fan. Das ist aus meiner Zeit in den USA hängen geblieben. Ich mag Dirk Nowitzki. Das ist meine Welt. Ich unterstütze aber keinen bestimmten Club. In New York habe ich mal den Chef vom Madison Square Garden kennen gelernt und habe dann Spiele der New York Knicks gegen die Chicaco Bulls gesehen – damals noch mit dem jungen Michael Jordan! ¶