Janina Klassen studierte Musikwissenschaft, Germanistik, Philosophie und Italienisch. Nach ihrer Tätigkeit als Autorin, Dramaturgin und Herausgeberin promovierte sie in Kiel. In Berlin folgte die Habilitation. Seit 1999 ist sie Professorin für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik Freiburg. Ihre intensive Beschäftigung mit der Pianistin und Komponistin Clara Schumann gipfelte in der Biographie »Clara Schumann: Musik und Öffentlichkeit« (2009). Arno Lücker hat Klassen für eine neue Folge der VAN-Serie »What’s up with…?« im Café »Zimt & Zucker« in der Potsdamer Straße in Berlin getroffen.
VAN: Seit wann kann Man überhaupt von einer seriösen ›Clara-Schumann-Forschung‹ sprechen?
Janina Klassen: Es gibt sehr früh diese ›doppelte Auseinandersetzung‹ mit dem Phänomen Clara Schumann, da sie zugleich Klaviervirtuosin und Komponistin war. Schon 1838 erschien im ›Universal-Lexikon der Tonkunst‹ von Gustav Schilling ein Artikel über Clara Schumann, damals noch: Clara Wieck. Dort wird bereits hervorgehoben, dass sie komponiert. Vor allem aber wird betont, dass sie in allen verschiedenen Stilen spielen kann, alle Stile auf dem Klavier beherrscht. Es klingt also nicht alles gleich romantisch-virtuos, sondern jeweils sehr unterschiedlich, je nachdem, welche Werke von welchen Komponisten sie spielt. Sie war eine der wenigen Pianist*innen ihrer Zeit, die schon Bach und Scarlatti auf ihre Programme setzten. Bereits mit dem prominenten Lexikon-Eintrag bei Schilling fängt also zumindest so etwas an wie eine konkrete Clara-Wieck-, beziehungsweise dann bald ja Clara-Schumann-Rezeption.
Wo befinden sich denn die wichtigsten Clara-Schumann-Quellen, also die Originale ihrer Werke?
Einiges liegt hier in Berlin, in der Staatsbibliothek Unter den Linden, einiges auch in Zwickau oder in Wien – immer davon abhängig, wem Clara Schumann Notenmaterial und Briefe geschickt hat. Ihre Werke sind gut überliefert. Nur von den Frühwerken haben wir ein bisschen weniger. Das hängt mit ihrer Biographie zusammen. Sie selbst war keine geschickte Archivarin. Ihr Mann Robert Schumann hat ihre Werke sortiert und beschriftet. Aber kommen wir mal zu Ihrer Einstiegsfrage zurück. 1902 ist ein wichtiges Jahr in der Clara-Schumann-Rezeptionsgeschichte. In diesem Jahr erschien nämlich der erste Teil einer dreiteiligen Biographie: ›Clara Schumann. Ein Künstlerleben. Nach Tagebüchern und Briefen‹ von Berthold Litzmann. Litzmann hat leider wenig zu den Kompositionen geschrieben, aber er wertete sehr viel Material aus, das ihm die Töchter von Clara Schumann zur Verfügung gestellt hatten. Parallel dazu publizierte Richard Hohenemser 1906 einen Artikel mit dem Titel ›Die Komponistin Clara Schumann‹. Es war für mich erstaunlich, das damals zu entdecken. Und als sie 1878 ihr fünfzigjähriges Bühnenjubiläum feierte, da nahm man das am Dr. Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt als Anlass, alle ihre Werke gebündelt aufzuführen. In den 1920er- und 1930er-Jahren verschwand das Interesse für ihre Musik leider ein wenig. Das war eine Zeit, in der ganz neuartige Frauentypen angesagt waren – und es war die Zeit der Entstehung einer antiromantischen Avantgarde. Infolgedessen trat ihr Schaffen eher in den Hintergrund und sie galt einfach wieder als ›die Frau von Robert Schumann‹. In den 1950er Jahren dann stellen wir wieder vermehrt Aufführungen mit ihren Kompositionen fest.
Aber Bestrebungen, eine eigene Forschungsstelle oder gar ein eigenes Clara-Schumann-Forschungsinstitut zu gründen gab es nicht?
Nicht unbedingt. Sie hatte natürlich diesen berühmten Nachnamen. Trotzdem wurden ihre Werke immer schon getrennt von ihrem Mann gesammelt, um das nicht zu vermischen. Noch zu DDR-Zeiten Ende der 1980er Jahre war ich in Zwickau. Dort gab es einen ›Clara-Schumann-Tresor‹ mit ihren Autographen, aber auch biographisches Material, ihre Tagebücher, auch die aus ihrer Jugend. In dem Tresor befand sich unter anderem ein Gipsabguss ihrer Hand. Man kann jetzt aber nicht sagen, dass ihre Werke lange in einem Schuhkarton schlummerten. Man wusste von ihr!
Wenn Sie Clara Schumann persönlich treffen würden – und das nach Ihrer höchst intensiven Beschäftigung mit Werk und Biographie: Wäre das wie ein Treffen mit einer guten Freundin?
Das glaube ich nicht. Wegen dieser ganz anderen Denkweise des 19. Jahrhunderts. Das ist total weit von mir weg. Meine Eltern und Großeltern haben vielleicht noch so gedacht. Manches kann ich aus der Zeit Clara Schumanns heraus überhaupt nicht einschätzen. Deshalb ist es auch schwierig zu vermuten, wie sie sich als Frau heute verhalten würde.
In vielen Programmtexten ist die Rede von dem Verhältnis von Clara zu Johannes Brahms, von den vielen Briefen, die sich beide schickten. Der Bechdel-Test fragt analytisch unter anderem danach, ob weibliche Filmfiguren sich auch über andere Themen als Männer unterhalten. Wenn man die unendlich vielen Briefe Claras betrachtet: Wie viele davon würden den Bechdel-Test bestehen?
Bestimmt über neunzig Prozent. Es gibt wahrscheinlich 20.000 überlieferte Briefe von ihr. Der umfangreiche Briefwechsel von Clara und Robert Schumann mit Freunden, Verwandten und geschäftlichen Kontakten wird gerade herausgegeben. Das alles soll letztendlich in neunundzwanzig Bänden erscheinen. Diese Briefe sind in ihrem Ton, ihrem Charakter höchst unterschiedlich, je nachdem, an wen sie gerichtet waren. Auch wenn der Bechdel-Test ja fragt, ob zwei Frauen über etwas Anderes als Männer sprechen und das Beispiel daher eigentlich nicht ganz passt: Das Verhältnis von Clara Schumann zu Johannes Brahms stellt sich bei der Lektüre der Briefe als ziemlich schwierig dar. Da gibt es alte Wunden. Mir fällt da auf, dass sie sicher immer wieder bemüht, einen Konsens zwischen beiden herzustellen. Gleichzeitig ist sie aber auch scharf in ihrer Kritik. In ihrer Kommunikation mit ihrem bevorzugten Kammermusikpartner, dem Geiger Joseph Joachim, ist Clara Schumann ebenfalls sehr direkt und konkret. Tough urteilt sie über bestimmte Werke, wenn sie nicht in ein geplantes Programm passen oder dergleichen. Einen unglaublich intensiven Briefwechsel gibt es zwischen ihr und Emilie List, der Tochter des berühmten Wirtschaftstheoretikers Friedrich List. Die beiden fast Gleichaltrigen haben sich ungefähr mit dreizehn Jahren kennengelernt, wurden gemeinsam konfirmiert. List kam gerade aus Amerika – und Clara Schumann hat Emilie engagiert, um bei ihr Englisch zu lernen. Daraus ist eine Lebensfreundschaft geworden. In diesen Briefen steckt allerdings bis zuletzt dieser ›Mädchenton‹ drin. Das sind Briefe voller Offenheit. Klar spielen da auch Männer eine Rolle, aber oft eben auch nicht. Da schreibt Clara Schumann dann Dinge wie: ›Ich kann einfach nicht mehr!‹
Wenn man sich die – wie ich finde: eigentlich tolle – Mahler-Monographie von Jens Malte Fischer (›Gustav Mahler: Der fremde Vertraute‹, 2003) anschaut, dann fällt auf, dass Mahlers Frau Alma quasi an allem schuld zu sein scheint, An allem Unglück Mahlers, quasi bis hin zu seiner körperlichen Erkrankung am Ende seines Lebens. Manchmal es klingt fast, als sei Alma durch ihre vielen Seitensprünge schuld an Mahlers Tod.
Ich formuliere es mal so: Ich lese die Veröffentlichungen meiner älteren Musikwissenschaftskollegen immer vor dem Hintergrund, wie diese ihre eigenen Ehefrauen eigentlich sehen möchten. Da ändern sich dann die Fragestellungen. Nach Clara Wiecks langen und schwierigem Kampf mit Vater Friedrich um die Beziehung mit Robert Schumann waren beide Eheleute sehr motiviert, das zusammenzuhalten, was sie erreicht hatten. Die beiden waren ja auch nicht lange zusammen! 1840 konnten die beiden endlich heiraten und 1854 ist er in die ›Anstalt für Behandlung und Pflege von Gemütskranken und Irren‹ in Bonn-Endenich eingeliefert worden. Ich glaube, in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit waren beide Ehepartner einander treu.
Aufgrund der sehr unterschiedlichen Qualität bei den entsprechenden Artikeln über Komponist*innen sollte Wikipedia kein MaSSstab rezeptionsgeschichtlicher Perspektiven sein. Ein Indikator ist es dennoch manchmal. In Claras Artikel wird eine ÄuSSerung über ihr eigenes Klaviertrio op. 17 zitiert, mit dem sie ihr Werk letztlich doch als ›Frauenzimmerarbeit‹ selbst degradiert…
Zu diesem Zitat muss man wirklich mal etwas sagen. Niemand wird darauf rumreiten, dass Charles Ives nach jedem Werk sagte: ›Ich höre auf mit Komponieren!‹ Tschaikowsky hielt seine Kompositionen meist für misslungen. Seine beste Freundin Nadeschda musste ihn dann immer vom Gegenteil überzeugen. Clara Schumann hat sich exakt zwei Mal kritisch zu ihrer eigenen Kompositionskunst geäußert. Das erste Mal 1840. Da befand sie sich in einer tiefen Krise und schreibt: ›Ein Frauenzimmer muss nicht komponieren wollen.‹ Das zweite Mal betrifft das von Ihnen angesprochene Klaviertrio. Diese beiden Äußerungen werden immer als Erstes zitiert, auch von den Feministinnen. Und das finde ich absolut perfide und gedankenlos. Denn es spricht ja sehr für sie als Komponistin, dass sie selbstkritisch ist! Das ist gerade angesichts des Klaviertrios Jammern auf höchstem Niveau! Die Schumanns haben damals selbst eine Matinee gegeben, die mit dem Klavierquartett Es-Dur op. 47 von Robert Schumann begann. Dann kam ein Lied von Fanny Hensel und Robert Schumanns eigenes Lied Widmung op. 25 Nr. 1. Abschließend folgte dann Clara Schumanns eigenes Trio op. 17. Das Konzert war ein absoluter Hit! Für mich heißt das auch, dass sich Clara und Robert Schumann ganz bewusst als Komponist*innen nebeneinandergestellt haben! Die kompositorischen Konzepte waren natürlich unterschiedlich. Niemand hat damals Robert Schumanns Werke verstanden. Er hatte beim Komponieren stets die Vorstellung einer Form als Modell, aber sagte sich dann offenbar immer: ›Ich komponiere um diese Vorstellung herum und lasse das Modell dann weg!‹ Dadurch entsteht tatsächlich etwas Neues. Clara Schumann verfolgte ein anders Konzept. Sie hatte diese Vorstellung von Kunst als Idealität, als Gegenwicht zur Realität. Man könnte auch einfach ›Klassizismus‹ dazu sagen. Und dementsprechend ist das Klaviertrio von ihr total ausgeglichen in sich, nicht nur, was den emotionalen Input, sondern auch, was die Dichte in der thematisch-motivischen Arbeit anbelangt. Ein vollkommen gelungenes Stück!
Kam es – ähnlich wie bei Felix Mendelssohns Schwester Fanny Hensel – in der Überlieferungsgeschichte zu Verwechslungen, bei denen nicht klar war, ob das betreffende Werk von Clara oder Robert stammt?
Nein, aber es gibt ja diese Gemeinschaftskomposition: Liebesfrühling op. 37. In der Erstausgabe wurde nicht unterschieden, welche der zwölf Lieder nun von Clara oder Robert Schumann komponiert wurden. Die Kritiker waren teilweise ziemlich verunsichert. In der Allgemeinen Musikalischen Zeitung erschien dann eine Rezension, in der man die Frage der genauen Autorschaft gar nicht stellte! Angesichts des zweiten Liedes – Er ist gekommen von Clara Schumann – war man beispielsweise der Meinung, dass der Klavierpart zu dick aufgetragen sei. In der späteren Ausgabe hat Robert Schumann dann gekennzeichnet, welches Lied von wem ist. Das hatte den sehr lustigen Effekt, dass man von diesem Liederzyklus im 20. Jahrhundert oft nur die Lieder von ihm aufführte…
Gibt es die eine grosse strittige Frage in der Clara-Schumann-Forschung, die die Musikwissenschaftler*innen in zwei Lager spaltet?
Diese Zeit ist ziemlich vorbei. Es gibt einen älteren Aufsatz des verstorbenen Komponisten Dieter Schnebel mit dem Titel ›Rückungen – Ver-rückungen‹, in dem der Autor schreibt, dass Clara Schumann ihren Ehegatten in seinen künstlerischen Höhenflügen behindert hätte. Das stimmt einfach nicht. Und das schreibt auch keiner mehr. Viele Leute interessieren sich natürlich immer noch für die Familie Schumann als System oder für den Umgang mit der Erkrankung von Robert Schumann innerhalb der Familie.
Hat sich Clara Schumann alle ihre kompositorischen Wunschträume selbst erfüllt?
Nein. Und das ist wirklich sehr traurig, auch für mich als Forscherin. 1846 und 1847 arbeitete sie an einem zweiten Klavierkonzert, von dem 176 Takte als Fragment überliefert sind. Das ist diese Zeit, in der Fanny Hensel stirbt. Im Juni 1847 stirbt der erstgeborene Sohn von Clara und Robert Schumann im Alter von zwei Jahren und im November 1847 stirbt Felix Mendelssohn. In den Jahren 1848 und 1849 bringt Clara Schumann zwei weitere Söhne – nach den bereits geborenen drei Töchtern – zur Welt. Robert Schumann hat seine ersten Krankheitsschübe. Sie war darüber sehr traurig und verzweifelt und fürchtete sogar, vor Entkräftung zu sterben. Aufgrund dieser Umstände konnte sie ihr zweites Klavierkonzert f-Moll einfach nicht vollenden. Erst 1853 hat sie erst wieder in größerem Rahmen komponiert. Bis zu ihrem Klaviertrio 1846 hatte sie sich noch durchgekämpft…
Besteht die Möglichkeit, dass noch bisher unbekannte oder verloren geglaubte Kompositionen von Clara Schumann auftauchen?
Ja. In den Tagebüchern Clara Schumanns findet sich eine Notiz über die Arbeit an drei Orchesterwerken aus der Zeit der Entstehung ihres ersten Klavierkonzerts, also 1835. Einige andere von ihr explizit erwähnte Werke, darunter Klavierstücke und Lieder, sind auch nicht überliefert. Da könnte also bald etwas anstehen… ¶