Auf Alexander Melnikovs neuestem Album, Fantasie, spielt der russische Pianist Musik von sieben Komponisten: Carl Philipp und Johann Sebastian Bach, Mendelssohn, Mozart, Chopin, Busoni und Schnittke. Der Titel klingt nach romantischen Träumereien, doch Melnikov geht dieses Repertoire präzise artikuliert, mit Biss an. Bei jedem Stück setzt er sich an ein anderes Tasteninstrument, aber das vergisst man leicht ob seiner klaren Linien, die bei all seinen Interpretationen deutlich im Vordergrund stehen.
Ein kleiner Transparenzhinweis: Ich habe Melnikov 2013 kennengelernt, als ich ein Jahr lang bei einer Künstleragentur gearbeitet und die Reisen für ihn und andere Künstler gebucht habe. So ist es naheliegend, dass unser Gespräch mit Melnikovs Faszination fürs Fliegen beginnt. In seinem Wohnzimmer steht, neben einer Kuh auf einem Schachbrett und einer Mini-Beethoven-Büste, ein maßstabsgetreues Modell der Concorde, in seinem Arbeitszimmer sogar ein kompletter Flugsimulator. Wir sprechen über die entspannende Wirkung des Fliegens (»besser als Wodka«), über das Hochstaplersyndrom und über Momente, in denen es sich lohnt, auf der Bühne zu sitzen.
VAN: Seit 2000 hast du eine Privatpilotenlizenz. Jetzt steckst du mitten im Bewerbungsverfahren zum Piloten bei Eurowings. Warum wolltest du neben dem Klavierspielen auch fliegen?
Alexander Melnikov: Ich bin immer gerne geflogen; so viel saß ich zwar nicht im Cockpit, aber ein bisschen habe ich schon nach meinen Musterberechtigungen geschaut. Am Anfang wollte ich mich einfach nur verbessern. 2015 habe ich mein Multi Engine Rating gemacht, 2017 habe ich mir dann Gedanken über ein Instrument Rating gemacht. Von Isabelle [Faust] wusste ich, dass Daniel Harding das macht, und ich dachte: ›Okay, wenn er das kann, kann ich das auch.‹ Es ist lustig: Ich bin in Kontakt mit ihm, aber echt nur als Pilot. Wir reden nie über Musikalisches. Ich habe ihn um Hilfe bei der Jobsuche gebeten und er war sehr zuvorkommend.
Die Ausbildung ist so aufgebaut, dass es am meisten Sinn ergibt, die gesamte Berufspilotenlizenz zu machen und nicht nur ein Instrument Rating. Kurz vor der Pandemie hatte ich mehr und mehr das Gefühl … Ich wollte nicht weniger spielen oder so, aber ich wollte etwas anderes. Ich wollte eine Herausforderung, die nichts mit Musik zu tun hatte. Also habe ich losgelegt. In den ersten zwei Jahren muss man nur die 14 Theoriefächer schaffen. Normalerweise ist das eine Vollzeitbeschäftigung, aber ich habe das alles gemacht, während ich Konzerte gespielt habe und meine Familie hatte. Ich mochte die Herausforderung.
Und dann kam die Pandemie. Ich saß in Spanien fest. In vielerlei Hinsicht war es eine außergewöhnliche Zeit. Manche finden ja, es war eine fantastische Zeit; ich würde das nie sagen, vieles war ja so tragisch. Aber für meine persönliche Entwicklung war es in der Tat sehr schön, weil ich dadurch manches erkannt habe und dafür hätte ich sonst keine Zeit gehabt.
Was zum Beispiel?
Was mag ich an meinem Beruf, was mag ich nicht? Was brauche ich, was brauche ich nicht? Wie fühlt es sich an, etwas ganz anderes zu machen? Wie fühlt es sich an, Klavier zu spielen, ohne den enormen Druck, Konzerte geben zu müssen, für die man mal wieder noch nicht bereit ist?
Als ich mit Harding übers Fliegen gesprochen habe, meinte er, dass ihm daran besonders gefällt, dass es gar nichts mit Musik zu tun hat. Siehst du das ähnlich?
Ich denke wirklich nur bei Interviews darüber nach, was Musik und Fliegen verbindet. Manchmal hört man Musik, während man im Flugzeug sitzt, und manchmal ist ein Musiker auch Pilot. Aber eigentlich hat es nichts miteinander zu tun.
Ich habe durchs Fliegen viel gelernt. Ich weiß aber nicht, ob mir das als Musiker hilft. Ich würde da gerne dran glauben, aber ich bin mir nicht so sicher. In den 14 Theoriefächern sind 80 Prozent von dem, was man lernt, Bullshit. Ich habe keine Angst vor diesem diesem Ausdruck, aber du wirst ihn wahrscheinlich nicht drucken …
Oh doch!
… 20 Prozent sind sehr interessant: Meteorologie, Navigation, die menschliche Leistungsfähigkeit, Flugplanung und so weiter. Zum Schluss hatten wir einen 40-stündigen Multi-Crew-Kooperationskurs in einem 737-Simulator. Das hat mir die Augen geöffnet: Es geht um Krisenmanagement, Risikomanagement, darum, mit den Ressourcen richtig umzugehen und die eigenen menschlichen Grenzen zu kennen. Irgendwann war ich völlig entsetzt, wie viele unglaublich nützliche und einfache Techniken, die es gibt, um Krisensituation zu meistern, ich nicht kannte. Es mag kitschig klingen, aber jedes Mal, wenn ich mit einer Krise konfrontiert werde – auch auf emotionaler Ebene –, wende ich ein bestimmtes Akronym an.
Welches?
PIOSEE: Problem, Informationen, Optionen, Lösung, Durchführung, Evaluation [problem, information, options, solution, execution, evaluation]. Wenn man das wirklich macht – in dieser Struktur –, dann wirkt das Wunder. Plötzlich werden scheinbar unlösbare Probleme … Sie werden nicht einfacher, sie verschwinden nicht, aber man weiß, was man mit ihnen machen kann und was nicht. Die Chancen steigen, dass man zu einer optimalen Lösung kommt. Ich weiß nicht, ob mir das als Musiker hilft, aber als Mensch hilft es mir sehr.
In seinem Buch Skyfaring schreibt der Pilot Mark Vanhoenacker, wie gerne er Musik hört, während er im Flugzeug sitzt. Harding hat einmal versucht, als Pilot Musik zu hören, und es gehasst. Hörst du in Flugzeugen gerne Musik?
Das ist unmöglich. Zuerst mal braucht man richtige Noise Cancelling Kopfhörer und die finde ich furchtbar. Wenn ich als Passagier fliege, gucke ich nicht mal Filme.
Ich bin einfach so fasziniert vom Fliegen. Das hilft mir, mich nicht von all den Schrecken des modernen Reisens verrückt machen zu lassen. Ich war noch nie so weit, dass ich das Rollo runter machen und nur in der Metallröhre sitze und einen blöden Film anschauen würde. Einmal bin ich von Neuseeland über L.A. nach London geflogen. Dass man innerhalb von 24 Stunden zwei Sonnenaufgänge zu sehen bekommt… Jeder Start, ob ich nun fliege oder geflogen werde, ist ein unglaublicher Moment. Ich werde es nie satt haben. Aber ich würde im Flugzeug nie Musik hören, es sei denn, es ist notwendig für die Arbeit, was oft vorkommt.
Ich kenne keine Aktivität, die für mich vergleichbar ist mit dem Fliegen: Bei jedem Flug, selbst im Simulator, vergisst man alles andere. Das ginge sonst nur, wenn man zwei Liter Wodka trinken würde, aber eigentlich nicht mal dann [lacht]. Daniel Harding hat das sehr schön ausgedrückt: Fliegen ist ein kreativer Prozess, aber niemand guckt zu und das Ziel ist, dass nichts passiert.
Während der Pandemie hast du mit deinem ehemaligen Fluglehrer an einem Projekt gearbeitet, das Drohnen zur Brandbekämpfung einsetzt. Wenn dieses Geschäftsmodell erfolgreich gewesen wäre, würdest du dann heute noch professionell Musik machen?
Darauf habe ich keine Antwort. Vor der Pandemie dachte ich darüber nach, eine zweijährige Pause einzulegen, um richtig Cembalo zu lernen, mich mit Jazz zu befassen – die Sachen zu machen, die ich schon immer machen wollte – und zu fliegen. Ich bin eindeutig vom Pilotenfieber gepackt worden.
Ich habe das Gefühl, ich kann meine Karriere als Berufspilot jetzt nicht einfach abbrechen, weil ich schon so weit gekommen bin. Ich möchte das zumindest einmal als Job machen, es ausprobieren.
Ich würde es in Betracht ziehen, nicht mehr zu spielen und stattdessen zu fliegen, ja. Weil ich genug gespielt habe. Ich liebe Musik, aber meine Liebe zur Musik hat nicht unbedingt viel mit dem Konzerte-Spielen zu tun – das sind zwei verschiedene Sachen. Und meinem Ehrgeiz habe ich auch einigermaßen genüge getan, meine Karriere ist in meinen Augen kein totaler Misserfolg.
Spielst du gern Konzerte?
Nein. Aber: Wenn ich so ›nein‹ sage, schwingt auch so ein ›Guck mal, wie ehrlich ich bin‹ mit. Es ist widerlich, das zu sagen, denn in dieser Branche – ich hasse das Wort Branche – gibt es so viele fantastische Leute, die keine Konzerte spielen, aber alles dafür geben würden. Was bin ich für ein arroganter Arsch, wenn ich sage: ›Ich spiele nicht gerne Konzerte‹, und trotzdem nehme ich den Leuten den Platz auf der Bühne weg? Auch das vergesse ich nie. Es ist ein sehr hartes Geschäft.
Es fällt mir leicht, ein Stück und einen Komponisten zu lieben. Das ist kein Problem, auch wenn ich nicht annähernd so gut bin, wie ich gerne wäre, und mich oft wie ein Hochstapler fühle. Aber ich habe beschlossen, es so zu sehen: Wenn ich das mache, bin ich halt ein Hochstapler! Und dann muss ich wenigsten versuchen, ein guter Hochstapler zu sein. Das ist die Lösung, mit der ich im Moment lebe und die für mich rechtfertigt, all diese Konzerte zu spielen. Und sehr oft bin ich wirklich verliebt in ein Stück.
Aber spiele ich gerne Konzerte? Nein, ich bin einfach zu nervös. Wirklich gut spiele ich eher zuhause, nicht wirklich auf der Bühne. Wie viel Prozent deiner Zeit am Instrument verbringst du auf der Bühne? Im Vergleich zum Üben ist das sehr wenig. Außerdem ist man durch die Nerven gehandicapt, das lähmt alles. Also nein.
Was ich mag auf der Bühne – und das ist eine unglaubliche Droge: neben einem phänomenalen Musiker zu stehen und zu spüren, dass was Besonderes passiert. Ich hatte das vielleicht drei Mal in meinem Leben. Einmal, als ich das berühmteste Stück aller Zeiten, das Zweite Klavierkonzert von Rachmaninow, zum ersten Mal gespielt habe und [Mikhail] Pletnev mich dazu gebracht hat, es innerhalb von zwei Wochen oder so zu lernen. Ich wäre fast gestorben, aber ich war damals noch jung: Ich konnte es noch. Es war eine nervenaufreibende Erfahrung, aber dann, ganz am Ende, im letzten Moment, als er das große Tutti dirigierte, fühlte ich einfach etwas Überwältigendes, etwas, das man sonst auch in Pletnevs Konzerten spürt, aber näher.
Dieses Gefühl hatte ich auch, als ich neben Andreas Staier saß und wir vierhändig Schubert spielten. Er fing an zu spielen, und: Wow! Du sitzt neben einem Wunder. Ich hatte das auch manchmal bei Currentzis, als ich sein Solist war. Er hatte diese Magie, ich sah seine Hand und nichts anderes. Ich hatte das Glück, dass mir das dreimal passiert ist.
Dreimal in einem ganzen Berufsleben, das klingt nicht so oft.
Doch, das ist sehr oft, denn wir sprechen hier von echten Wundern. Es ist wie in der Liebe. Viele Menschen sterben, ohne auch nur einmal verliebt gewesen zu sein. Das ist das gleiche. Aber es gibt keinen Aspekt den ich auf der Bühne genieße, wenn ich alleine dort bin, absolut nicht.
Im Programmheft deiner Rachmaninow-Recitals beim Musikfest hast du geschrieben: ›Wir haben uns ein Rachmaninow-Bild zurechtgebastelt, das sein Schaffen auf einige wenige melodieselige, teils zu Kitsch verbogene Werke reduziert.‹ Was unterscheidet für dich diesen Klischee-Rachmaninow vom ›echten‹ Rachmaninow?
Jahrzehntelang – heute aber eigentlich nicht mehr – war in der deutsch- und englischsprachigen Welt die Meinung ziemlich verbreitet, dass Rachmaninow zwar ein phänomenaler Pianist war, aber als Komponist nicht wirklich neue Horizonte eröffnet hat. Erstens sehe ich nicht unbedingt, warum jeder einzelne Komponist neue Horizonte eröffnen muss. Es gibt eine Menge Komponisten, sogar geniale Komponisten, die stilistisch nicht unbedingt Grenzen überschreiten. Man könnte das gleiche Argument gegen Mendelssohn anführen, aber es ist falsch. Sowohl Mendelssohn als auch Rachmaninow schufen sofort erkennbare musikalische Idiome: Man hört zwei Akkorde, und es gibt keinen Zweifel, wer diese beiden Akkorde komponiert hat. Das an sich ist schon eine solche Leistung, dass es völlig falsch ist, über einen solchen Komponisten zu sagen, er habe nichts Neues gemacht. Nein, er oder sie hat eine neue musikalische Sprache geschaffen, die man sofort erkennt.
Rachmaninow hat natürlich meist für Klavier geschrieben, aber es gibt auch zwei sagenhafte geistliche Werke von ihm, die Vespers und die Liturgie des Johannes Chrysostomos. Wenn man diese Werke nicht kennt, ist es unmöglich, sich den Rest seiner Musik zu erschließen: die modalen und tonalen Strukturen, die Harmonien, alles ist in diesen Werken drin.
Das Blöde bei Rachmaninow ist, dass er so viele Töne schreibt, aber um seine Musik gut zu spielen, muss man jedem einzelnen eine ähnlich große Aufmerksamkeit schenken wie bei Mozart. Neben Rachmaninow selbst kann das nur Pletnev, von allen Pianist:innen, die ich kenne. Ich will andere nicht runtermachen, aber es ist einfach zu schwierig. Pletnev schafft es, als einzige Ausnahme – ich weiß nicht, wie er das macht.
Ich erinnere mich noch, wie ich ihn in Warschau das Zweite Klavierkonzert habe spielen hören, und natürlich hatte ich das Stück auch schon mit ihm gespielt, ich kannte den Saal, ich kannte die Musik, ich kannte alles. Und trotzdem hatte ich das Gefühl: Ich bin in einem Saal, den ich nicht kenne, höre Musik, die ich nicht kenne, gespielt auf einem Instrument, das ich noch nie gehört habe. Ich übertreibe nicht.
Das erfordert eine Kombination aus Fertigkeiten der Hände und des Gehirns. Wenn man Rachmaninow spielt, muss man sich nicht um zwei oder drei Sachen kümmern, sondern um 15 pro Hand: die innere Polyphonie, die Stimmführung, die Phrasierung, das Tempo, die richtigen Töne.
Es ist ein Fluch, aber trotz alledem ist seine Musik unglaublich dankbar, pianistisch gesehen. Sie liegt gut in der Hand, ist angenehm zu spielen. Man will sie spielen. Es ist, als ob man eine Concorde geschenkt bekäme: ›Hier, flieg sie.‹ Aber statt in einer dreiköpfigen Crew ist man nur allein und weiß eigentlich gar nicht, was man tun soll. Aber es ist immer noch eine Concorde, man will sie fliegen.
Rachmaninow werden wir immer spielen. Es fühlt sich großartig an, und es ist großartig. Und wir scheitern jedes Mal. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen. Aber es gibt jedes Mal auch Hoffnung. ¶