Die Autor:innen der mehrseitigen Recherche, die ebenfalls als Video mit dem noch freien Nawalny auf Youtube veröffentlicht wurde, legen offen, dass Gergiev, »der Botschafter Wladimir Putins in der Welt der Kultur«, sein ausländisches Vermögen offenbar seit Jahren vor der Öffentlichkeit verbirgt. Unter anderem soll sich der inzwischen 68-Jährige 2004 in New York in der Nähe des Central Parks und der Metropolitan Opera eine 165 Quadratmeter große Wohnung für rund 2,5 Millionen US-Dollar gekauft haben, was auch das Real Estate Registry der Stadt bestätigt.

YouTube Video
Das zur Recherche veröffentlichte Video (bei Youtube besteht die Möglichkeit, englische Untertitel zu aktivieren)

Die meisten Immobilien besitzt Gergiev der Recherche zufolge in Italien, darunter eine Villa in der Luxus-Wohnanlage Olgiata Country Club, eine Autostunde von Rom entfernt; einen Küstenstreifen mit einer Fläche von 5,5 Hektar und ein Grundstück in der Kleinstadt Massa Lubrense bei Neapel; einen halben Hektar landwirtschaftliche Fläche, einen Vergnügungspark, einen Basketballplatz und das Restaurant »United Tastes of Hamerica’s« in Rimini; ein 800.000 Quadratmeter großes Grundstück in Mailand; den Palazzo Barbarigo und einen weiteren Palast aus dem 15. Jahrhundert in Venedig sowie das 1775 gegründete Grancaffè Quadri auf dem Markusplatz.

Eine von Valery Gergievs Immobilien in Italien: Der Palazzo Barbarigo in Venedig • Foto Deror aviCC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Bei den Recherchen zu Gergievs Immobilienbesitz in Italien stieß Nawalnys Team zudem darauf, dass der Dirigent in einem Grundbucheintrag eine niederländische Staatsbürgerschaft vermerkt hat. Gergiev leitete das Rotterdams Philharmonisch Orkest von 1995 bis 2008 als Chefdirigent. 2005 wurde ihm von der niederländischen Königin der »Orden vom Niederländischen Löwen« verliehen. Bisher war jedoch unbekannt, dass er zusätzlich zu seiner russischen auch eine niederländische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Eine doppelte Staatsbürgerschaft ist in Russland für Beamte im Staatsapparat illegal, alle anderen russischen Staatsbürger müssen darüber lediglich die zuständige Behörde informieren. Interessanterweise schlug ausgerechnet Putin 2020 vor, in der neuen russischen Verfassung ein Verbot der Ausübung staatlicher und kommunaler Ämter durch Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft zu verankern.

Allein das italienische Vermögen Gergievs schätzen die Autor:innen der Recherche auf mindestens 100 Millionen Euro. Den Großteil dieses Vermögens soll Gergiev von der japanischen Harfenistin Yoko Nagae Ceschina vermacht bekommen haben. Nagae Ceschina soll von ihrem italienischen Ehemann, dem Fürsten Renzo Ceschina, rund 190 Millionen Euro geerbt haben. Mit dem Geld habe sie als Mäzenin viele Musiker unterstützt, ihr gesamtes Eigentum habe sie laut Nawalny-Team nach ihrem Tod jedoch Gergiev vererbt. 


»Nicht nur eine Freundin und Partnerin des Mariinsky-Theaters«

In einer öffentlichen Erklärung zum Tod Nagae Ceschinas, die sich unabhängig von der Nawalny-Recherche leicht finden lässt, schrieb Gergiev 2015, dass diese »nicht nur eine Freundin und Partnerin des Mariinsky-Theaters«, sondern auch »eine aufrichtige Bewunderin der großartigen russischen Kultur« gewesen sei, die an allen wichtigen Veranstaltungen des Mariinsky-Theaters teilgenommen habe. Die Mäzenin, die außerdem Mitglied des Kuratoriums des Mariinsky-Theaters war, unterstützte nach Gergievs Worten zudem zahlreiche Audio- und Videoprojekte des theatereigenen Labels. Putin verlieh ihr 2014 den »Orden der Freundschaft« für ihren »großen Beitrag zur Popularisierung der russischen Kultur im Ausland«. Das großzügige Vermächtnis, das Nagae Ceschina Gergiev laut dem Nawalny-Team am Tag ihres Todes überschrieben hat, erwähnte Gergiev in seiner Erklärung von 2015 nicht.

Wladimir Putin und Yoko Nagae Ceschina 2014 bei der Verleihung des russischen »Ordens der Freundschaft« • Foto Kremlin.ru, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

Weiter erhebt das Nawalny-Team gegenüber Gergiev den Vorwurf, er deklariere seine umfangreichen Besitztümer seit 2017 nicht mehr öffentlich. Das sei »absolut illegal«, da die Steuererklärungen anderer Theaterleiter jedes Jahr publiziert würden. Ausländische Besitztümer wie den Wohnungskauf in New York habe er ohnehin nie bekannt gemacht. »Denn wenn diese Wohnung in der Erklärung stünde, dann würden sich jedes Mal, wenn Putin und Gergiev vom ›schrecklichen Westen‹ erzählen, alle empören und sagen: Lieber Gergiev, hör auf, uns anzulügen, du hast eine Wohnung in New York. Warum erzählen Sie uns Märchen?«, so das Nawalny-Team.

Diese Anschuldigungen implizieren nicht, dass Gergiev im westlichen Ausland keine Vermögenssteuern zahle. Fraglich ist, ob die Nicht-Veröffentlichung der Steuererklärungen in Russland tatsächlich illegal ist. Hier muss unterschieden werden zwischen der beim Finanzamt eingereichten jährlichen Steuererklärung und einer, die vom russischen Kulturministerium veröffentlicht wird. Das Nawalny-Team bezieht sich offenbar auf letztere. Die bekanntesten russischen Künstler:innen, darunter auch Gergiev, legten ihre Einkommen zum ersten Mal 2014 offen, zuvor war dies keine gängige Praxis. Nach russischem Gesetz müssen russische Staatsbürger:innen ihr ausländisches Eigentum zwar nicht in Russland deklarieren, die Beamt:innen und Staatsdiener:innen aber schon. In der Kunstwelt ist man sich uneins, ob künstlerische Leiter der staatlich finanzierten Theater als Beamte gelten. »Transparency International – Russland« bestand 2017 in einer Recherche darauf, dass künstlerische Leiter der staatlichen Theater keine Beamten seien; so wie der Staat sie aber politisch behandelt, sieht er sie sicher als Staatsdiener. Gergiev ist weit mehr als der künstlerische Leiter des Mariinsky-Theaters, er ist auch Vertrauter Putins, und man kann und darf von ihm erwarten, dass er seine Steuererklärungen publik macht – wenigstens was sein russisches Eigentum angeht. Gerade das tut er seit 2017 aber nicht mehr. 

Auch an Eigentum in Russland mangelt es Gergiev nicht, wie aus der Recherche hervorgeht. Demnach besitzt der Dirigent weitere drei Wohnungen in St. Petersburg mit einer Gesamtfläche von 670 Quadratmetern, die etwa 140 Millionen Rubel wert sind (umgerechnet rund 1,6 Millionen Euro, Stand 12. April); eine Wohnung in der Twerskaja-Straße im Zentrum Moskaus im Wert von 130 Millionen Rubel (oder rund 1,5 Millionen Euro) sowie ein Ferienhaus und einen Konzertsaal im Dorf Repino bei Moskau, wo der Musiker Wladimir Putin private Konzerte geben soll. 


»Ein schönes Leben« durch eigene Stiftung

Darüber hinaus soll der Dirigent laut der Recherche Gelder der Valery Gergiev Charitable Foundation, die mit dem Ziel gegründet wurde, junge Musiker zu unterstützen und »Russlands kulturellen Einfluss in der Welt zu vergrößern«, für persönliche Zwecke verwendet haben. Die Stiftung wird unter anderem von russischen Oligarchen und staatlichen Unternehmen finanziert, bis vor kurzem aber auch von Unternehmen wie Mastercard und Nestlé. Im Kuratorium sitzen auch die Milliardäre Gennadi Timtschenko und Alischer Usmanow, die auf internationalen Sanktionslisten stehen. Kopräsidenten der Stiftung sind der Sberbank-Chef Herman Gref und der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin. Die Autor:innen der Recherche nennen die Stiftung »Maestros persönliche Geldbörse«, bei der er sich bediene, um sich »ein schönes Leben« zu machen. So soll Gergiev laut Bankauszügen, die die Recherche veröffentlicht, am 10. Februar 2019 in einem Münchner Restaurant, das der Schottenhamel und Lechner GmbH gehört, 5.000 Euro ausgegeben haben. (Am selben Tag dirigierte Gergiev vormittags ein Konzert der Münchner Philharmoniker, bei dem sein Freund, der Pianist Denis Matsuev, auftrat.); im italienischen Restaurant Cafe Fiorello in New York aß und trank Gergiev am 7. März 2020 für über 2.550 US-Dollar. Die Rechnungen bezahlte dann offenbar jeweils die Stiftung. 

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Mit dem Geld der Stiftung wurden der Recherche zufolge außerdem teure Immobilien angeschafft, darunter drei benachbarte Wohnungen im Luxus-Wohnkomplex Art View House in St. Petersburg für 260 Millionen Rubel (rund 3 Millionen Euro, Stand 12. Apri), vier Wohnungen im Zentrum Moskaus für 708 Millionen Rubel (rund 8,2 Millionen Euro, Stand 12. April) und ein Grundstück im Oligarchen-Dorf Rubljowka bei Moskau im Wert von etwa 230 Millionen Rubel. Den Unterlagen zufolge, die das Nawalny-Team als Quelle angibt, besitzt aber nicht Gergiev persönlich diese Objekte, sondern die Stiftung.

Den russischen Präsidenten soll der Dirigent bereits in den 1990er Jahren in St. Petersburg kennengelernt haben. Später freundete er sich dann auch mit Kudrin, Gref sowie den Oligarchen Usmanow, Timtschenko und Wladimir Jewtuschenkow an. Gergiev sei der Hofmusiker all derer, »die das Land seit Jahrzehnten ausplündern«, heißt es in der Recherche. Gleichzeitig fungiere er als eine Art Schatten-Außenminister, der mit der Aufgabe betraut worden sei, das Image Russlands im Ausland zu verbessern und die Aufmerksamkeit »von der Tatsache abzulenken, dass Putin Russland (und die Nachbarländer) ausraubt und zerstört: ›Schauen Sie nicht auf Putin, schauen Sie auf mich! Ich spiele Ihnen Tschaikowsky, Schostakowitsch, Strawinsky vor, aber schauen Sie nicht auf Putins Verbrechen‹«. Diese Rolle sei Gergiev sehr bewusst gewesen. »Wir wollen auch Sergej Lawrow helfen, mit dem ich befreundet bin«, zitiert die Recherche aus einer Rede Gergievs anlässlich der Verleihung des Staatspreises 2016. »Als Russlands Botschafter, der an schwierigen Orten auftritt, wie im syrischen Palmyra 2016, etwas zu tun, damit das Verständnis für die russische Führung, insbesondere für den Präsidenten, tiefer, direkter und aufrichtiger wird; zu verstehen, was Russland heute ist«. 

Gergievs Nähe zu Putin und dessen Politik ist schon lange bekannt. Er unterstützte öffentlich die Annexion der Krim und trat bei Wahlkampfveranstaltungen Putins auf. Gleichzeitig gehörte er zu den weltweit erfolgreichsten und bestbezahlten Klassikstars. In München, wo er 2015 Chefdirigent der Münchner Philharmoniker wurde, war er mit einem siebenstelligen Gehalt der bestbezahlte Mitarbeiter der Stadt. Anfang März 2022 wurde er dort entlassen, weil er sich weigerte, sich vom Angriffskrieg auf die Ukraine zu distanzieren. Nachdem er auch alle anderen Engagements in Europa und Nordamerika verloren hatte, regte Wladimir Putin bei einem Treffen mit loyalen Kulturschaffenden am 25. März 2022 an, das Mariinsky- und das Bolschoi-Theater unter der Leitung Gergievs zu fusionieren. Doch die Welt brauche keinen Vermittler der russischen Kultur, so schreibt das Nawalny-Team zum Schluss seiner Recherche, wenn »dieser Vermittler ein Betrüger, ein korrupter Beamter und ein Feigling ist«. ¶

Der Text wurde verfasst von einer russischen Journalistin, die es angesichts der innenpolitischen Entwicklungen in Russland bevorzugt, unter Pseudonym zu schreiben.

Eine Antwort auf “»Maestros persönliche Geldbörse«”

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