Valery Gergiev ist wieder da. Am 25. März tauchte er in einem Videogespräch Wladimir Putins mit russischen Kulturschaffenden auf. Putin regte darin die Zusammenlegung des St. Petersburger Mariinsky-Theaters mit dem Bolschoi-Theater in Moskau unter ein gemeinsames Direktorat an. Die Idee passt sich nahtlos ein in Putins Geschichtsrevisionismus und sein aus dem Erbe des Zarentums abgeleitetes Selbstverständnis: Bereits vor der Oktoberrevolution 1917 unterstanden die beiden größten und prestigeträchtigsten Bühnen Russlands einer Art Generalintendanz. Und Putin ließ im Gespräch mit Gergiev keinen Zweifel, wen er sich für diesen neu geschaffenen Posten wünscht:
Putin: »Valery Abisalovich, wir haben schon einmal darüber gesprochen. Was halten Sie von der Idee, wieder ein gemeinsames Direktorium [für das Mariinsky- und das Bolschoi-Theater] zu gründen?«
Gergiev: »Es scheint mir, dass dies weitreichende und höchst wertvolle günstige Gelegenheiten bieten würde.«
Valery Gergiev ist seit 1988 Künstlerischer Leiter und Intendant des Mariinsky-Theaters. Wie kein anderer Künstler Russlands hat er sich dabei mit der Macht eingelassen, um seine eigene stetig auszubauen. Mit Putins Unterstützung hat er Mariinsky zu einem Theaterimperium erweitert: eine zweite Bühne, eine Konzerthalle, außerdem zwei bis dato unabhängige Theater in Wladiwostok und Wladikawkas und ein Theaterneubau auf der Insel Sachalin. Putin machte Gergiev zum mächtigsten und reichsten Künstler Russlands und zum kulturellen Aushängeschild seiner Oligarchie. Gergiev revanchierte sich mit Auftritten bei Wahlkampfveranstaltungen Putins und vor russischem Militär. Aus seiner persönlichen und weltanschaulichen Nähe zu Putin und dessen Ukraine-Politik hat er dabei nie einen Hehl gemacht.
Der »Noch«-Intendant des Bolschoi, Wladimir Urin, hatte sich hingegen schon zwei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine in einem Offenen Brief gegen den Krieg gestellt. Primaballerina Olga Smirnova, die prominenteste Ballett-Tänzerin Russlands, verließ das Bolschoi und wechselte zum Dutch National Ballett. Sie sei mit jeder Faser ihrer Seele gegen den Krieg, so Smirnova auf ihrem Telegram-Kanal. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mich für Russland schämen würde.« Auch viele andere russische Künstler:innen verließen Russland oder protestierten öffentlich gegen den Krieg.
Auf Gergiev kann Putin sich hingegen verlassen. Der Krieg gegen die Ukraine könnte dem Dirigenten nun eine Ausweitung seines Imperiums bescheren. Bolschoi und Mariinsky seien zwei der mächtigsten Musik- und Musiktheaterinstitutionen der Welt, so Gergiev am Freitag gegenüber Putin. »Vielleicht ist es an der Zeit, die Bemühungen zu koordinieren.« Gleichzeitig erinnerte er an Theaterneubauten in Kaliningrad, Sewastopol und Wladiwostok. Gut möglich, dass Gergiev schon weitere Expansionen im Blick hat. Als Ersatz für den weggefallenen Jetset im Westen empfiehlt Michail Schwydkoi, Russlands Beauftragter für internationale Kulturpolitik, Auftritte von Gergiev in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die Einwohner von Aserbaidschan, Armenien, Kasachstan und Usbekistan hätten jetzt »die glückliche Gelegenheit, unsere großartigen Künstler zu hören«, so Schwydkoi in der Zeitung Iswestija. »Wir dürfen nicht vergessen, dass es auch Indien, Vietnam, Lateinamerika, Afrika gibt.«

Während westliche Kommentatoren Gergievs Schweigen zur Ukraine lange verteidigten, ihn in einer Dilemmasituation vermuteten oder – wie sein Kollege Christian Thielemann – den »menschlichen Aspekt« in der Diskussion um ihn vermissen, mag Gergiev selbst sich eher als Kriegsgewinnler sehen.