Am 2. Mai wurde Valery Gergiev siebzig Jahre alt, am 9. Mai 2023, dem in Russland gefeierten Tag des Sieges über den Nationalsozialismus, dirigierte er das Orchester des Mariinsky-Theaters im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums – zum Abschluss des 22. Moskauer Osterfestivals, dessen Künstlerischer Leiter er ist. Das Festival gleicht einem mehr als dreiwöchigen Marathon, oft mit zwei Konzerten am Tag in unterschiedlichen russischen Städten. Gergiev war vor nicht allzu langer Zeit regelmäßig in München, New York oder London zu hören, jetzt tritt er neben Sankt Petersburg, Moskau und anderen russischen Metropolen auch im Werk des russischen Autoherstellers KamAZ oder in Tschorny Otrog auf, dem kleinen Heimatdorf von Ex-Ministerpräsident Tschernomyrdin, in der Region Orenburg in den südlichen Ausläufern des Ural. Auch eine Chinareise stand kürzlich auf dem Programm des »Schwagers«, wie er dort genannt wird, nachdem er wegen der Pandemie gute drei Jahre lang nicht in dem Land dirigiert hatte. Während der Tournee kam es jedoch zu einigen Zwischenfällen – laut CNN wurde das chinesische Publikum beim Einlass zu Gergievs Konzerten in Peking gründlich durchsucht, Bücher, Papier und jegliches Schreibzeug wurden genau unter die Lupe genommen.
In den meisten anderen Ländern kann Gergiev hingegen nicht mehr auftreten. Aus seiner persönlichen wie weltanschaulichen Nähe zu Wladimir Putin hat er nie einen Hehl gemacht, nachdem er sich dann zudem im Februar 2022 geweigert hatte, sich gegen den russischen Angriffskrieg zu positionieren, wurden in Europa, den USA und Japan all seine Verträge gekündigt und Gastspiele abgesagt. Einer der zuvor gefragtesten und bestbezahlten Dirigenten der Welt fand sich plötzlich in der weitgehenden Isolation wieder. Es ist nicht verwunderlich, dass er seitdem dem Mariinsky-Theater, das er seit 35 Jahren leitet – seit 1988 als Chefdirigent und seit 1996 als Künstlerischer Leiter und Direktor – mehr Aufmerksamkeit schenkt. Aus seinem Umfeld wird berichtet, dass Gergiev, der vor dem Krieg drei- bis viermal pro Monat Station am Haus machte (was für einen Direktor eines solchen Hauses in Russland als selten gilt), jetzt die meiste Zeit in Sankt Petersburg lebt. Das Mariinsky, eines der größten Ballett- und Opernhäuser der Welt, an dem etwa 5.000 Menschen arbeiten (ca. 3.000 fest angestellt und weitere 2.000 mit befristeten Verträgen), könnte jetzt davon profitieren, dass sein Leiter plötzlich fast überall auf der Welt »gecancelt« wird. Dem scheint jedoch Gergievs Persönlichkeit im Weg zu stehen: Laut der Aussage eines ehemaligen Theatermitarbeiters, der anonym bleiben möchte, habe der Dirigent einerseits einen Kontrollzwang und großes Misstrauen allem und jedem gegenüber, andererseits schiebe er wichtige Entscheidungen immer wieder auf, sodass viele Probleme jahrelang nicht angegangen würden.
Sein Führungsstil ähnelt damit offenbar dem seines guten Freundes Wladimir Putin. Gergiev installiert die gleiche rigide Diktatur, nur im kulturellen Bereich – nicht umsonst nennen viele auch außerhalb des Hauses den Dirigenten hinter seinem Rücken »шеф« (»Chef«). In Sankt Petersburg kennen alle, von den Orchestermitgliedern über die Solist:innen bis hin zum Publikum, seinen Hang zur phänomenalen Verspätung bei Proben und Konzerten (nach Aussagen ausländischer Kolleg:innen kommt das außerhalb von Russland sehr viel seltener vor). Eine weitere Besonderheit des Dirigenten ist seine Liebe zum Geld: Damit – und nicht wegen der Musik allein – erklären ehemalige Mitarbeiter:innen Gergievs Bestreben, so viel und so oft zu dirigieren. Offenbar erhält der Dirigent, zusätzlich zu seinem ohnehin schon stattlichen offiziellen Gehalt, hohe Honorare für jede am Pult verbrachte Stunde. Ein weiteres Indiz für Gergievs Reichtum ist die nach ihm benannte Stiftung, deren Aktivitäten in dem im Frühjahr 2022 veröffentlichten Enthüllungsfilm des Teams um Alexej Nawalny durchleuchtet wurden.
Es ist unwahrscheinlich, dass sich hieran seit 2022 etwas grundlegend verändert hat. Das Mariinsky-Theater mit seinen drei Spielstätten in Sankt Petersburg (das Haupthaus, das vor genau 10 Jahren eröffnete Mariinsky-2 und der Konzertsaal) und zwei Zweigstellen in Wladiwostok und Wladikawkas wird nach wie vor nicht nur durch den Staat (also das Kulturministerium) finanziert, sondern auch durch zahlreiche Sponsoren. Unter ihnen finden sich die größten russischen Unternehmen VTB, Alrosa, Surgutneftegas, Renova und Severstal. Ausländische Firmen sind aus diesen Reihen praktisch verschwunden – mit Ausnahme von TotalEnergies und Bombardier –, genauso sind auch unter den auftretenden Künstler:innen deutlich seltener ausländische Namen zu finden. Seit dem 24. Februar verließen nach dem russischen Choreographen Alexei Ratmansky, der sich mehrfach scharf gegen den Krieg geäußert hatte, der Brasilianer Victor Caixeta, der jetzt Solist beim Dutch National Ballet ist, der Brite Xander Parish, der sich in Oslo niedergelassen hat, der Amerikaner Misha Barkidjija, der zum Australian Ballet gegangen ist, und die Japanerin May Nagahisa das Land. (Ratmansky hatte darum gebeten, seine Choreographien aus dem Repertoire zu streichen, sein Name wurde gleich mit entfernt – von allen Plakaten sowie der Website. Vor kurzem wurde Ratmansky schließlich, wie er in einem Interview mit der New York Times erzählte, aufgefordert, ›die Kosten für Unterkunft und Flüge während der Produktion von Die Tochter des Pharao zu übernehmen‹, einer Produktion, die schließlich im März 2023 in der Inszenierung des Italieners Toni Candeloro auf die Bühne gebracht wurde). May Nagahisa wiederum kehrte im Herbst 2022 unerwartet nach Sankt Petersburg zurück und begründete diesen Schritt mit ihrer Liebe zur Stadt und zum Theater. Einem Tanzkritiker, der anonym bleiben möchte, zufolge sind jedoch nicht nur internationale Stars, die wichtige Säulen für den stellvertretenden Ballettdirektor Yuri Fatejew waren, abgewandert, sondern auch russische Künstler:innen, unter anderem aus dem Corps de Ballet. Im Gegensatz zur Opernsparte, in der sich wenig geändert hat, hat das Mariinsky-Ballett insgesamt etwa dreißig Künstler:innen verloren, obwohl allen – auch den ausländischen – versichert worden war, sie befänden sich in völliger Sicherheit.
Zumindest musste das Mariinsky-Theater noch nie in den neu besetzten ukrainischen Gebieten auftreten (im Gegensatz zu anderen, weniger einflussreichen Kultureinrichtungen, wie dem Vakhtangov oder dem Alexandrinsky Theater). Auch von besonders hohe Wellen schlagenden Absagen ist bisher nichts bekannt: So fand die Premiere eines Boris-Tischtschenko-Balletts (nach dem Gedicht Die Zwölf von Alexander Blok) in einer den Krieg offen kritisierenden Interpretation des Choreografen Alexander Sergejew und des Bühnenbildners Leonid Aleksejew wie geplant im Sommer 2022 statt. Trotz Schwierigkeiten beim Kartenverkauf wird von Zeit zu Zeit ein weiteres Ballett Tischtschenkos, in dem Krieg eine große Rolle spielt, aufgeführt: Jaroslawna (Die Sonnenfinsternis), nach der Handlung von Fürst Igor, choreographiert von Vladimir Varnava. Aber auch wenn das Repertoire des Theaters – offiziell umfasst es etwa 120 Opern und 100 Ballette – nicht unter ideologischer Zensur steht, kann selbst jemand wie Gergiev den Angriffskrieg und die Entwicklungen innerhalb Russlands und der internationalen Beziehungen nicht völlig ignorieren.
Wie die Journalistin Maria Babalova in ihrem Artikel The Theater of Repeated Opera feststellt, sind die Namen herausragender Regisseure wie Graham Vick, Robert Carsen, David Pountney und Dmitri Tschernjakow, die in der Vergangenheit mit dem Theater zusammengearbeitet haben, nicht mehr auf dem Spielplan des Mariinsky zu finden. Zudem sind Aufführungslizenzen für Tanzproduktionen nur zeitlich begrenzt gültig und – diese Erfahrung machen aktuell auch andere russische Häuser – viele erstklassige Choreograph:innen sind nicht bereit, diese zu verlängern. (Zum Beispiel sind die Tage des einzigen Balanchine-Balletts, das noch im Mariinsky-Repertoire ist, möglicherweise gezählt – die Lizenz für die berühmten Jewels, die hier seit Ende des letzten Jahrhunderts aufgeführt werden, läuft 2025 aus). So bleibt Gergiev nichts anderes übrig, als wenig bekannte russische Spezialist:innen zu gewinnen und über die Zeit muffig gewordene Stücke aus dem Bestand zu kramen. Das hat zum Teil kuriose Auswüchse. Zum Beispiel gibt es jetzt zwei Versionen der Legende der unsichtbaren Stadt Kitesch von Rimski-Korsakow auf der Website des Hauses: die berühmte Inszenierung von Tschernjakow aus dem Jahr 2001, die um die halbe Welt reiste, aber lange Zeit vom Direktor links liegen gelassen wurde, und die jüngste »Premiere« von Alexei Stepanyuk, der seine eigene Version von 1994 überarbeitet hat.
Selbst die treuesten Musikkritiker:innen, die das natürlich nicht offen anprangern können, müssen eingestehen, dass Valery Gergiev sich scheinbar im Niemandsland der Wiederaufnahmen herumtreibt. Dabei konzentriert er sich – gewollt oder ungewollt – hauptsächlich auf klassische Werke genau wie auf frivole, die das Publikum offenbar von den Gedanken an die Härten des Krieges ablenken sollen (Don Pasquale von Donizetti, L’italiana in Algeri von Rossini, Die Liebe zu den drei Orangen von Prokofjew). Vielleicht sollen die das Publikum zurück locken in die ziemlich leeren Säle des Theaters, für die die Eintrittskarten trotz der fehlenden Nachfrage (auf der Website des Theaters sind für fast alle Aufführungen noch Karten zu haben) und der ausbleibenden ausländischen Tourist:innen für russische Verhältnisse recht teuer (ab 4.200 Rubel für Opern- und 9.000 Rubel für Ballett-Premieren) bleiben. Außerdem geht aus den Kritiken hervor, dass die meisten Produktionen der letzten Spielzeit in fast allen Bereichen von geringer Qualität sind – mit Ausnahme des Dirigats. Hier sei der Maestro, der endlich gezwungen ist, sich ganz seinem Heimatland zu widmen, immer noch einsame Spitze.
Die Frage ist, wie lange er sich dort noch wird halten können, so ganz ohne ernsthafte Konkurrenz, ohne Tourneestress (vor dem Krieg dirigierte Gergiev, ein echter Rekordhalter in diesem Bereich, weltweit mindestens dreihundert Aufführungen pro Jahr) und den ständigen Wechsels des Orchesters. Vielleicht will er durch einen Ortswechsel neue Kraft tanken? Die Gerüchte über die Fusion des Mariinsky-Theaters mit dem Moskauer Bolschoi-Theater, die im Frühjahr 2022 die Öffentlichkeit erregten, als Wladimir Putin Gergiev einlud, über die Schaffung einer gemeinsamen Leitung beider Theater nachzudenken (wovon der Dirigent offenbar schon seit vielen Jahren träumt), sind in Theater- und Publikumskreisen vor kurzem wieder neu entfacht. Die Zusammenlegung der beiden großen Theater des Landes ist umso wahrscheinlicher, als dass der Direktor des Bolschoi, der 76-jährige Wladimir Urin, gleich zu Beginn des Krieges einen Brief einflussreicher Kulturschaffender gegen die »Spezialoperation« in der Ukraine unterzeichnet hat – und obwohl sein Vertrag offiziell erst 2027 endet, zeigen die jüngsten Ereignisse in Russland, dass selbst scheinbar unantastbare Theaterleiter aktuell schnell von ihren Posten gehievt werden können: Andrey Moguchy am Bolshoi Drama Theater, Maria Revyakina am Theater der Nationen, Rimas Tuminas am Vakhtangov Theater. Sie alle haben – wie auch Urin – öffentlich deutlich gemacht, dass sie nicht hinter der sogenannten »Spezialoperation« in der Ukraine stehen. Gergiev dagegen scheint in Russland so unantastbar wie Putin selbst. ¶