Navid Kermani ist habilitierter Orientalist, Schriftsteller, Reisereporter, Essayist, vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2015 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Dass seine Stimme im politischen Diskurs besonderes Gewicht hat, und ihr viele aufmerksam zuhören, liegt auch daran, dass er kein Intellektueller ist, der die Welt von der Schreibtischkanzel aus seziert, sondern ihr stets teilnehmend begegnet, mit wachem Blick, empathischem Herz und scharfem Verstand. Kermani, der Ethnograph, auf den das zutrifft, was T. S. Eliot in seinem Gedicht Little Gidding beschrieb: »Wir lassen niemals vom Entdecken / Und am Ende allen Entdeckens / Langen wir, wo wir losliefen, an / Und kennen den Ort zum ersten Mal.« Kein Wunder, dass der mit Neil Young und dem 1. FC Köln sozialisierte Kermani irgendwann auch die klassische Musik für sich entdeckte. Für den Weltenbummler, der gerade einige Monate in Ostafrika war und nächste Woche nach Äthiopien aufbricht, wurde die Kölner Philharmonie zu einem »Zufluchtsort des Geistigen«. »Ich erlebe dort teilweise die intensivsten Augenblicke meines Lebens«, erzählt Kermani mir an einem Freitagnachmittag in seiner Wohnung am Kölner Eigelstein. 

VAN: Viele Menschen, die klassische Musik hören, sind schon als Kind mit ihr in Berührung gekommen. Wie war das bei Ihnen? 

Navid Kermani: Ich komme ganz woanders her. Meine Eltern waren kulturinteressiert, aber halt iranisch kulturinteressiert, an iranischer Poesie und Musik. Ich kann auch keine Noten lesen. Meine Eltern haben mich nie dazu angehalten, ein Instrument zu lernen, was ich wirklich sehr bedaure. In meiner Jugend gab es links und rechts niemanden, der klassische Musik gehört hat. Durch meine älteren Brüder und die Umgebung kam die amerikanische und englische Rockmusik herein, für die ich mich begeistert habe und die auch irgendwie cool war. 

Was war dann Ihre erste Begegnung mit westlicher klassischer Musik?

Als Schüler habe ich gelegentlich Konzerte des Siegerland-Orchesters [heute Philharmonie Südwestfalen] besucht, außerdem schrieb ich für die Lokalzeitung in Siegen und weiß noch, wie ich den pensionierten Generalmusikdirektor Rolf Agop besuchte, um ihn zu interviewen. Er war schon sehr alt, und merkte natürlich, dass ich überhaupt keine Ahnung von klassischer Musik hatte, ich verbarg das auch nicht, und meine ganze Erscheinung … na ja, lange Haare und so. Aber er hat mit solcher Begeisterung und auch Jugendlichkeit von Beethoven, von Mozart, von Bach erzählt, dass es mich wirklich packte. Ich bin dann ganz beseelt nach Hause gefahren und habe eine Hymne auf ihn geschrieben, wenn ich mich richtig erinnere. Aber tatsächlich angefangen, mir Klassik-Platten zu kaufen, habe ich erst mit 20, 21. 

Gab es da einen Schlüsselmoment?

Nein, das war einfach nach und nach die Feststellung – vielleicht ausgehend von meiner Beschäftigung mit Ästhetik und Theater –, dass es in dieser Musik etwas Unergründliches gibt, wo man nicht dahinter kommt, und dass das eigentlich das Faszinosum ist. Viel schwieriger zu entschlüsseln als Rockmusik, viel mehr zu entdecken bei jedem neuen Hören – was nicht bedeutet, dass ich Rockmusik nicht immer noch sehr mag. Den Sound von Crazy Horse etwa oder die Songs von Led Zeppelin, die finde ich heute noch genauso groß wie vor dreißig Jahren. Während meines Studiums in Köln bin ich dann relativ früh mit klassischen Musikern in Berührung gekommen, einige leben auch hier im Haus, die Philharmonie wurde zu einem Lieblingsort. Über die Jahre hat es sich dann immer stärker verlagert, es taten sich immer neue Welten auf. Aber es gibt gewaltige Lücken in meinem Wissen, das ist mir heute noch unangenehm. 

Warum ›unangenehm‹?

Weil ich mich ab und zu über Musik äußere, eine Rede in der Philharmonie halte oder einen Artikel über Bayreuth schreibe. Ich muss die Lücken dann nicht verheimlichen, weil ich mich nicht zum Experten aufschwinge. Und der Moment der Fremdheit, dieser staunende Blick von außen, als ob man etwas zum ersten Mal erlebt – gerade dadurch nimmt man gelegentlich Dinge wahr, die von innen nicht so auffallen. Aber man darf es nicht überstrapazieren und es ersetzt nicht das Wissen. 

In Ihrem letzten Buch Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen schreiben Sie, dass theologisches – oder musikwissenschaftliches beziehungsweise -analytisches Wissen – dabei helfen können, eine Gottes- oder Musikerfahrung zu bereichern. Aber ›am Ende vermag ich eben nicht in Worte zu fassen, warum genau das erste Impromptu mich ins Herz trifft, jedes Mal, wenn ich es höre, und das Gleiche gilt für Gott‹. Kann es die Erfahrung stören, wenn man ›zu viel‹ weiß? 

Ich glaube, dass das Wissen die Erfahrung bereichert. Es sei denn, man verwechselt beides. Wenn man glaubt, Religion geht in der Theologie auf, würde man das Zentrum verlieren. Und so ist es in der Musik auch. 

In der klassischen Musik ist anders als in der Popkultur das Expertenwissen oft Voraussetzung dafür, öffentlich über klassische Musik schreiben oder sprechen zu dürfen. 

Das stimmt, das fällt mir auch auf. Aber in der Popkultur stört es mich auch oft, wenn plötzlich der Chefredakteur meint, nur weil er früher auch mal die Stones gehört hat, sich jetzt zum Stones-Konzert kompetent äußern zu können, denn das stimmt ja nicht. 

›Ich bin nicht vom Fach, und mir fehlt das musikalische Vokabular, um zu benennen, was in diesen knapp zehn Minuten passiert‹, schreiben Sie in Ihrem Neil Young-Buch. Würden Sie auch ein Buch über Ihren Lieblingskomponisten Schubert schreiben? 

Das würde ich gerne. Aber dadurch, dass ich mit Neil Young aufgewachsen bin, und nicht mit Schubert, traue ich es mir nicht zu.

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Können Sie beschreiben, was Sie an Schubert fasziniert?

Bei seiner Musik weiß ich nie: Ist das jetzt traurig oder glücklich? Aber es ist doch ein Gefühl, es ist Leben, es ist nicht Mathematik wie bei Bach, nicht entrückt wie Mozart, es ist seine ganze Erdenschwere darin, aber eben so sublimiert, dass es zu jener Essenz wird, in der Trauer und Glück nicht mehr zu unterscheiden sind oder die anders klingt, je nachdem, ob man selber gerade traurig oder glücklich ist. Und dann hat Schubert, bei aller Subjektivität und auch Emotionalität, diese Gabe, dass immer noch eine Stimme aus dem Himmel mitsingt, dass da irgendwas reinkommt, was nicht erklärbar ist und was er selber wahrscheinlich nicht übersieht. Es ist schon auch eine Formzertrümmerung wie beim späten Beethoven, aber mehr wie etwas, das von selbst ausklingt, als dass es bewusst und betont geschieht.

In dem 2016 im Spiegel erschienenen Text über Ihren Buchhändler Ömer Özerturgut erwähnen Sie, dass in dessen Buchhandlung von morgens bis abends klassische Musik lief: ›gern Vivaldi, manchmal Opern oder vormittags das Klassik Forum auf WDR 3‹. In der überarbeiteten Version des Textes für Ihr Buch Morgen ist da haben Sie dies ergänzt um einen Relativsatz: ›das Klassik Forum auf WDR 3, das spätestens bei der nächsten Reform abgeschafft wird, weil die neue Hörfunkdirektorin nicht einmal Symphonien länger als drei Minuten dreißig haben will‹. Wie kam es zu dieser Ergänzung?

Wahrscheinlich lief da gerade wieder eine dieser ›Programmreformen‹ beim WDR. Ich bin dort immer sehr oft ein- und ausgegangen und kenne keinen schlechter gelaunten Betrieb. Mir kommt es so vor, als würde über die Jahre die Stimmung dort schlechter und schlechter – aber klar, ich habe beziehungsweise hatte natürlich auch vorwiegend im Kulturfunk zu tun. So viele Leute haben dort das Gefühl, sie werden behindert, sie müssen mit idiotischen, sowohl kunstfeindlichen als auch praxisfernen Anweisungen umgehen und werden von dem abgehalten, was sie gerne machen würden und eigentlich auch besser könnten. Ob meine Eindrücke repräsentativ sind? Das weiß ich nicht, ich bin auch nur noch selten im Haus.

Sie haben schon 2012 in einem Offenen Brief gegen ›die allmähliche Zurichtung eines anspruchsvollen Kulturprogramms in ein leicht konsumierbares Häppchenangebot‹ protestiert. Warum liegt Ihnen das Kulturradio so am Herzen?

Ich bin da natürlich hoffnungslos altmodisch, schon weil ich bei WDR 3 die früheren Redakteure geliebt habe, die noch Autoren sein konnten. Irgendwann durften dann Autoren und Moderatoren nicht mehr ein und dieselbe Person sein. Die Moderatoren wurden zu Papageien, die irgendwas aufsagen müssen, was gar nicht ihr eigener Text ist. Das merkt jeder sofort, der interviewt wird – jemand liest Fragen ab oder jemand denkt Fragen. Ich habe zusammen mit vielen anderen ein paar Mal versucht, mich gegen das Unvermeidliche zu stemmen, was natürlich hoffnungslos war. Es gab dann Sitzungen der Rundfunkräte, aus denen man noch hoffnungsloser rauskam. 

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Hintergrund vieler Programmreformen scheint die Annahme, dass das Kulturradio akut gefährdet sei, wenn es keine höhere Quote findet. 

Dabei ist es ja nicht so, dass Qualität und Ernsthaftigkeit generell keinen Erfolg haben können. Wichtiger aber ist, dass man Kunst und Kultur nicht einfach in nackten Zahlen berechnen kann. Das ist ein marktwirtschaftliches Denken, bei dem die Kunst immer unterliegt. Dafür gibt es ja die Öffentlich-Rechtlichen, damit es Freiräume gibt für die Bildung, die Kunst und Kultur, auch den ernsthaften, hintergründigen Journalismus, dafür liebe ich auch im WDR das Klassik-Forum und einzelne Formate am Abend, die es immer noch gibt. Das andere ist, glaube ich, dass Leute wie Sie oder ich und viele andere in keines der Raster passen, die man sich in den Sendern von den Adressaten macht. Schon die Art der Ansprache ist für mich unerträglich. Selbst im Klassik Forum bemerke ich inzwischen eine auffällige Zunahme gut gelaunter Moderatoren … 

›Das Grundgefühl bei WDR 3 strahlt Leichtigkeit aus‹, heißt es in einem Moderationsleitfaden des Senders

Dann denke ich: Jemand, der vormittags ernsthaft an klassischer Musik interessiert ist – das sind ja nicht wenige –, ist wahrscheinlich eher ein schlecht gelaunter Grübler, ein Feingeist oder ernsthaft neugierig auf Musik, als dass man ihn mit lustigen Anekdötchen bei der Stange hält. Wer Gute Laune-Funk haben will, hat doch schon längst umgeschaltet auf WDR 1, 2, 4 oder 5.

Ganz besonders auffällig ist das bei den Kulturmagazinen im Fernsehen, bei denen niemand, der die dort besprochenen Bücher liest, es aushält, wie über diese Bücher gesprochen wird. Und die, die solche penetrant lockeren Ansprachen mögen, lesen solche Bücher ohnehin nicht. Aber statt die Ansprachen zu ändern, also die Buchleser, die Musikhörer, die Kunstbetrachter ernst zu nehmen – die es ja geben muss, sonst wären die Theater, Literaturhäuser, Konzertsäle leer –, werden nach und nach die besprochenen Bücher und Themen angepasst in der Hoffnung, dass es irgendwann passt. Aber es passt nie, und das ist vielleicht sogar das Ziel. Denn dann kann man es auch geräuschlos abschaffen, weil niemand solche Kultursendungen vermisst.

In seiner Hamburger Rede Anfang November 2022 fragte der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow: ›Wollen die Beitragszahler die insgesamt 16 Ensembles: Orchester, Big Bands, Chöre, die die ARD derzeit unterhalten?‹ Sie sind gleichzeitig Beitragszahler und Ehrenmitglied im Freundeskreis des WDR Sinfonieorchesters. Fühlen Sie sich von ihm angesprochen?

Jemand wie ich käme gar nicht auf die Idee, an so etwas Tollem die Axt anzulegen. Diese Landschaft, die sich da in der Nachkriegszeit entwickelt hat, ist ein großer Schatz, der viel zu selten benannt wird, weil wir ihn als gegeben ansehen. Natürlich kann man sagen: Letzten Endes ist es mir egal, ob da jetzt das Sinfonieorchester des NDR oder des WDR spielt, dann müssen die halt mehr reisen, und ehrlich gesagt kann ich die beiden eh nicht unterscheiden, wenn ich sie im Radio höre. 

Aber ich glaube, für die Stadt Köln und das Land Nordrhein-Westfalen – oder für Norddeutschland – macht es enorm viel aus. Ich glaube an die gesellschaftliche Funktion von so einem Klangkörper, mit all dem, was drumherum passiert, an Begegnungen, Impulsen, Orten, Unterricht, Musikvermittlung, wo man aus dem Hier und Jetzt heraustritt. Die Verantwortung eines Senders liegt auch darin, über das Programm hinaus eine Funktion in dieser Stadt und diesem Land zu haben. Das ist das, was die Leute am WDR hält, wo ich denke: Fantastisch, dass es den Sender gibt! Neben vielem, was mich vielleicht auch nervt, ist das einer der Gründe, warum ich gerne in Deutschland lebe: seine Kulturlandschaft! Wenn etwas austauschbar ist, dann doch eher der immergleiche deutsche Fernsehkrimi. Da könnte man auch sagen: Warum gibt es nicht nur ein Ermittlerteam, das jeden Abend gleichzeitig auf allen Kanälen auftritt, wenn sie ohnehin dasselbe Script haben? 

Sie haben vor zwei Jahren in einer Rede vor dem WDR Sinfonieorchester über ›Zufluchtsorte des Geistigen‹ gesprochen und gesagt, dass ein solcher für Sie in Köln vor allem die Philharmonie sei. Was macht die für Sie zu einem Zufluchtsort?

Ich erlebe dort teilweise die intensivsten Augenblicke meines Lebens. Da sitzen 2.000 Menschen und tun etwas, was für den Außenstehenden sinnlos erscheint. Sie achten zwei Stunden lang nur auf fein ziselierte Klänge und Zusammenhänge und sind im Geist alle durch diese Musik verbunden. Und dann gibt es immer wieder diese Momente, die ich qualitativ gar nicht benennen könnte, in denen alles zusammenkommt, auch die Musiker loslassen, was sich ja meistens auf den Saal überträgt, und ich das Gefühl habe: Alle merken, dass da gerade etwas Besonderes passiert. Das ist häufig in dem Sinne objektivierbar, dass ich danach meine Nebenfrau oder meinen Nebenmann anschaue, der oder dem es genauso ging. Das leuchtet im Gesicht! Natürlich ist es nicht immer so, manchmal ist man selber mit den Gedanken irgendwo anders, die Leute husten zu viel oder es ist auf der Bühne ein bisschen routiniert. Aber das, was im Konzert potentiell zusammenkommt, hat für mich etwas Orgiastisches, bei dem ich denke: Das ist es. Das ist meine Vorstellung von Paradies. Ein Moment der Utopie, den wir an jedem Abend an jedem Ort in diesem Land gemeinschaftlich erleben können: Wir vergessen die Zeit, den Zweck, wir vergessen für ein, zwei Stunden unsere Sterblichkeit.

»Das ist es. Das ist meine Vorstellung von Paradies. Ein Moment der Utopie, den wir an jedem Abend an jedem Ort in diesem Land gemeinschaftlich erleben können.« Saal der Kölner Philharmonie mit Publikum • Foto © Matthias Baus

Das Konzert ersetzt bei Ihnen die religiöse Erfahrung?

Diese Erfahrung gibt es ja in der Religion kaum noch. Ich erlebe sie höchstens ab und zu, wenn ich unterwegs bin, in mystischen Ritualen in Indien oder Marokko, oder in der orthodoxen Kirche. Ich glaube, für eine Gesellschaft ist es enorm wichtig, dass es Orte und Momente und Stunden in jedem Leben gibt, wo man sich in ein Kontinuum von Zeit hineinlegt, in dem man plötzlich verbunden ist mit anderen Zeitaltern, mit fernen Welten. Das ist eine Leerstelle, die Religion hinterlassen hat. Bücher sind auch ein Beispiel dafür: Man schlägt eins auf und ist plötzlich im Japan der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts oder im Iran des 13. Jahrhunderts. Unsere Gesellschaft fokussiert sich immer stärker auf das Hier und Jetzt, das merke ich auch in der Literaturkritik. Unser Blick verliert an Weltläufigkeit und einer bestimmten Demut, dass das, was jetzt ist, vielleicht auch gar nicht so wichtig ist, wenn man es im Zusammenhang sieht. Gesellschaften, die niemals aus sich heraustreten, laufen im Mäuserad und verlieren die Anbindung an das, was vor uns war, nach uns sein wird, was anderswo ist und anders sein könnte.

Andererseits könnte man sagen, dass sich die Musikerfahrung im klassischen bürgerlichen Konzertformat in etwa so entwickelt wie der Gottesdienst seit der Reformation: Immer weniger sinnliche Reize, weniger Körperlichkeit, weniger Synästhesie, weniger Ekstase. Aber im Konzertsaal reicht Ihnen das? 

Man kann ja immer schlecht zurücklaufen, das wäre auch künstlich, wenn wir jetzt so tun würden, als seien wir im 18. Jahrhundert. Diese Ernsthaftigkeit, die Aufmerksamkeit, sich auf die Musik und die Musiker zu richten, dass man nicht quatscht, sondern einfach mal die Klappe hält, dass man sich konzentriert, dass es ein Gegenmodell ist zu all dem, was wir den Rest des Tages haben – dadurch funktioniert das für mich und übt, glaube ich, auch eine Anziehungskraft auf immer neue Generationen aus. 

Es braucht keine neuen Konzertformate, um auch jüngere und diversere Zielgruppen anzusprechen, also zum Beispiel mehr orthodoxe Sinnlichkeit und weniger protestantisches Schwarzbrot?

Werden die Musik und das Konzert denn unbeliebter? Ich kenne die Zahlen nicht, aber wenn ich in der Philharmonie bin oder beim Festival für Alte Musik oder bei einem Konzert in einer der wunderbaren romanischen Kirchen hier in Köln, ist es voll, und das Publikum ist jedenfalls nicht älter als bei Lesungen oder im Theater.

Erstmal ist nichts verboten, ich habe da keine Ehrfurcht oder so, man kann es gern auch mal mit Plaudern probieren, warum nicht, oder auch mit Gesprächskonzerten. Aber vertraute Rituale haben eine große Qualität und eine große Ausstrahlung. Ich finde diesen Moment wirklich magisch, wenn man in der Philharmonie oder einem anderen Saal sitzt, alle unterhalten sich, und plötzlich wird es ruhig, dann kommt der Konzertmeister, es wird gestimmt, zwischen den Sätzen wird nicht geklatscht, dann klatscht doch jemand, dann zischt jemand ›pssst‹, ich mag das total gerne. Auch dass das Orchester in der Garderobe einheitlich ist, dass es da nicht in Jeans aufläuft, sondern es dieses Gefühl gibt: Hier passiert was Besonderes. 

Ich glaube, der Wunsch, das Ritual aufzulösen, entsteht oft bei Leuten, für die es das täglich Brot ist, während zum Beispiel meine clubsozialisierten Freunde das Konzertsaal-Ritual eher feiern.

Das verstehe ich auch: Wenn man drinsteckt, möchte man es auflösen. Aber man muss ja überhaupt erstmal was zum Zertrümmern haben, ein Ritual, von dem man abweichen kann. Das ist wie bei der Commedia dell’arte. Die lebt von der Improvisation, aber dafür muss es die feste Form, die festen Charaktere geben – damit man improvisieren kann. 

Es gibt in der klassischen Musik eine große – zum Teil auch berechtigte – Angst, insbesondere von der Kulturpolitik als ›irrelevant‹ angesehen zu werden. Dagegen wird dann versucht, den eigenen sozialen oder wirtschaftlichen Mehrwert herauszustellen, oder ›politischer‹ zu werden. Muss man nicht auch diesen rituellen Wert, über den sie sprachen, mehr herausstellen?

Das nicht zu tun ist ein Fehler, den das Theater gerade oft macht. Da ist es auch naheliegender, weil es durch Sprache, durch Texte, durch Bühnenbilder einfacher an die Gegenwart angebunden werden kann. Die Qualität und Kraft der Musik liegt ja gerade darin, dass das nicht so leicht ist. Man kann das Konzert übertiteln mit ›Freiheit‹, aber letzten Endes bleibt es nur eine Überschrift und niemand nimmt sie ernst, weil es nicht auf so eine Formel zu bringen ist. Als Menschenwesen sind wir heute noch viel mehr als früher gefangen im System von Zweckmäßigkeiten. Wir wachen auf und putzen die Zähne, damit die Zähne sauber sind. Selbst die Liebe, unsere menschlichen Beziehungen sind durchwirkt von Zwecken, und nicht erst heute. Das eigentlich politische und anti-kapitalistische Element der Musik ist ihre Zweckfreiheit. Wieso sitzen da 2.000 Leute in der Philharmonie? Wenn Sie noch Zeit haben, gehen Sie hier in der Altstadt in die Kirche Groß St. Martin. Da gibt es einen Orden [die Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem] mitten in der Stadt, nicht viel beachtet, die beten und singen vier oder fünfmal am Tag, niemand weiß warum, aber es ist wunderschön. Die sind auch nicht missionarisch. Die gehen in die Städte, in die Zentren, um genau dort zu beten, wo ringsherum alles geschäftig ist. Sie sagen, das hat einen Wert an sich. Und ich glaube das auch, ich sehe sogar einen politischen Sinn darin. Der Ausbruch aus dem Nützlichkeitsdenken, ›wir machen Musik, weil‹ … das ist über die Musik hinaus ein Gegenmodell zur Welt, wie sie ist. Es sind Freiräume für den Geist, die Phantasie, die Seele, gerade weil man nicht benennen kann und zu benennen braucht, was daraus praktisch folgt. Und doch hat es seine Wirkung für den Alltag, für das Denken, das merke ich auch an mir selbst.

Sie sind in Ihren Büchern und Reisereportagen oft sogenannten ›Hochkulturen‹ begegnet, die Genozide oder Völkerrechtsbrüche verantworten. Ist die Frage, wie moralische Verwahrlosung und ›Hochkultur‹ zusammengehen, eine ergiebige, oder ist die Vermischung von Kunst und Moral ohnehin schon falsch?

Ich finde die Frage schon berechtigt, ohne dass ich sie beantworten könnte. Nach allem, was ich empfinde, müsste das Hören von Beethoven, von Schumann, von Scarlatti und so weiter jemanden zu einem besseren Menschen machen, aber tut es offensichtlich nicht. Und warum das so ist, das interessiert mich schon. Eine Erklärung könnte sicher sein, dass viele Massenmörder diejenigen, die sie abschlachten, gar nicht als Menschen betrachten. In der Selbstwahrnehmung sind das ja keine Sadisten, sondern zum Beispiel liebevolle Familienväter. Die Entmenschlichung ist eine Voraussetzung. Aber dennoch denkt man, wie kann das sein? Das denke ich bei dem Goethe-Leser noch viel mehr. Bei der Musik kann man sagen: ›Das ist abstrakt.‹ Aber bei Goethe drückt sich der Geist ja in Worten aus, die Weltliteratur, die Beschäftigung mit anderen Kulturen … und dennoch weiß jeder, dass es viele Nazis bis in höchste Ränge gab, die begeisterte Goethe-Kenner waren. 

Westliche klassische Musik kommt manchmal in einem ideologischen Gewand daher, zum Beispiel der Vorstellung, sie sei der ›Höhepunkt‹ der Musikgeschichte oder eine ›Universale Kunst‹, die auf der ganzen Welt unmittelbar verstanden werden. Dabei hat sich westliche klassische Musik auch im Gefolge von Imperialismus und Kolonialismus verbreitet.

Klar, wenn Deutschland im 19. Jahrhundert kolonialisiert und die Kultur ausgelöscht worden wäre, dann würden wir Schubert auch nur aus irgendwelchen Archiven kennen. 

Können Sie als Orientalist und Weltenreisender diesen ideologischen Überbau ausblenden?

Für mich geht immer beides zusammen: Einerseits die Demut und Bescheidenheit, das Eigene nicht für den Gipfel der Menschheit zu halten und dennoch die eigene Tradition zu lieben und zu pflegen. Speziell im deutschen Sprachraum gab es für einige Jahrzehnte oder ein, zwei Jahrhunderte diese unglaubliche Verdichtung des Geistes, aus welchen Gründen auch immer, wo in dieser Landschaft etwas passiert ist, was ein Menschheitsgeschenk ist, nicht nur, aber vor allem in der Musik. Das ist natürlich bei weitem nicht das einzige Geschenk in der Geschichte des menschlichen Geistes, aber wenn diese Landschaft nur eines beigetragen hat, dann Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Mahler und so weiter bis weit ins 20. Jahrhundert. Gleichzeitig ist mir vollkommen bewusst, dass es andernorts zu anderen Zeiten auch Exzeptionelles gegeben hat. Ich suche ja die Musik immer auch auf meinen Reisen und staune, wie viel noch zu entdecken ist. Begeisterung ist etwas Schönes. Ich würde nie Werturteile fällen, dass die eine musikalische Tradition wertvoller ist als eine andere, ›die klassische westliche Musik ist die tollste der Welt‹, so denke ich nicht. Aber toll finde ich sie dennoch. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com

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