Die noch Uninitiierten, das heißt nicht voll in den Ritus Eingeweihten, sowie die Blasenschwachen erkennt man daran, dass sie bereits nach der zweiten oder dritten Zugabe den Saal verlassen, sobald sie ihren Videoschnipsel im smarten Flachkasten haben, diesem platten Sarg unserer Erinnerungen: Ach, diese Ahnungslosen wissen nicht, dass der Meister immer sechs Zugaben spielt. Mag morgen die Welt untergehen, Grigory Sokolov spielt immer sechs Zugaben am Ende des Programms, mit dem er im jeweiligen Jahr von Frühling bis Herbst durch die immergleichen Städte tourt.

Im aktuellen Vollzug des allfrühjährlichen Berliner Sokolov-Rituals im wie stets ratzehuppelfax ausverkauften Großen Saal der Philharmonie erstreckt sich der Reigen der sechs Zugaben: von einer relativen Rarität wie Alexander Skrjabins Prélude e-Moll Opus 11/4 (das nach leicht angeschwefeltem Chopin tönt) und der g-Moll-Chaconne von Henry Purcell über Chopins Etüde 25/2 und die beiden Mazurkas 63/3 und 68/3 (die hier in ihrer Miniaturhaftigkeit den Glanz einer seltenen, kleinen Perle hat) bis hin zur Raum und Zeit übersteigenden Busoni-Fassung des Bach-Chorals Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ.

Sokolovs Zugaben-Reigen ist dabei kein Extra, sondern der feste dritte Abschnitt jenes Konzertrituals, das wie stets im schnickschnacklos gedimmten Licht stattfindet. Und dieses Jahr in erfreulicher Kontemplation auch publikumsseits: Heuer bimmelt kein Handy, während in vergangenen Jahren die eventorientierten Adabeis und Neuhörigen doch schon mal die langjährigen Sokolovianer entnervten.

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Fast könnte man so weit gehen, zu behaupten, Sokolovs ganzes Konzert bestünde aus Zugaben. Jedenfalls ist kein Großwerk mehr darin, wie noch vor einigen Jahren die (manche sagen: zerdehnte) Hammerklaviersonate. Die gut vierminütige Sinfonia aus Bachs c-Moll-Partita und das dreiminütige Vogel als Prophet aus Robert Schumanns Waldszenen sind wohl die längsten Einzelstücke des Programms. Aber der spezielle Sokolov-Bogen spannt sich eben, so wie über die kleinste Phrase, über das Abend-Ganze. Mikro und Makro werden so eins, daraus resultiert das Sokolov-Erlebnis. Es entfaltet einerseits soghafte Magie, hat andererseits im vorprogrammierten Publikumsjubel mittlerweile auch etwas Mechanisches, das man dubios finden kann. Ein Zweifel, der sich nicht auf diesen Pianisten bezieht, der wundersam und liebenswert sein pures Klavierding macht, sondern auf die schrille Überhöhung durch einen Teil der Fans.

Darum die Abfolge des Abends sachlich reportiert: Nach Bachs Clavier-Übung III, deren strikte Zweistimmigkeit trotz fragloser kontrapunktischer Meisterschaft und Sokolovs Farbenreichtum für mich ein eher frugales Vergnügen darstellt, erscheint die zweite Partita wie eine Explosion der Phantasie. Keineswegs in der körperlichen Ausstellung von Extravaganz (Sokolov sitzt stets ungerührt), aber doch in der Exaktheit und Strenge erinnert dieser Stimmführungs-Bach, der weder gefühlig romantisiert ist noch »historisch« tut, erstaunlicherweise an Glenn Gould. Allerdings ist die Sokolov-Deutlichkeit dann doch nochmal ganz anders charakteristisch, nicht nur langsamer: die kristallin bis marmorn gemeißelte Klarheit der rechten Hand steht einem samtenen Tupfen der linken gegenüber. Unverkennbarer »Anschlag« (eins der scheußlichsten Worte übrigens im Deutschen, wenn es um Klavierspiel geht: anschlagen).

Auch sieben Chopin-Mazurkas, Opus 30 und 50, zeichnen sich durch diese eigene, heikle Balance aus: Manchmal wirkt sie schwerelos, für mich gelegentlich auch bedenklich unterleiblos. (Mit Sokolovs Schubert in einem früheren Konzert tat ich mich wegen des empfundenen Fehlens der Linken mal schwer.) Die sieben Mazurkas zeigen hier eine Tendenz ins immer stärker Schwelgende, aber bei unverlierbarer absoluter Deutlichkeit. Entrückung fernab jeder Umneblung.

Der Eintritt in Robert Schumanns Waldszenen ist dann auch ganz: Kristallwald. Der Jäger auf der Lauer suhlt sich nicht im deutschen Waldboden, sondern scheint ein Himmelsjäger hoch in den Lüften. Künstlich erlesen sind die Einsamen Blumen; und die Verrufene Stelle kommt mir an diesem Abend wie eine Mischung aus Bach und Skrjabin vor. Ein höchst artifizieller Schumann ist das, dem für meinen persönlichen Geschmack ein wenig das Singende abgeht, das Herz.

Aber in diesem langen, zweieinhalbstündigen Sokolov-Bogen ist das alles absolut richtig. Zu erleben ist in sich vollendetes, zugleich nüchternes, im Grunde einfaches Klavierspiel. Was den exaltierten Jubel, zu dem ein Teil des Publikums entschlossen ist, eigentlich als eine Art Kategorienfehler erscheinen lässt. Ein solches Ritual bekreischt man nicht, man vollzieht es in – warum nicht – Andacht und auch in Dankbarkeit. Nächstes Jahr wieder, mit einem neuen Programm, und hoffentlich noch viele weitere. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com

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