Vor Jahren tauchte in Belgien ein Chansonnier aus dem 15. Jahrhundert auf – eine kleine Sensation auch deshalb, weil es zwölf bis dahin unbekannte Lieder enthielt. Der Lautenist Marc Lewon spielte sie mit seinem Ensemble Leones erstmals ein, die Aufnahme ist jetzt erschienen. Als Lautenist und Fidelspieler gilt Lewon als Spezialist für Musik der Gotik und der Renaissance. Er hält eine Professur für mittelalterliche Lauteninstrumente an der Schola Cantorum Basiliensis und war bisher an mehr als 50 CD-Produktionen beteiligt. Hier berichtet er, was uns das Buch verrät.

VAN: Wann gibt es das schon mal, dass ein Buch mit Liedern aus der Renaissance entdeckt wird?
Marc Lewon: Als ich das hörte, war ich gebannt und dachte: Ein Ding, dass nach vielen Jahrzehnten mal wieder ein komplett erhaltenes Buch mit burgundischen Chansons auftaucht und dann auch noch zwölf Unica enthält, also bis dahin unbekannte Werke. Ich hatte auch gleich den Wunsch, die Kompositionen einzuspielen.
Wo hat das Büchlein denn die ganze Zeit gesteckt?
Genau wissen wir es nicht. Angefertigt wurde es in Frankreich um 1477. Es gelang wahrscheinlich in den Besitz einer Familie in Savoyen, darauf weist ein Wappen in dem Chansonnier hin. Spätestens um 1900 tauchte es in Paris auf, wo es erstmals von einem Bibliothekar begutachtet wurde, wie aus einer Inschrift hervorgeht. Mehr als 100 Jahre später hat die Familie belgischer Kunstsammler, die regelmäßig in Paris einkauften, das Büchlein mit anderen Stücken der Sammlung an ein Aktionshaus gegeben. Es wurde 2014 in einem Konvolut für 3.600 Euro von einem Händler erworben, der es einem Musikwissenschaftler vorlegte. Erst der erkannte die Relevanz und den wahren Wert des Buches.
Wie kam es, dass das Büchlein für die Allgemeinheit erhalten blieb und nicht wieder in einer privaten Sammlung verschwand?
Im Dezember 2015 informierte der Experte, der für belgische Kunsthändler arbeitet, die auf Musik des 15. und 16. Jahrhunderts spezialisierte Alamire-Stiftung mit Sitz in Leuven. Nachdem die Bedeutung des Werkes klar geworden war, hat die gemeinnützige King-Baudouin-Foundation das Buch für das Land gesichert. Sie kaufte das Dokument für einen unbekannten Betrag – ich schätze ihn auf einige Hunderttausend Euro – und vermachte es der Alamire-Stiftung als Dauerleihgabe. Dadurch erhielt es seinen Namen. Chansonniers werden meist nach ihrem Aufbewahrungsort benannt.
Im Sommer 2017 kamen drei Dutzend Experten in New York zusammen, um über dieses Chansonnier zu sprechen. Was ist so besonders daran?
Es handelt sich um eine echte Rarität, nicht nur wegen der Unica. Es enthält immerhin insgesamt 50 Lieder. Von den höchstens ein Dutzend Chansonniers, die erhalten geblieben und bekannt sind, gehört das in Leuven verwahrte mit zu den sechs oder sieben bedeutendsten Quellen für die Liedkunst des Spätmittelalters und der Frührenaissance.
In dem Büchlein ist kein einziger Komponist genannt. Was wissen wir über die Schöpfer der Werke?
Die 38 Chansons, die keine Unica sind, sind vollständig oder teilweise in anderen Handschriften überliefert. Die Konkordanzen lassen Rückschlüsse auf Komponisten zu, bei den meisten Liedern wissen oder ahnen wir, von wem sie sind, etwa Johannes Ockeghem, Antoine Busnois, Gilles Binchois und der Engländer Walter Frye. Bei den Unica können wir nur vermuten. Mindestens ein Lied ist nach meinem Urteil von Ockeghem.
Es verwundert, dass kein einziger Komponist genannt wird, obwohl die Entstehung des Buches in die Zeit fiel, wo Namen von Künstlern langsam wichtig wurden.
In der Zeit ging es erst langsam los, dass Komponisten als Ausweis hoher Qualität genannt wurden. Aber so richtig kam das erst Ende des 15. und erst recht im 16. Jahrhundert in Mode, als Notationen im Druck erscheinen konnten. Da gedruckte Bücher für den Verkauf bestimmt waren, wurden die Namen der Komponisten aus Werbegründen wichtiger als in einer Handschrift für den privaten Gebrauch, die von sehr reichen Adligen in Auftrag gegeben wurden. Dass Namen fehlen, kann auch mit der Entstehungsgeschichte zusammenhängen, so wie beim Berliner Chansonnier.
Die müssen Sie erzählen. Denn das Berliner Chansonnier ist nur in der Szene ein Begriff.
Das Berliner Chansonnier enthält Musik, aber keine Liedtexte und keine Namen von Komponisten. Wahrscheinlich war es für eine Hochzeit in Italien bestimmt. Es wurde aber wohl nicht rechtzeitig fertig. Dann hat man das Werk so gelassen, wie es war. Den meisten Liedern konnte man die Texte aus Konkordanzen hinzufügen, nur bei den Unica nicht. Ich habe David Fallows [einen weiteren Spezialisten für die Liedkunst der Renaissance – die Red.] gebeten, die passenden Gedichte aus der Zeit herauszusuchen. Denn der erste Buchstabe eines jeden Textes war schon gezeichnet worden. Großartigerweise hat er zwei Gedichte gefunden, so dass wir die beiden Lieder nun diesen Sonntag [26. März 2023] erstmals aufführen können.
Zurück zum Chansonnier in Leuven. Vermutlich sind die Texte alle weltlich, oder?
Das erste Stück ist ein geistliches, ein Ave Regina caelorum von Walter Frye. Es ist als eine Art Segnung des Büchleins gedacht. Alle anderen sind Liebeslieder in französischer Sprache. Von den Gedanken her handelt es sich um klassischen späten Minnesang. Aber die Metaphern sind sehr plastisch. ›Mein Herz ist Gefangener in einer schönen Burg‹, heißt es da. Er wartet, dass die Frau ihn befreit. In einem Text wird der Zustand eines Liebenden mit dem Wappen auf einem Schild verglichen, das von Tränen übersät ist.
Wissen wir, wer das Buch zuerst in Besitz hatte?
Es gibt Hinweise darauf, dass die Liedersammlung für jemanden in Savoyen gemacht worden ist oder jedenfalls später dorthin gelangte. Das verrät ein Wappen im Inneren des Chansonniers. Vielleicht war es eine Frau, die es in Auftrag gegeben oder geschenkt bekommen hat.
Vielleicht war es der Liebhaber der Besitzerin?
Das kann schon sein. Wir vermuten generell, dass hinter der Auswahl und Reihung der Texte in Liederbüchern für den privaten Gebrauch eine ganz bestimmte Aussage oder Botschaft stecken konnte. Das ist vielleicht auch im Leuven Chansonnier der Fall.
Wie lange hat es wohl gedauert, ein Chansonnier dieser Größe anzufertigen?
Einige Monate sicherlich. Es kommt darauf an, wo es entstand. Von Paris wissen wir, dass die ganz teuren Gewerke wie Goldschmiede, Pergamenthändler, Schreiber und Handschuhmacher auf der Île de la Cité, der ›Stadtinsel‹ nahe Notre-Dame und Königspalast, aktiv waren. Es gab Werkstätten professioneller Schreiber, die mit Vorlagen gearbeitet haben, was heißt, man konnte bestellen, was man genau wollte. Der Auftrag wurde dann von mehreren Edelhandwerkern ausgeführt. Einer schrieb die Noten, einer die Texte, jemand anders fertigte die Illustrationen, Anfangsbuchstuben und Vergoldungen. Das ist im Leuven Chansonnier nicht der Fall. Die allermeisten Songs wurden von einem einzigen Schreiber notiert. Wahrscheinlich ist es im Tal der Loire entstanden, wo es mehrere Produktionsstätten für Liederbücher gab.
Wieso hatten Sie die Ehre, die Unica einspielen zu dürfen?
So sehr ich mich darüber freue: Von Ehre würde ich nicht sprechen. Wenn man den Zugang zu den Quellen hat, kann es jeder machen. Die Alamire-Stiftung hat die Lieder aus dem Chansonnier sehr schnell editiert, komplett gescannt und im Internet für alle zugänglich gemacht. Nachdem ich von der Entdeckung des Buches gehört habe, war ich sofort an einer Einspielung interessiert, erkundigte mich aber in der Szene, ob jemand dran ist, weil ich niemandem in die Quere kommen wollte. Ein belgisches Ensemble nimmt gerade alle 50 Lieder des Leuven Chansonniers auf vier CDs auf. Ich habe mich auf die Unica konzentriert und mich aus Gründen der Fairness gegen die Gesamteinspielung entschieden.
Wie genau sehen die Kompositionen aus?
Bis auf ein Lied sind alle dreistimmig. Diskant, Tenor und Bassus. Natürlich ist es keine Partitur, sondern jeder liest seine Stimme. Wenn alle zusammen singen, klingt es am schönsten. Wahrscheinlich wurden die Lieder a cappella gegeben. Aber es ist sehr gut möglich, dass die Ausführenden von Instrumenten begleitet wurden. Darüber, welche zum Einsatz kamen, kann man nur spekulieren. Allerdings wissen wir, welche Instrumente es damals gab. Und daraus entwickeln wir jeweils plausible Lösungen.
Auffällig ist, dass sich Ihr Ensemble zurücknimmt und Sie nicht dem Trend folgen, die Musik affektreich zu gestalten, als wären wir schon im Zeitalter der Madrigale und ganz frühen Oper.
Musik der Gotik und Renaissance ein bisschen zu arrangieren, ist okay, um mehr Farbigkeit reinzubringen. Das haben wir auch bei unserer CD getan. Aber in der Tat gibt es gerade Übertreibungen, barocke Affektladungen in mittelalterliche Musik einzubauen. Bei manchen Veranstaltern kommt das gut an. Die denken, dass das Publikum dann irgendwie mehr gepackt ist, was ich nicht so recht glaube. ¶