Nach den Cello-Konzerten von Antonín Dvořák (1895) und Edward Elgar (1919) gehört Dmitri Schostakowitschs Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 Es-Dur – vielleicht gleichauf mit den beiden Konzerten Joseph Haydns (C-Dur, ca. 1761–65 und D-Dur, 1783) – zu den am häufigsten gespielten Werken dieser Gattung überhaupt. Als gäbe es sonst nichts anderes für Cello und Orchester, steht Schostakowitschs Opus 107 im Grunde sogar – wenn man ehrlich ist – »zu häufig« auf dem Programm. Alle freuen sich beim Spielen/Hören darüber, dass man sich ein ganz kleines bisserl »regimekritisch« fühlen darf. Ganz im Sinne einer Einladung, die mal György Ligeti lieferte: »Totalitäre Regime mögen keine Dissonanzen.« Zeit für einen Interpretationsvergleich.

Schostakowitschs Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 Es-Dur op. 107 wurde am 4. Oktober 1959 im Großen Saal der Philharmonie Leningrad mit Mstislaw Rostropowitsch als Solisten und den Leningrader Philharmonikern unter der Leitung von Jewgeni Mrawinski uraufgeführt. Ikonisch lässt Schostakowitsch hier zwei Haupteigenschaften seiner musikalischen »Sprache« anklingen: seinen sarkastischen Humor und dazu im Kontrast: eine große, expressive, aufreibende Innerlichkeit. (Wir sollten dabei nicht müde werden, zu betonen: Das Ganze macht vor allem auch: Bock!).


I. Allegretto

Der Beginn des Konzerts (Allegretto) präsentiert uns umgehend – ohne beschönigende Einleitung – die bissige Seite der Musik Schostakowitschs. Mit den ersten vier Tönen des Solo-Cellos bringt der Komponist eine Variante seines eigenen »in Musik gesetzten« Namens (die Töne D-(e)S-C-H = Schostakowitsch) ins Spiel. Darauf »antwortet« das Orchester jeweils mit marschartigen und ebenso kauzigen Kommentaren. Der scharfkantige Humor Schostakowitschs lässt dabei immer wieder das im Grunde zutiefst unzufriedene Individuum hinter der »lustigen Verpackung« erkennen. Für die Cellistinnen und Cellisten dieser Welt bietet das Konzert schon mit diesem Einstieg einen coolen Mix aus eingängiger (um nicht zu sagen: einfacher) Motivik und der Möglichkeit zur Leistungsschau: Nach einigen Momenten geht es bereits in Doppelgriffen das Griffbrett hinauf. Das ist herausfordernd, man muss diese »schiefen« Sexten im Nebeneinander echt üben – aber es macht auch verdammt Spaß, dem Orchester da sogleich mehrklängig etwas entgegenzusetzen. Das schnauft so schön; wie eine Maschine, die sich, Zahnradschäden anmeldend, gewaltig verhakt – beziehungsweise: die so richtig schön geölt davonrackelt.

YouTube video
Mstislaw Rostropowitsch und das Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Eugene Ormandy (1960)

Was muss das spannend gewesen sein, der allerersten Klangwerdung eines Werkes, das man eventuell – wie ja auch geschehen – bald zum Standardrepertoire zählen würde! Ahnte das jemand? (Ehrlich: Schon der Beginn hat einfach »Hit«-Charakter!). Allen voran daran beteiligt war Schostakowitschs guter Freund Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch (1927–2007). Ein Jahr nach Erstherausgabe des Cellokonzerts ließ Rostropowitsch 1960 das Philadelphia Orchestra von Dirigent Eugene Ormandy zur allerersten Einspielung dieses Werkes zusammentrommeln. Man nahm das Stück unter der freundschaftlichen und dennoch genauen »Kontrolle« von Schostakowitsch selbst (siehe Plattencover) im Studio auf. In Kombination mit dessen erster Symphonie f-Moll op. 10, die Schostakowitsch schon 1924/25 zu Papier gebracht hatte – und von der »politisch« keine »Gefahr« ausging. Vielleicht eine Art Kompromiss, dieses Frühwerk an die Seite des reifen Cellokonzerts zu stellen. Später erschien auch – das Marketing schlief schon damals nicht – das erste Cellokonzert auf einer gemeinsamen Platte zusammen mit dem ersten Violinkonzert Schostakowitschs (1947/48), das David Oistrach mit den Leningrader Philharmonikern und der russischen (strengen) Dirigierlegende Jewgeni Mrawinski bereits 1955 im Studio eingespielt hatte. Hören wir also in die »Urmutter aller Schosti-Konzert-1-Aufnahmen« hinein.

Das ist schon toll. Erstens: toll instrumentiert von Schostakowitsch. Das Cello beginnt in ziemlich tiefer Lage, liefert spöttelnde Staccati ab. (Niemand spielt das in einem »Real-Piano«, sondern im Grunde »Forte«; so ist das eben bei Solo-Konzerten; muss man auch nicht immer gut finden …). Da spötteln die zwei Oboen, zwei Klarinetten, ein Fagott und ein Kontrafagott gerne mit – beziehungsweise dazwischen. Das ergibt eine sonor-fiese Mischung. Man findet sich in einem falschen Marsch wieder, der auch nur ein halber Marsch ist; denn: »kräftig« oder (schlimmer noch) »männlich« ist das nicht. Das ist ganz schön weit unten auf der Fröhlichkeitsskala. Und Rostropowitsch musiziert das mit Ormandy und Philadelphia ganz toll. Er – Rostropowitsch – lässt sich nämlich ein wenig hängen. Mit Liebe und Hass zugleich gesägt. Und die Crescendo-Kraft, die Pranke, mit der Rostropowitsch dann die erste Doppelgriffpassage dazwischen ballert: immer noch großartig – und wirklich aufregend. Vor allem, weil das Orchester ihm hernach mit schnellen Crescendo-Bäuchen sofort nacheifert. Rostropowitsch hatte die natürliche Autorität, so ein amerikanisches Orchester auch noch gleich mit anzustecken.

YouTube video
Mischa Maisky und das London Symphony Orchestra unter der Leitung von Michael Tilson Thomas (1993)

Schon als 15-Jähriger studierte Mischa Maisky – am 10. Januar 2023 feierte er seinen 75. Geburtstag – am Moskauer Konservatorium. Dort wurde 1963 niemand Geringeres als eben jener Rostropowitsch sein Lehrer. Zugleich wurde er für Maisky zu einem väterlichen Freund und Mentor. Der große Rostropowitsch regte zahlreiche Komponisten zur Schöpfung von Werken mit Beteiligung des Violoncellos an. Als Solist und Dirigent brachte Rostropowitsch beispielsweise Cello-Kompositionen von Prokofjew, Chatschaturjan, Lutosławski, Dutilleux, Bernstein, Boulez und Schnittke erstmals zum Erklingen. Nicht zu vergessen: die beiden Cello-Konzerte von Schostakowitsch! Die ungebrochene Popularität und die ebenfalls ungebrochene Linie der Entstehung von Schostakowitschs Opus 107 zum Uraufführungsinterpreten Rostropowitsch – zum berühmten Schüler Maisky … Maisky lebt noch, spielt noch. Also haben wir es mit einem Stück zu tun, dem wir uns nahe fühlen dürfen. 

Und Maiskys Aufnahme des Cellokonzerts von 1993 (mit dem aktuell leider immer noch schwer erkrankten, damals gesunden Michael Tilson Thomas und London Symphony)? Ist das großartig »anders« als die Interpretation seines 2007 verstorbenen Mentors? Ja! Maisky tupft die Töne faszinierend pseudo-harmlos an den Anfang. Das klingt etwas wie der »Lautenzug« bei einem Cembalo. Fast hohl also. Aber das Ganze ist natürlich taktisch motiviert – um anschließend besonders nachzulegen! Maisky bringt auch kleinere Ritardandi an den Mann, Verzögerungen, die ein bisschen pathetisch klingen. Da muss man bei Schostakowitsch ungefähr genauso vorsichtig sein wie bei Brahms! Das London Symphony Orchestra begleitet sehr lustvoll; Einzelmomente schälen sich witzig-böse heraus; die Pauke ist extrem nah abgenommen. Aber das ist, was wir von einer Studioaufnahme mit Schostakowitsch wollen: in die Fresse bekommen! Fein!

YouTube video
Truls Mørk und das London Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Mariss Jansons (1995)

Mariss Jansons (1943–2019) galt – auch! – als Schostakowitsch-Spezialist. Seine lettische (also: »unweite«) Herkunft, seine Petersburger Assistenztätigkeit beim Schostakowitsch-Uraufführungsdirigenten schlechthin (Jewgeni Mrawinski), seine dirigentische Kraft, vollendete Lieblichkeit und Emphase mit einer wuppigen, plastischen Akkordqualitätseindringung zu verbinden: Das machte ihn aus. Ihn, der von 1979 bis 2000 auch Oslo Philharmonic als Chef vorstand – und somit auch eine Menge norwegisches Know-how mitbrachte, was Jansons wiederum mit einem der bekanntesten Cellisten unserer Zeit verbindet: mit dem Norweger Truls Mørk, der so etwas ist wie der Ole Einar Bjørndalen (beziehungsweise, um aktueller zu sein: der Johannes Thingnes Bø) des Cellospiels. Immer schon dagewesen, überall am Ball, immer der Gewinner am Ende.

Mørk bringt quasi einen Mix aus Rostropowitsch-Präsenz und Maisky-Tupfigkeit. Als eigene Zutat hören wir auf dem jeweils vierten (dem längsten) Ton des Anfangs das deutlichste Vibrato. Das jedoch verleiht dieser Interpretation witzigerweise etwas noch Unzufriedeneres (vielleicht, weil es nicht »passt«). Mørk fasst viele Passagen zu einzelnen Phrasen zusammen; das klingt viel mehr nach »Linie« – aber nicht weniger expressiv. Interessant, wie viele Ansätze diese Musik »aushält«.

YouTube video
Sol Gabetta und die Münchner Philharmoniker unter der Leitung von Lorin Maazel (2012, live)

Hören wir auch hinein in eine ganz späte Aufnahme mit Lorin Maazel, der leider 2014 verstarb. Zusammen mit »seinen« Münchnern und Sol Gabetta klingt Schostakowitsch hier aber doch sehr statisch. Das Tempo ist fast doppelt so langsam wie bei Rostropowitsch, Maisky und Mørk. Auch ist die Aufnahmetechnik bei diesem Livemitschnitt nicht die Beste gewesen. Witzigerweise kann aber auch Sol Gabetta in diesem Satz etwas vermitteln, nämlich das Gefühl unnützen Anstrengens, den Eindruck: »Egal, was ich mache, es bringt ja doch alles nichts!« (Und das ist ein Gefühl, das auch Schostakowitsch nicht fremd war. Schließlich musste er sich mitunter mit von ganz »oben« lancierter Kritik auseinandersetzen. Wofür also komponieren, wenn ich weder meine Zweifel an gesellschaftlichen Missständen deutlich anmelden darf – noch gefällig für die Wiedereröffnung von Plattenbausiedlungen komponieren will?).


ANZEIGE


II. Moderato

In Programmtexten tut man häufig so, als wäre es eine Überraschung, dass ein zweiter Satz einer Symphonie oder eines Solokonzerts »anders« ist als der erste. Dabei wäre das überraschend, wenn es nicht so wäre. Kunst lebt von den Dissonanzen, von den Kontrasten, vielleicht manchmal sogar vom Schock. Im Moderato des Cellokonzerts jedenfalls herrscht: Trauer. Durchaus dissonante Streicher bereiten ein verhaltenes, leises Horn-Solo vor – bevor schließlich das Cello seinen ganz eigenen Klagegesang anstimmt. Kein (Selbst-)Mitleid, sondern eine Elegie voller Bitterkeit – ohne Licht, ohne verdammte Hoffnung. Aus der stillen Betrübnis heraus bäumt sich das Soloinstrument gemeinsam mit dem ganzen Orchester bald immer weiter auf, wehrt sich gegen die Einsicht, machtlos zu sein; sich aus der Nötigung befreiend, gefesselt den eigenen Lebensfilm hilflos mit anschauen zu müssen. Am Ende verbleiben säuselnde, zerrieselnde Klänge des orientierungslosen Individuums – »verkörpert« durch den Solo-Part. Hohe Streicher irren ziellos umher, irgendetwas umspielend; hinzu kommt die Celesta. »Pling!« Schmerzhaftes Delirium. Ausgesperrte Engel. Das Kinderweinen eines Erwachsenen.

YouTube video
Mstislaw Rostropowitsch und das Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Eugene Ormandy (1960)

Rostropowitsch weint tatsächlich auf den wenigen Tönen, die ihm Schostakowitsch an die Hand gegeben hat. Dazwischen pizzen die Kontrabässe in dieser Aufnahme fast zu bollerig. Aber irgendwie stimmt hier ja sowieso gar nichts! Das ist weder ein »schöner« zweiter Satz, noch ein Trauermarsch, zu dem man einen veritablen Konduktgang über den Friedhof vollziehen könnte.

YouTube video
Mischa Maisky und das London Symphony Orchestra unter der Leitung von Michael Tilson Thomas (1993)

Tilson Thomas inszeniert das hereinbrechende Horn dramaturgisch besser als Ormandy. Da ist Anpassung und Entfremdung gleichzeitig präsent. Maisky bringt demgegenüber fast so etwas wie »Normalität«. Dafür ist sein »Piano« schön, wenn vielleicht auch für manchen Geschmack zu vibratolastig.

YouTube video
Truls Mørk und das London Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Mariss Jansons (1995)

Am geisterhaftesten tönt das Intro des zweiten Satzes unter den Händen von Mariss Jansons. Er konnte verdammt gut mit Atmosphären umgehen. Und dementsprechend motiviert Jansons den Hornisten vom London Philharmonic Orchestra auch zu dem mit Abstand mutigsten »Echo-Effekt« (ab Takt 10). Truls Mørk gibt sich sehr klug dieser Stimmungsouvertüre hin – und spielt gar nicht den großen Solisten, sondern versteht diesen Satz ganz aus der Kammermusik heraus. So wird es gemeinsam möglich, klagende Reibungen und Dunkelheiten zu vermitteln. Große Kunst.

YouTube video
Sol Gabetta und die Münchner Philharmoniker unter der Leitung von Lorin Maazel (2012, live)

Dissonanzenreich gibt sich der Streicherklang der Münchner Philharmoniker. Aber das bricht viel zu schnell aus! So richtig gelingt das Horn-Solo nicht, trotz mutigen Angangs. Aber viel zu schnell ist man eigentlich klanglich wieder im ersten Satz. Die ganz eigene (schwarze) »Sonne« des zweiten Satzes will dadurch gar nicht richtig aufgehen. Schade.


III. Cadenza – IV. Allegro con moto

Im dritten Satz (Cadenza) erlöst sich das Cello als Individuum quasi selbst aus seinem eigenen Dornröschenschlaf; ganz alleine – sich be- und hinterfragend. Höchste Höhen, hauchzart dahin gezupfte Fragezeichen. Langsam kommt man wieder zu sich, lässt sonorere Töne erklingen. Als ob jemand den Glauben an sich langsam wiederfände! Doch der Geduldsfaden reißt. Das Cello rastet völlig aus, wird an sich selbst wahnsinnig, stellt Fragen in den Raum – und kann sie doch nur an sich (mit sich/gegen sich) selbst exzentrisch beantworten.

YouTube video
Mstislaw Rostropowitsch und das Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Eugene Ormandy (1960)

Rostropowitsch säuselt zunächst ganz gedankenverloren und voller Tränen in den Abgründen seines Instruments herum. Die spröden Pizzicati … Eine kurze Cis-Dur-Hoffnung, doch gleich danach cis-Moll. Selbst in »normaler« Tonalität sagt hier alles: »Nein, so nicht!« Auch die späteren Pizzicati von Rostropowitsch bleiben lange klanglich im Raum stehen (und entsprechend auch im Gedächtnis). Nach ungefähr dreieinhalb Minuten schrauben sich Triolenpassagen mehr und mehr nach oben. Quasi sempre Crescendo. Da darf einem nicht die Kondition ausgehen. Passiert Rostropowitsch natürlich nicht! Mit seinem »schiebenden« Ton schafft er die im Grunde perfekte dramaturgische Ausinszenierung dieser wütenden Kadenz!

YouTube video
Mischa Maisky und das London Symphony Orchestra unter der Leitung von Michael Tilson Thomas (1993)

Wieder zittert das Tremolo Maiskys doch allzu sehr; vielleicht unter dem Druck, der »Last der (Interpretations-)Geschichte«. Die Cis-Dur-cis-Moll-Pizzicato-Wende inszeniert Maisky vielleicht sogar noch extremer, aber auch gleichsam »zu« schön. Hier geht es ja nicht um »einfaches Liebesleid« eines 17-Jährigen, oder? Auch im späteren Verlauf der Kadenz weint Maisky mir zu stark. Ich will ja nicht das völlig aufgelöste Individuum erleben; ich will die Dialektik von Trauer, Zerknirschung und maximal wütender Aufbegehrung fühlen! Aber das stellt sich für mich beim zerfließenden Maisky leider nicht ein.

YouTube video
Truls Mørk und das London Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Mariss Jansons (1995)

Truls Mørk kommt ganz über den sonoren Vollklang dazu, diese Kadenz für sich zu erforschen. Im Leisen verstummt er dafür fast. In der Triolensequenz dann: quasi ein Stottern; wie ein atemloses Gespräch von zwei Kindern, die viel zu früh »erwachsen« spielen mussten. (Das kann einen, wenn man genau hinhört, ziemlich mitnehmen.) Später macht sich dann Mørk fast ein bisschen spaßig über wirklich alles und jeden lustig, so scheint es mir. Vor allem die tiefen, akkordischen Zwischeneinschübe vor dem erneuten Orchestereinsatz wirken hier fast wie »Jokes«.

YouTube video
Sol Gabetta und die Münchner Philharmoniker unter der Leitung von Lorin Maazel (2012, live)

Sol Gabetta verschenkt das Potential wütender Spannung sehr früh. Da wird Expression behauptet, indem Geräusche beim Knallen des Bogens auf die Saiten erzeugt werden. Aber irgendwie wirkt das kalkuliert, zu sehr »nachgespielt«. Live erwarte ich, dass mal etwas ganz anderes passiert. Das ist doch eine Kadenz; hier darf im Grunde alles sein! (Zumindest möchte ich das Gefühl haben, dass hier nicht jemand nur alle Noten spielt, die ein Komponist hingeschrieben hat.)

Dann übergangslos: der vierte Satz (Allegro con moto). Das Orchester nimmt die Wut der Solo-Cello-Passagen zunächst auf, webt aber mehr und mehr virtuose, »triumphierende« Elemente ins Geschehen ein. Gemeinsame Entschlossenheit. So kehrt kurz vor Schluss die prägnante Thematik des Beginns wieder, aber jetzt durch zahlreiche Nebenkommentare ergänzt – quasi der erste Satz durch die Brille anderer Erfahrungen beleuchtet … ein Pseudo-Triumph. Kein fröhlicher Tanz, nirgends.

YouTube video
Mstislaw Rostropowitsch und das Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Eugene Ormandy (1960)

Rostropowitsch grätscht erwartbar dazwischen. Aber auch die Holzbläser und die reinhauenden Streicher sind nun alle gemeinsam extrem sauer. Beeindruckend, wie es dann abgeht! Eine Tempobeschleunigung, die man so cool hinforttragend erst einmal im Verbund hinbekommen muss. Sowieso klasse!

YouTube video
Mischa Maisky und das London Symphony Orchestra unter der Leitung von Michael Tilson Thomas (1993)

Das Tempo bei Maisky und Co. ist viel schleppender, schön gemein zäh. Dazu kontrapunktieren sich die Piccoloflöten quietschend einen Wolf. Gut so! Fast »zu« kammermusikalisch exerziert erscheinen später leider diejenigen Passagen, die einem bei Rostropowitsch noch so schön Angst einjagten.

YouTube video
Sol Gabetta und die Münchner Philharmoniker unter der Leitung von Lorin Maazel (2012, live)

Ja, gut, es ist eine Live-Aufnahme, bei der die Pauken wirklich einfach nur klobig blind ins Ohr ballern. Das Cello ist weit weg und das Spiel von Gabetta wirkt etwas fahrig und tempomäßig »hinterher«. Das verzweifelte Individuum: ja, aber eben nicht ganz freiwillig …

YouTube video
Truls Mørk und das London Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Mariss Jansons (1995)

Trocken und sachlich geht es bei Jansons und Mørk zu. Witzigerweise klingt hier die Musik am »russischsten«. Vielleicht, weil der orchestrale Gesamtklang am profundesten tönt. Flink macht sich Mørk davon – und beschleunigt dann noch einmal; immer im genauen Zusammenspiel mit dem Orchester. Das schnurrt gut ab. Sicherlich – wie die anderen (mit Ausnahme: Gabetta) – sehr empfehlenswert! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.