Ich erlebte Mojca Erdmann erstmals, als 2009 in Schwetzingen Proserpina uraufgeführt wurde, eine kurze Oper von Wolfgang Rihm. Die damals 33-jährige Sopranistin realisierte die Rolle der in einer antikischen Ehehölle gefesselten Heldin mit grandioser Präsenz, Kunst und Selbstverausgabung, und spätestens seitdem gilt sie – auch – als Expertin fürs Zeitgenössische. Rihm, Reimann und andere Komponisten haben eigens für sie geschrieben. Die gebürtige Hamburgerin hat indessen auch als Zerlina an der MET debütiert, war die Sophie im Salzburger Rosenkavalier und Lulu an der Berliner Staatsoper, 2025 debütiert sie als Elsa im konzertanten Kopenhagener Lohengrin.  

In Zürich, ihrer Wahlheimat seit 2010, tritt sie jetzt in einem der gewagtesten Projekte des Opernhauses auf: Die Kafka-Oper Amerika von Roman Haubenstock Ramati (1919–1994), die nach lautstarkem Protest bei der  Berliner Uraufführung von 1966 nur zwei Wiederaufführungen erlebte, wird auf neuestem technischen Stand realisiert, mit 80 Lautsprechern für den diffizilen Mix aus Livemusik und Bandzuspielungen, dirigiert von Gabriel Feltz und inszeniert von Sebastian Baumgarten (Premiere ist am 3. März).  Zuvor treffe ich die Sängerin, die in gleich zwei Rollen dem Antihelden Karl Rossmann aus Franz Kafkas unvollendetem Roman Amerika gegenübersteht. Im Zürcher Café Tibits hinter der Oper stellte Mojca Erdmann die erste Frage gleich selbst…


Mojca Erdmann: Haben Sie mal die Noten gesehen?

VAN: Nein.

Ich hab’ sie mitgebracht. Ich habe zwei Charaktere, Klara und Therese. Das blau Markierte singe ich live, das Rote ist voraufgenommen.


Wir blättern im Klavierauszug. Auf manchen Seiten stehen keine Noten, man sieht nur grafische Gebilde, Linien und Schraffuren zwischen den Taktstrichen, auf anderen gibt es Notenlinien, mal nur drei, auf denen ungefähre Höhen für Sprechgesang notiert sind, denen jählings Töne auf fünf Linien folgen können…


Das hier ist eine Kampfszene, da müssen wir genau wissen, wann kommt was vom Sprechchor, vom Band, damit wir darauf mit Kopfnuss, Ohrfeige, Jiu-Jitsu-Übungen reagieren können. Und das hier ist ein bisschen normaler, Glissando und Sprechgesang, mit genaueren Tonhöhen als andere Passagen.

Was sind das für Charaktere, die Sie darstellen?

Klara ist im Grunde eine reiche Tochter, verwöhnt, brutal, sehr narzisstisch, wirklich das Gegenteil von Therese. Die ist ein Hilfsmädchen im Hotel Occidental, sehr zurückhaltend, sehr schüchtern, die sieht in Karl Rossmann einen, der aus ähnlichen Verhältnissen kommt wie sie, sie erzählt ihm ihre ganze Lebensgeschichte und ist froh, dass sie nicht mehr ganz allein dort ist. Das ist interessant, diese verschiedenen Frauen schauspielerisch herauszuarbeiten.

Wie sind Sie da herangegangen? Haben Sie zuerst das Buch gelesen?

Ja. Ich hatte die Noten gesehen und mich gefragt: Was ist das eigentlich? Ich habe ja viel Neue Musik gemacht, aber sowas ist mir noch nicht untergekommmen. Also habe ich erstmal den Roman gelesen.

Gibt es eine besondere Herausforderung für die Stimme?

Ich würde sagen, die größte Herausforderung ist – das finde ich auch toll in der Arbeit mit Sebastian Baumgarten – die Sprache. Das Gesprochene. Wirklich den Text zu sprechen und möglichst, wie ein Schauspieler, vom Gesang wegzubringen. Wir haben Mikroports, man muss die Stimme nicht auf Lautstärke trimmen. Es ist wahnsinnig spannend, an einzelnen Worten und Betonungen zu arbeiten. Man kann auch gegen den Text sprechen, Sebastian hatte so einen Beispielsatz: »Ich bring dich um!«


Die letzte Silbe hüpft mal eben in die Höhe. Ein irrer Effekt.


Sie haben Jiu-Jitsu-Übungen erwähnt. Wie kommt es denn dazu?

Es gibt eine Kampfszene bei Kafka. Haubenstock-Ramati schreibt in seiner Partitur dazu ›Yogaübungen‹, aber die kommen bei Kafka nicht vor. Wir haben einen Choreografen, mit dem wir Kampfsport und Bewegungsabläufe festlegen. Jiu-Jitsu ist dabei, Breakdance, und etwas in Richtung Tai-Chi, es braucht viel Kontrolle, weil es sehr langsame Bewegungen sind, und dann das hohe c zu singen… da sind wir noch dran! Insgesamt sind es viele kleine Szenen, die müssen auf den Punkt passen. Man hat nicht so wahnsinnig viel Zeit, einen Bogen zu bauen für die Entwicklung einer Rolle.

Und dann gleich zwei Rollen…

In diesem Stück muss ich ja innerhalb kürzester Zeit komplett den Charakter tauschen. Da hilft natürlich auch das Kostüm. Welche Schuhe trägt sie? Für Klara gibt es Boots, um diese Brutalität reinzukriegen, und für Therese viel feinere Schuhe.

Neben Komponisten wie Wolfgang Rihm und Aribert Reimann, mit denen Sie viel arbeiten, wirkt diese Partitur erst recht avantgardistisch.

Ja, besonders Rihm ist dagegen sehr lyrisch, sehr süffig, arios im Grunde. Haubenstock-Ramati geht eher in die Richtung von Schönbergs Pierrot lunaire, mit Sprechgesang, der sich an Tönen orientiert oder auch, wenn es Schauspieler singen, gar nicht. Das wird ja völlig unterschiedlich gemacht. Ich habe Pierrot im Lockdown aufgenommen, mit Zubin Metha als Dirigent. Barenboim hat Klavier gespielt und Mischa Barenboim Geige und Bratsche, Emmanuel Pahud Flöte, es war eine unglaubliche Atmosphäre. An den Umgang mit Sprechgesang in diesem Stück erinnert mich Amerika besonders.

Das Galgenlied mit Mojca Erdmann, Michael Barenboim, Emmanuel Pahud und Astrig Siranossian, Leitung: Zubin Mehta  •  © Helios Films/Pierre Boulez Saal

Wie kamen Sie auf den Weg zur Neuen Musik? Abgesehen vom absoluten Gehör, das dabei hilfreich ist – spielte es eine Rolle, dass Ihr Vater, Helmut W. Erdmann, auch Komponist ist?

Nein, durch meinen Vater gab es gar nicht so viel Einfluss betreffend Neue Musik. Er ist auch Flötist, und wir mussten immer leise sein, wenn er Flöte übte… [lacht] Aber er hat für mich, als ich sechs Jahre alt war, ein Stück für die Geige geschrieben, für ›Jugend musiziert‹, ich hatte also nie Berührungsängste. Und ich habe immer gesungen.

Wussten Sie früh, dass Sie Sängerin werden wollten?

Mit sechs habe ich angefangen bei den Hamburger Alsterspatzen, mit denen durfte ich auf die Bühne der Staatsoper. Es war faszinierend, Teil eines professionellen Betriebs zu sein. Es war auch große Disziplin gefragt im Chor, aber kombiniert mit tollen Reisen, Japan, Spanien, USA, mit zehn habe ich im Disneyland gesungen. Aber Singen war für mich Spaß, ich wollte Geige studieren.

Und wann wurde es ernst?

Als ich vierzehn war, hat mein Musiklehrer mir wegen meiner schönen Stimme gesagt, ich soll doch mal Gesangsunterricht nehmen, und ein Professor in Hamburg hat mich an seine Schülerin verwiesen, Evelyn Herlitzius. Sie war meine erste Lehrerin. Ab da war mir klar, das ist mein Instrument, die Stimme.

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Trotzdem haben Sie beides studiert, Geige und Gesang…

Ich wusste durch meinen Vater, dass es nicht einfach ist, als Musiker zu überleben. Als Sängerin konnte ich mich noch nicht einordnen. Mit der Geige wusste ich, da kann ich als Orchestermusikerin oder Geigenlehrerin mein Geld verdienen. Ich wollte weg von zu Hause und habe in Köln vier Semester lang beides studiert. Dann kam 1997 das Vorsingen an der Komischen Oper Berlin, bei Harry Kupfer, der hat gesagt, wir hätten dich gern als Ensemblemitglied. Und mein Lehrer Hans Sotin sagte: ›Ja klar, das musst du machen.‹

Womit fingen Sie denn an auf der Bühne?

Meine erste Rolle war die Ida in der Fledermaus [lacht] und dann kamen natürlich Papagena und Barbarina, später Susanna und Ännchen … Das war für mich eine unglaublich wichtige Zeit, das Laufenlernen auf der Bühne, von älteren Kollegen Dinge zu lernen, die ich an der Hochschule so nicht gelernt hatte. Was es bedeutet, dass man das Orchester später hört, die Dimensionen eines Opernhauses, wie es ist, im Betrieb einzuspringen, nach sechs Stunden Probe noch eine Vorstellung zu singen und seine Kräfte einzuteilen.

Das führt aber noch nicht steil zur Gegenwartsmusik …

Es kamen dann immer mehr Anfragen, eine von der Staatsoper Unter den Linden für My way of life mit Musik von Tōru Takemitsu, mit Kent Nagano und Peter Mussbach. Das war eine Collage, an die mich Amerika ein bisschen erinnert. Da dachte ich schon an den Schritt in die Selbständigkeit. Und 2005 kam die Einladung zum Festival in Bad Reichenhall, wo Kompositionsaufträge vergeben worden waren an Reimann, Rihm, Müller-Wieland, Trojahn, und so habe ich all die Komponisten auf einen Haufen kennengelernt oder sie mich… 

Und einige haben dann für Sie komponiert?

Aribert hat für mich Ollea geschrieben, vier Lieder für Sopran solo, auch Wolfgang, die Partien in den Opern Proserpina und Dionysos.

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Aribert Reimann, Ollea für Sopran solo, 1.Lied Sehnsüchtelei (Heine)

Haben sich die Komponisten auch mal mit Ihnen beraten?

In Dionysos [2010 in Salzburg uraufgeführt] gab es wenige Stellen, wo ich Wolfgang fragte: ›Kann man hier was ändern?‹ ›Ja, schlag mir was vor…wunderbar, machen wir so.‹ Das ist schon toll, dass man mit den Komponisten sprechen kann. Auch mit Aribert habe ich Partien besprochen.

Ich habe Sie vor ein paar Jahren in Hannover mit dem Kuss Quartett in Aribert Reimanns Stücken gehört, ein tolles Programm, aber viel zu wenig Publikum.

Mit Streichquartett zu singen macht wahnsinnig viel Spaß. Ariberts … oder soll es Tod bedeuten? habe ich auch mit dem Stradivari Quartett aus Zürich in Ankara gemacht, mit Schönbergs Zweitem Streichquartett. Ich war artist in residence im neuen Konzertsaal [CSO Ada Ankara Concert Hall, 2020 eröffnet], ein fantastischer Saal. Es waren bestimmt 700 Leute im Publikum und viele junge, unglaublich konzentriert. Mit dem jungen Publikum in Deutschland finde ich es immer noch relativ schwierig. Es kommt schon drauf an, was die Tickets kosten, aber ich sehe es als große Gefahr, dass immer mehr Musikunterricht gestrichen wird.

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Luca Francesconi: Quartett, Oper nach Heiner Müller, Trailer der Staatsoper unter den Linden 2020.

Sie haben sich 2005 selbstständig gemacht und sind seitdem in allen Epochen und Genres unterwegs, aber auch dem klassischen Opernrepertoire treu geblieben. Welche Rollen reizen Sie da besonders?

Mit zunehmender Lebenserfahrung reizen mich die Rollen mit einer größeren Fallhöhe. Ich war nie ein großer Fan von Zerlina und Despina, auch wenn sie schön zu singen sind. Ich mag Bergs Lulu und Vitellia in Mozarts Titus, die krasser an den Rand ihrer Emotionen getrieben werden. In Hamburg habe ich letztes Jahr die Blanche in Dialoge der Karmeliterinnen gesungen, in der 20 Jahre alten Inszenierung von Nikolaus Lehnhoff, das war schon sehr, sehr intensiv. Wenn da am Ende während des Chorals eine Nonne nach der anderen geköpft wird… da gingen wir mit Tränen in den Augen auf die Bühne, zusammen ins Ende. Man fühlte sich wirklich wie in so einem Konvent.

Wie ist es, in eine Rolle hineinzukommen und wieder heraus?

Wenn ich jetzt eine harte, hasserfüllte Figur spielen muss wie Klara – man wird ja immer etwas von seinem Erlebten reinbringen. Aber das ist dann der Moment und die Rolle, und das ist nicht Mojca [der slowenische Name wird ausgesprochen wie »Moiza«, Anm. der Red.]. Es ist auch schon passiert, dass mich eine Situation aus meinem Privatleben einholt und ich wirklich weine und mich zusammennehmen muss. Aber man hat die Maske, das Kostüm, man schminkt sich ab und geht nach Hause, man lässt die Rolle im Theater.


Gibt es eine Traumrolle für die Zukunft?

Die Salome ist für mich ein totaler Traum, mit einem Dirigenten, der das Orchester nicht ganz so herausposaunen lässt. Robert Trevino wollte schon 2020 in Malmö, wo er Chefdirigent war, Salome mit mir konzertant machen, aber das ist Corona zum Opfer gefallen.

Wie so vieles. Sehen sie Spätfolgen?

Durch die Streaminggeschichten entstand ein Wertverlust. Man konnte alles kostenlos ansehen, und ich hatte die Angst, dass man das Publikum erzieht, zu Hause zu bleiben. Und dass alles gecancelt werden konnte, ohne Entschädigung zu zahlen, ist zum Teil in den Usus übergegangen. Zudem sind die Planungen jetzt viel kurzfristiger. 

Wie wird eigentlich eine Hamburgerin auf dem Weg über Köln und Berlin zur Züricherin?

Ich wollte nach einer Trennung ein neues Kapitel starten, nach dreizehn Jahren in Berlin. Zürich ist eine wunderschöne Stadt, und es liegt sehr gut. Ich bin allein hierher gereist und habe eine Wohnung gesucht, während des Vulkanausbruchs auf Island. Das war unglaublich kompliziert, weil ich auch noch eine Vorstellung in Wien singen musste. [Die Aschewolken des Eyjafjallajökull legten den Flugverkehr im April 2010 lahm, Anm. der Red.] Aber es war eine super Entscheidung. Ich wohne zwei Minuten vom See, und ab Mai gehe ich jeden Tag schwimmen. Es gibt hier sogar Leute, die gehen jeden Tag in den See, auch jetzt, bei 5 Grad! ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.