Kürzlich gab es wieder ein Online-Update für die Orpheus-Liste. Erstellt hat sie der emeritierte Wiener Ordinarius für Musikwissenschaft Reinhard Kapp, einer der letzten »Selbstaufklärer« dieses Fachs. Allerdings nummeriert er die diversen Opern, Kantaten, Konzerte, Tänze, Epen, Gedichte, Lieder und Soundtracks in seinem chronologischen »Verzeichnis in progress aller auf Orpheus (und/oder Eurydike) bezogenen oder zu beziehenden« Werke nicht durch. Schiere Quantität beantwortet keine Frage, sie wirft nur neue Fragen auf.
Zum Beispiel die, warum ausgerechnet dieses antike Märchen einer übergroßen Liebe so zeitlos erscheint. Etwa, weil es von einer Macht der Musik kündet, von der die Menschheit inzwischen sicher weiß, dass es sie nicht gibt? Oder vom Neid der Götter, an die niemand mehr glaubt? Oder von der Ohnmacht menschlicher Sehnsüchte? Ein Lied bringt weder Steine zum Weinen, noch stoppt es Krieg und Tod. Trotzdem ließ sich sogar der ansonsten der Verbürgerlichung einer feudalen Gattung gegenüber äußerst kritische Adorno dazu verleiten, aus der unendlichen Flut der Orpheusvertonungen den emphatischen Schluss zu ziehen: »Alle Oper ist Orpheus.« Das war nicht ironisch gemeint.
Kapps Liste ist aber auch wirklich beeindruckend. Sie beginnt im siebten Jahrhundert vor Christi Geburt mit Ischtars Fahrt in das Land ohne Heimkehr und endet vorläufig auf Seite 110 mit der Oper Eurydice – die Liebenden, blind von Manfred Trojahn, die Anfang März 2022 im Rahmen des Opera Forward Festivals in Amsterdam uraufgeführt worden ist.

Trojahn ist ein großer Klangzauberer. Er gehört zu den Komponisten der Gegenwart, die unverdrossen immer noch Sinnlichkeit, Ausdruckskraft und Formenvielfalt aus dem weiten Feld einer sich nie ganz auflösenden Tonalität beziehen. Vielleicht wird seine Musik deshalb daheim in Deutschland unter Wert gehandelt. Im Ausland dagegen ist Trojahn höchst erfolgreich. Zuletzt hatte er, ebenfalls für Amsterdam (und nachgespielt in Zürich und Wien) bereits einen Antiken-Stoff veropert. Es geht darin um die Rückkehr des Orest nach Mykene, in den Schoß seiner mörderischen Familie, die eine bildungsbürgerliche Villa des Fin de Siécle bewohnt, ausgestattet von Katie Mitchell mit Flügel, Bibliothek und Psychoanalytiker-Couch. Also nicht unbedingt aktuell: Trojahns Orest erzählte von den Lebenslügen unserer Großeltern-Generation.
Trojahns Orpheus-Oper dagegen greift ins Hier und Jetzt. Stoff und Text sind imprägniert von der Genderdebatte. Eine junge, blonde, emanzipiert pagenköpfige Eurydice hat, trotz ihres sonnengelben Designerkleids, eindeutig die Hosen an. Sie sagt und singt es gleich zu Beginn, laut und schön und eingerahmt vom glühenden Espressivo des Englischhorns: »Ich bin die Poesie.« Eurydice überlebt. Orphée stirbt. Gerade noch rechtzeitig.
Insofern »alle Oper Orpheus ist«, sind nämlich auch alle Opernfrauen traditionell Opfer. Sie werden, wie Cathérine Clement in den Neunzigern deutlich machte, routinemäßig besiegt, verraten und verkauft, in fast allen von Männern komponierten Opernwerken des 19. und 20. Jahrhunderts. Werden erdolcht (Carmen), erwürgt (Desdemona), vergiftet (Adriana), verbrannt (Brünhilde), eingemauert (Aida), verkauft (Marie), hingerichtet (Blanche) oder wahnsinnig (Lucia), sie verdursten (Manon) oder springen aus freien Stücken in den Tod (Tosca). Eurydike ihrerseits, so erzählt es der Mythos, wird von einer Schlange gebissen, die ein eifersüchtiger Gott ausgesandt hat.
Trojahn indes ließ die Schlange weg, er schrieb das Ende um und verfasste sein Libretto selbst, unter Verwendung der Orpheus-Sonette von Rainer Maria Rilke, die von einem unsichtbaren Madrigalchor aus der Ferne immer mal wieder ordnend hineingesungen werden in die seltsam mäandernden Dialoge der Liebenden. Mann und Frau sprechen aneinander vorbei. Ihre Sätze sind voller Rätsel, illuminiert von teils absurden, teils witzigen, jedenfalls post-post-modernen Erinnerungen an abgelegte Bildungsgüter, wobei die Zitate von Luigi Nonos Atmendem Klarsein reichen bis hin zu Alain Bourdains Ortlosem Ort. Diese Kunstsprache hat schon etwas Verwunschenes, Gestriges. Doch man versteht, anders als sonst in Opern üblich, jedes Wort. Was sicher erstens an der malerischen Qualität des mit solistisch agierenden Holzbläsern üppigst ausgestatteten Orchesters liegt. Es kann sich, trotz seiner Riesengröße (mehr als achtzig Musiker) zurückziehen bis ins vierfache Piano. Steuert wispernd-fließend seine Kommentare bei, in hellen Pastellfarben oder schwärzlich-pastosen Drohgebärden; kann aber auch klare, scharfe Devisen artikulieren, wozu zwei Harfen beitragen und vier Hörner, außerdem die böse Tuba nebst dreifacher Trompete und Posaune, sowie ein Klavier und reichlich Percussion. Zweitens sind die vier Stimmen betörend schön geführt. Thomas Oliemans ist ein sonor drohender Gott Pluton. Katia Ledoux eine rotglühende Göttin Proserpine. André Schuen ein kraftvoll, aber etwas dümmlich auftrumpfender Orphée und Julia Kleiter eine subtil leuchtende Eurydice. Alle vier sprechen miteinander deutsch, aber ihre Namen französisch aus. Sie haben, wie Trojahn, offenbar einen Zweitwohnsitz in Paris.
Orphée und Eurydice treffen einander zufällig im Zug. Freud läßt grüßen. Es ist ein sehr schneller, heller TGV neuen Typs, natürlich erster Klasse. An den Fenstern, ebenso im Hintergrund, fliegen surreal angedeutete Landschaften aus der digitalen Welt vorbei, reduziert auf Strichcodes. Auch sonst hat Christof Hetzer das Upperclass-Drumherum traumschön mit Ikonen der Moderne ausgestattet. Der stylische Bistrowaggon, in dem Pluton bereits unauffällig als Ober herumscharwenzelt und Proserpine auf dem Barhocker wartet, erinnert an Edward Hoppers buntes Nighthawk-Szenario. Als die Liebenden einander erkannt haben, verwandelt sich der Zug in ein Dampfschiff und die Szene in ein mit Kohlestift gezeichnetes Sea-Piece: Mit dem Leben (die bis dato höchst eloquente Eurydice fällt vorübergehend tot um) ist naturgemäß auch alle Farbe entwichen.

Einzig die Glacé-Handschuhe der Prosperpine, die dem Orphée nunmehr eine weitere, herzhafte Lektion erteilt in Sachen Feminismus, leuchten in giftigem Telecom-Rosa. Das Ende kommt, wie oben angekündigt. Erst gibt der Herr der Fliegen auf, er liegt auf dem Rücken und streckt alle Sechse von sich. Dann dreht sich Orphée neugierig um, umarmt Eurydice, und stirbt, grau in grau. Schade nur, dass der Regisseur Pierre Audi (anders als Trojahns Musik) die antike Ordnung wieder herstellt und auch die Frau, nachdem sie sich isoldenmäßig jubelnd ausgesungen hat, erneut zu Boden schickt. Ich hätte sehr gern gesehen, wie sie, möglichst wieder total bunt, während sich die Harfenklänge lüstern aufwärts kringeln, aus dem Bild fliegt, zu neuen Ufern. ¶
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