Markus Becker hat den kompletten Max Reger aufgenommen – alles, was es für Klavier solo gibt, auf zwölf CDs. Auch sonst erforscht er lieber Seitenlinien, als dem Mainstream zu folgen, was seine üppige Diskographie bestätigt. Studiert hat er beim legendären Karl-Heinz Kämmerling in Hannover, wo er bereits seit 1993 selbst eine Professur hat. Im letzten Winter vor Corona kam sein Jazzalbum Freistil heraus, und zwei Jahre später das zweite, Alleingang. Man hört da einen klassisch ausgebildeten Pianisten, der improvisiert wie noch keiner zuvor. Voll mit Anspielungen auf Komponisten, auf die Musikgeschichte, auch voll mit allem, was es im Jazz schon gab, sehr frei und sehr stimmig. Wie ist Markus Becker dazu gekommen, wie will er weitermachen? Hat er den klassischen Klavierabend satt, erfindet er sich neu als Pianist, mit Ende fünfzig? Darüber haben wir in seiner Wohnung in Hannover gesprochen.


VAN: Beim Vorbereiten bin ich auf ein Doppelalbum von dir gestoßen, acht Jahre alt, das auch schon Jazz enthält und den erstaunlichen Titel  ›Kiev / Chicago‹ trägt. Was hat es damit auf sich?

Markus Becker: In der Schreibweise kann man es eigentlich nicht mehr anbieten… Kiev, Kyjïv, bezieht sich auf das Große Tor von Kiew in Bilder einer Ausstellung von Mussorgsky. Die sind Teil eines Programms, bei dem ich in der ersten Hälfte russische Komponisten spiele, Skrjabin und Mussorgsky, und nach der Pause Jazz, wirklich strikt getrennt. Für den Jazz steht Chicago. Ich habe die Bilder ausgesucht, weil die eine Stabilität haben, die du mit dem Jazz nicht kaputtmachst… Aber das sind größtenteils Standards, die Fuge von Gulda, und Sachen von Chick Corea, eine ganz andere Geschichte als die neueren Sachen. In erster Linie war das fürs Merchandising nach Konzerten gedacht, denn eigentlich kriegst du das ja ganz schlecht einsortiert, zwei Genres zugleich.

Da bist du noch dem Jazz-Kanon gefolgt.

Genau, ich habe sowas ja schon schrecklich lange gemacht. Als ich im Knabenchor Hannover sang, gab’s da so eine Dixieland-Combo aus Elfjährigen, das war skurril. Wir haben uns einen Schlagzeuger geholt und alles learning by doing gelernt. Dann kam die übliche Jazz-und-Rock-Sozialisation, Schülerbands und sowas, Tanzmusik im Kuppelsaal, diese Parallelwelt war immer da.

Wie sahen das deine Eltern, klassisch ausgebildete Musikpädagogen?

Mein Vater war schon streng und elitär irgendwie, hat uns aber machen lassen. Er hat mich dann mal beraten, als ich zu Roxy Music gegangen bin: ›Was hörst du dir für eine Scheiße an, geh lieber in ein vernünftiges Zappa-Konzert!‹ Das fand ich gut, das hatte Haltung. Bei dem standen im Plattenregal die Beatles- Sachen herum, natürlich aus Schulmusiker-Perspektive: Was wird denn so gehört? Da habe ich mich bedient. Es war zuhause auch viel Offenheit für das alles. Ich musste mich da nicht durchkämpfen, das wurde toleriert.

Aber bis du dein erstes reines Jazzalbum gemacht hast, dauerte es noch ein paar Jahrzehnte?   

Ich werde nächstes Jahr 60, und da wird normalerweise die Ernte eingesammelt. Man hat sich was aufgebaut und spielt jetzt noch zehn, fünfzehn Jahre fröhlich Haydn und Reger. Dass dieses andere Ding da jetzt so durchkommt, ist für mich eine ganz wichtige Sache, eine ganz neue Perspektive. Ich kann mir vorstellen, da noch mal richtig einzutauchen, das ist kein Zieraquarium nebenbei. Das Entscheidende ist, dass es Resonanz gibt, dass auch ein klassisches oder klassisch geschultes Publikum so neugierig darauf ist.

Hat der klassische Klavierabend für dich selbst ausgedient?

Der reizt mich weiter sehr, mache ich auch. Aber wenn du mich fragst: Was, wenn’s gut läuft, willst du die verbleibenden zwanzig Jahre machen?, würde ich sagen: Alleingang. Es ist einfach so spannend.

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Dein Jazz berührt sich ja auch mit deinen Klassikerfahrungen.

Bei den Sachen, die ich selbst entwickle, improvisatorisch oder vorab arrangiert, habe ich den Eindruck, dass sie sich irgendwo an klassischer Ästhetik orientieren. Es ist weniger dieses blockhaft Strukturierte und akkordische Denken, wie es das oft im Jazz gibt, sondern es hat was von Stimmführung, ich kann das gar nicht so genau analysieren. Und ich entdecke viele Elemente, die noch was Erzählerisches haben oder eine geschlossene Dramatik. Aber du fühlst dich beim Spielen komplett anders, als wenn du etwas reproduzierst und dich konzentrierst, dass das läuft. Hier ist jeder Fehler herzlich willkommen!

Fühlt sich das auch körperlich anders an auf der Bühne?

Ja, tatsächlich. Im reproduzierenden Bereich habe ich schon viel mit Nervosität und Lampenfieber zu kämpfen. Das tun die meisten, es gibt kaum Leute, die sich da hinsetzen und einfach mal so spielen, das ist schon fast verdächtig. Die Frage von richtig und falsch fällt beim Improvisieren ja von vornherein flach. Du kannst so ein Ding auch damit beginnen, dass du mit der flachen Hand auf die Tasten haust. Das ist alles okay, und dann geht´s ja erst los. Der große Unterschied ist, dass die ganze Situation, das Publikum, der Saal, das eigene Befinden viel stärker reinspielen. Natürlich geschieht das auch, wenn ich eine Haydnsonate spiele, aber zu einem viel geringeren Anteil. Da bin ich mehr unter einer Glocke, etwas hermetischer. Ich genieße es auch, auf die Bühne zu kommen und nicht zu wissen, was ich als erstes spiele. Das ist für mich wie Weihnachten, dann packe ich mein eigenes Geschenk aus.

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Und wie kommt im Studio etwas Spontanes zustande?

Beim Freistil hatten wir drei Tage im Sendesaal in Bremen, da haben wir gemerkt, in diesem tollen Saal, dieser Situation kann man unheimlich viel ausprobieren. Dann hat der Tonmeister, wie man früher sagte, das Band laufen lassen und gesagt: ›Weißt du was, ich bin in zwei Stunden wieder da, spiel mal, was dir durch den Kopf geht.‹ Da sind so vierzig, fünfzig Schnipsel entstanden, aus denen wir ausgesucht haben, und die sind völlig aus dem Moment.

Hast du die dann weiterentwickelt oder kamen die so auf die CD?

Das konnte direkt draufgepackt werden, weil die Schnipsel so unterschiedlich waren. Bei einem haben wir, um eine gute Balance hinzukriegen, ein Teil rausgeschnitten, weil sich etwas exakt gleich wiederholte, da konnte man wieder einsteigen. Aber ein Dutzend von den Sachen ist so im Moment entstanden. Da habe ich mal gedacht: So, mache ich eine Quinte, verschiebe die, da entsteht was draus. Ganz viel ist auch gegen die Wand gewesen, das hört man ja nicht mehr, wenn man nur die guten Sachen nimmt.

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Kommt es auch vor, dass die Finger sich selbst was suchen, oder dass du ein Konzept hast wie ›Jetzt mache ich mal einen durchbrochenen Choral‹?

Bestimmt beides. Es ist erstaunlich viel, was die Finger sich suchen. Da hast du eine bestimmte Haptik, dazu eine gar nicht unbedingt konkrete, aber klangliche Vorstellung von warm oder kalt, von eckig oder rund, oder von Aufbruch oder Schluss. Zu bestimmten Konstellationen habe ich ein ganz körperliches Verhältnis. Und das widerspricht ja dem nicht, dass man sagt: ›Ich mache mal sowas wie ein Kinderlied, oder einen Choral, oder ein Ostinato.‹

Ich kann mir auch vorstellen, dass manche Handbewegungen Repertoireerinnerungen wachrufen. Zum Beispiel erinnert mich in Butterfahrt auf Alleingang eine Wendung an Schumann, ich weiß nur nicht, warum.

In Butterfahrt? Das ist ja lustig. Schumann gibt’s doch eher im Stück davor.

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Später, als ich ihm die Takte aus seiner Improvisation herausgeschrieben und gemailt habe, findet er die Lösung: »In Zeitlupe ist die Wendung wie ein Ausschnitt aus Der Dichter spricht, was wohl am absteigenden Bass liegt, der jeweils die Terz markiert. Tja, erwischt…«


Man hat so seine musikalische Sozialisation und damit ein Repertoire an Gestik, das ist einfach drin. Oder eine Bachkantate, diese Knabenchorerfahrungen. Je älter man wird, desto mehr wird klar, was man so an Fingerabdruck mit sich rumträgt.

Der bekannteste Jazzpianist und Klassikinterpret zugleich war Friedrich Gulda. Spielt er eine Rolle für dich?

Auf jeden Fall. Seine Beethovensonaten fand ich zwischendurch zu hermetisch, in dieser Perfektion, da kommt so gar nichts ran, es könnte manchmal mehr atmen. Aber diese Knackigkeit ist schon irre, und französische Sachen spielt er ausgezeichnet, immer sehr schlank und klar. Seine Jazzfuge habe ich über Emerson, Lake and Palmer entdeckt. Ich war Fan von denen, heute denke ich, das ist ja ein ziemliches Getöse, aber irgendwie verrückt. Und Keith Emerson spielt auf einem Livealbum die Gulda-Fuge. Die finde ich grandios, wahnsinnig gut komponiert, liegt toll in der Hand, schwierig auch…

Hat Gulda dich auch als Jazzpianist angeregt?

Ja, in seiner Freigiebigkeit. Er hat viele Möglichkeiten geschaffen und einen Weg geöffnet, das gab´s vorher einfach nicht. Stilistisch ist es mir manchmal zu rumpelig, es hat keine groovemäßige Eleganz, da merkt man doch dieses Statische aus der Klassik. Dann gab es irgendwann Leute wie Eugen Cicero, das ist elegant, aber nach drei, vier takes weißt du, wie der Hase läuft. Es sind eher Leute wie Herbie Hancock und Chick Corea, die mich fesseln. Keith Jarrett weniger, das ist mir ein bisschen zu sehr auf Kult hingearbeitet.

Wenn Jazz, freie Improvisation deine eine Obsession ist, dann ist Max Reger sicher die andere. Wie kam es dazu?

Es gibt Musiker, bei denen der Weg, auf den sie jetzt zurückblicken, mit zwanzig eigentlich schon vorprogrammiert war. Bei mir gibt es vieles, auf das ich gar nicht hingearbeitet habe. Das fing an mit dem Reger, direkt im Anschluss ans Studium. Dem Helmut König von Thorofon, der letztes Jahr gestorben ist, habe ich das zu verdanken. Der hatte gesehen, dass es von Reger ganz viel Klaviermusik gibt, die Hälfte davon nie aufgenommen, und ich dachte: Tolle Sache, und bevor ich jetzt auf den Beethovenzyklus warte… So spielt das Leben manchmal, damit war ich die nächsten fünf, sechs Jahre beschäftigt. Dann habe ich Regers Übertragungen der Bach-Orgelwerke auf Klavier auch eingespielt, und die Cellosonaten mit Alban Gerhardt, und das Klavierkonzert. Er ist ein Komponist, der mir ganz schön im Nacken sitzt oder ich ihm…

Wie ist denn Max Reger so als Mitbewohner?

Kühlschrank abschließen! Der Mann ist ein Schatzkästlein für Psychologen, weil es so eine Kongruenz der Maßlosigkeit in seiner Lebensführung und seiner Art zu komponieren gibt. Der hat sich keinen Gefallen getan, die Sachen völlig zu überfrachten. Es ist eine tolle Herausforderung für die Interpreten, das zu lichten und zu versuchen, Transparenz herzustellen, so, dass immer noch diesen großen romantischen Strom hat. Er ist mit 43 gestorben. In der Zeit dieses Riesenœuvre zu schreiben! Es gibt ja kein Sonatinchen, das nicht ganz komplex in der Notation ist. Auch die Stimmführung, da wurde nichts hingedengelt. Allein am Notenbild der Bachvariationen würde ich drei Jahre sitzen. Hast du mal seine Handschriften gesehen? Unwahrscheinlich schön, mit diesen ochsenblutroten Legatobögen. Ein Phänomen, sich die Zeit so zu dehnen, dass man das alles schafft. Das ist unwahrscheinlich, das kapiere ich nicht. Der hat gesoffen wie ein Loch, er war auf Entzug in Meran und hat sich da an der Bude gleich das nächste Pils gezogen. Der konnte nicht anders, wie ein Staubsauger.

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Dieses Maßlose hat dich fasziniert?

Ich habe vielleicht so ein kleines Helfersyndrom, dass ich denke: Wow, da können wir doch was tun als Interpreten. Eine Musik, die nur dann einigermaßen anständig klingt, wenn sie toll gespielt ist. Mit vielen Gedanken und Groove… das ist bei Reger so und bei Hindemith. Wenn der nicht groovt, ist es scheiße. 

Ist auch etwas von Reger in dein Improvisieren reingeraten?

Ich glaube, dass man da viel lernt. Bei ihm vor allem Chromatik und die Weichenstellung über offene Kadenzen und verminderte Dreiklänge, die ganz stark die Fantasie anregt. Und dies harmonische Erkunden bei gleichbleibender Position von Tönen. Er kann ein fis nehmen, das fis bleibt liegen, so gut es geht auf dem Klavier, und drumherum geschieht etwas. Daran habe ich selbst wahnsinnigen Spaß. Nicht nur enharmonisch, sondern auch atonal. Was passiert da jetzt, wie bewegt sich der ruhende Ton? 

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Mit dem Weg von Reger zum Jazz hat dein Klavierprofessor Karl-Heinz Kämmerling vermutlich nicht gerechnet.

Dieser ganze Kämmerling, der weiß gar nicht, was er mir alles geschenkt hat, um es improvisierend weiterzuverwerten! Der hat mir so viel mitgegeben!

In welcher Hinsicht?

Zum Beispiel, dass der Körper von den Fußsohlen über die Schulter in den Arm beteiligt ist an der Klangproduktion, das war damals nicht selbstverständlich, aber bei ihm schon, das konnte er auch vormachen. Er hatte ja mit dreißig aufgehört zu spielen, er war für die Bühne nicht geschaffen. Zu unserem Glück. Aber wenn er sich ans Klavier gesetzt hat – dieses ganz Verbundene mit der Tastatur, dieses ganz körperlich in die Taste reingehen! Behutsamkeit und Zugriff gleichzeitig. Er sah genau: Wo liegt eine Spannung, wo muss eine Entspannung rein. Es gab die berühmten Grundübungen, die fast so eine kleine Gymnastik waren. Die Finger in die Tasten fallen lassen, aber ein kontrolliertes Wohlfühlen, und immer verbunden mit Klang, mit einem runden, irgendwie menschlichen Klang. So eine klangliche Wärme, das hat er sehr gefördert. Und das bringt viel, weil man dann anfängt, sich übers Ohr zu kontrollieren.

Aber Improvisation spielte sicher keine Rolle.

Nein, gar nicht. Entscheidend war, dass alle seine Leute systematisch durch dieselben Stücke gegangen sind, die für ihn grundlegend waren, ob das Beethoven C-Dur Opus zwei Nummer drei oder bestimmte Chopin-Etüden waren, dieses ganz Traditionelle, und jedes Mal wieder ein Bach dazu, also nicht, was machen wir denn heute Buntes. Sondern: Da müssen wir durch.

Und das ist dann auch in deinen Fundus gewandert…

Was ich mache, ist ja keine Abkehr von der sogenannten Klassik. Was das Klassische ausmacht, die Gebundenheit an den Klang, die Linienführung, das Erzählerische, da bilde ich mir ein, dass ich es schaffe, es ins Improvisieren reinfließen zu lassen. Na klar kann ich nicht gegen eine Mozartsonate anstinken! Aber die Idee, aus dem Moment etwas zu erschaffen, so, dass es nicht zerbröselt oder zusammengekrustelt wirkt, da denke ich schon, dass das geschult ist am klassischen Ideal. Nur das es komplett anders funktioniert auch im Zusammenspiel mit dem Publikum: Wir lassen uns jetzt mal auf so eine Reise ein. Das kann vor die Wand fahren. Oder irgendwo anders hin. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.