Eines Tages stellte ich Ligeti eine Frage, die mich schon lange beschäftigte: Ob sein Bedürfnis, ständig künstlerisch Grenzen niederzureißen – auf instrumentaler wie auf musikalisch-sprachlicher Ebene –, von den Traumata aus seiner Jugendzeit herrührte. Seine Antwort war ein klares »Ja«.
Die unerträglichen Qualen, die er während des Zweiten Weltkriegs erlebt hatte – das Verschwinden seines Vaters und die Ermordung seines Bruders, für die er sich ein Leben lang mitschuldig fühlte – prägten ihn und schlugen sich entsprechend in seinem Schaffen nieder. Vor allem aber war es der harte Griff totalitärer Macht, der ihn fortwährend beschäftigte. Ständig hielt er sich auf dem Laufenden über das Weltgeschehen, wieder und wieder war er verzweifelt über die verschiedenen Formen der Tyrannei, die er dort sah. Politik war ein immer wiederkehrendes Thema in Gesprächen mit ihm.
Aus tiefstem Respekt vor der Kunst stellte er höchste Ansprüche – vor allem an sich selbst. Eigene Werke, die dem nicht genügten, landeten im Müll. Aber er verlangte auch viel von seinen Interpret:innen. Für großen Einsatz gab es Lob, Laissez-Faire oder – noch schlimmer – Arroganz wurden nicht toleriert, egal, wie berühmt und erfolgreich der Mensch am Instrument auch sein mochte.
Er wusste immer wieder neu zu überraschen, konnte auf seine provokative Art aber auch grantig wirken. Völlige Unabhängigkeit und der Drang, Bestehendes immer wieder umzuwerfen, zeichneten ihn aus als jemanden, der von den Ereignissen seiner Zeit gebeutelt und zugleich radikaler Avantgardist war.
Als freier und rebellischer Geist ließ er sich nie vom Erfolg einlullen. Selbst bei der Verleihung des wichtigsten Kompositionspreises verzichtete er auf eine Dankesrede und beklagte stattdessen, dass er das Preisgeld erst jetzt bekäme und nicht in den Jahren, in denen er es wirklich gebraucht hätte. Er konnte unverschämt sein, andere in Verlegenheit bringen.
Beeindruckend war sein Wissen, aber mehr noch die Originalität, mit der er alles Akademische, Klischeehafte und Gefällige ablehnte. Als Inbegriff eines Polyglotten und Freigeistes stand er für Neugierde ohne Grenzen und ohne feste Regeln.
Phantasievoll war er ein Leben lang, vor allem im Gespräch. Seinem überbordenden Einfallsreichtum konnte man nicht widerstehen. Sein Charme und seine Aufgeschlossenheit machten ihn liebenswert, kühn und amüsant, neugierig auf alles und jeden, außergewöhnlich warmherzig. Als Freund war er inspirierend, schräg und freigiebig.
Seine Werke interpretieren zu dürfen, war ein einzigartiges Privileg und schwindelerregend intensiv. Die ersten Arbeitssitzungen nach der Entstehung eines neuen Stücks waren besonders aufregend. Der unendliche Reichtum seiner Metaphern, seine unermüdliche, einmalige Suche nach der richtigen Klangwelt und den perfekten Nuancen, die unerwarteten Verbindungen zwischen seinen Ideen und künstlerischen Prozessen: Es war eine erstaunliche Synthese zwischen seinem erstaunlichen Intellekt und seinen außergewöhnlichen Bezugspunkten.
Einmal, am Ende eines Konzerts mit all seinen Études, kam er auf die Bühne, um sich zu verbeugen. Und um eine Zugabe zu verlangen. Zuvor hatte er mir gesagt, ich solle die Zauberlehrling–Étude schneller spielen. Ich fragte, ob ich das Tempo im Konzert richtig getroffen hätte. Er bejahte.
»Aber«, fügte er hinzu, »spiel sie jetzt noch einmal, noch schneller!« Er lebte von den Risiken, die seine Interpretinnen und Interpreten auf der Bühne eingingen. Tatsächlich ist das Risiko in vielen seiner Kompositionen einkomponiert, manchmal auf so extreme Weise, dass es einen aus der Bahn wirft.
Ligeti war ein Meister des Irrsinns, Kühnheit und Exzentrik machte er zur Methode. Er war fasziniert von Mathematik, Astronomie, Musikethnologie, fraktaler Geometrie… Dass er mit den großen Pionierinnen und Pionieren seiner Zeit befreundet war, war die direkte Folge seiner Wissbegierde. Diese prägte seine Welt aus Unsinn, Schwindel, Schizophrenie, Apokalypse und vielen anderen Tugenden seiner Zeit.
Dennoch hielt die Gelehrsamkeit ihn nie davon ab, eine Musik zu erfinden, die in ihrer visuellen Poesie und ihrer gestischen, formalen, rhythmischen und klanglichen Kraft unwiderstehlich war.
Er war die leibhaftige Verkörperung des Künstlers, in reinster Form. ¶