• Swedish Chamber Orchestra, Thomas Dausgaard: Mendelssohn Symphonies 1 & 3 (BIS)
  • Philadelphia Orchestra, Yannick Nézet-Séguin: Florence Price: Symphonies Nos. 1 & 3 (Deutsche Grammophon)
  • Sarah Kirkland Snider, Gallicantus: Mass for the Endangered (New Amsterdam)
  • Sabine Devieilhe, Raphaël Pichon, Pygmalion: Bach & Handel (Erato) 
  • Lise Davidsen, Leif Ove Andsnes: Grieg (Decca)
  • Genova & Dimitrov Piano Duo: Amy Beach: Complete Works for Piano Duo (CPO)

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»In der tiefen Dämmerung gingen wir heut nach dem Palaste, wo Königin Maria gelebt und geliebt hat«, schreibt Felix Mendelssohn seiner Familie im Sommer 1829 von seiner Schottlandreise. »Der Kapelle daneben fehlt nun das Dach. Gras und Efeu wachsen viel darin, und am zerbrochenen Altar wurde Maria zur Königin von Schottland gekrönt. Es ist alles zerbrochen, morsch und der heitere Himmel scheint hinein. Ich glaube, ich habe heute da den Anfang meiner Schottischen Symphonie gefunden.«

Seine dritte Sinfonie sollte Mendelssohn erst 13 Jahre später vollenden – eine Zahl, die perfekt zu diesem düster romantischen Werk, aus dem an allen Ecken und Enden die Vergänglichkeit des irdischen Daseins spricht, passt. Mendelssohn scheute sich schlussendlich doch davor, die Sinfonie als »Schottische« zu vermarkten, aber von dem Namen war, einmal in die Welt gesetzt, nicht mehr loszukommen. Wer sieht hier beim Hören nicht sofort eine wüste Landschaft, in der sich die Natur Schritt für Schritt Ländereien, Ruinen und verlassene Altäre zurückerobert?

Für einige Kritiker:innen klingt die Sinfonie mit all ihren Anspielungen etwas überladen. Hier gilt es, den richtigen Rahmen und Raum zu schaffen, wie zum Beispiel Pablo Heras-Casado mit dem Freiburger Barockorchester für Harmonia Mundi (2016, zusammen mit der »italienischen« vierten Sinfonie Mendelssohns). Ihre Dritte ist ein kleines sprudelndes Wunder aus Farbe und Textur, das mit Leerstellen und Dynamik spielt und so eine maximal frische Interpretation schafft. Das genaue Gegenteil wagen jetzt Thomas Dausgaard und das Swedish Chamber Orchestra. Sie stellen der spritzigen Sommerfrische des Freiburger Barockorchesters eine dunkle, winterliche Gravität entgegen. Dausgaard und das SCO interpretieren die Partitur wie Gerhard Richter sie malen würde: Jeder Pinselstrich ist eine andere Schattierung in grau, aber all diese Abstufungen von Dunkelheit schaffen zusammen einen fotorealistischen Effekt voller Tiefe und Ausdruck.

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Besonders sticht in diesem Vergleich der vierte Satz in seiner oft belächelten Dramatik hervor. Zuweilen ist dieser schon als viktorianischer Overkill in Verruf geraten, Dausgaard scheint ihn aber wie der Musikwissenschaftler Peter Mercer-Taylor im Kontext der Entstehung der Dritten zu verstehen: 1827, also zwei Jahre, bevor Mendelssohn mit den ersten Skizzen beginnt, starb Beethoven. Fünf Jahre später folgte der Tod seines zweiten künstlerischen Vorbilds, Goethe. Laut Mercer-Taylor war Mendelssohn einer der vielen Künstler:innen, die quer durch alle Gattungen und Kunstformen das Gefühl zum Ausdruck brachten, dem Vergleich mit den Errungenschaften ihrer Vorgänger nicht standhalten zu können. Bei der Frage, was als nächstes kommen sollte, blickten sie nur ins Leere. Auf diese Last scheint Mendelssohn in seiner Dritten anzuspielen. Am Ende steht bei ihm die Möglichkeit des Neuanfangs – als Ende einer Ära. 

Wie Mendelssohn wuchs auch Florence Price in einer musikalischen Welt auf, in der die künstlerisch berauschende Atmosphäre der Black Chicago Renaissance auf die Second New England School und die Suche nach einem »amerikanischen« klassischen Klang traf. Price hatte in Boston beim Komponisten und Second New England School-Anhänger George Whitefield Chadwick studiert (der wiederum von Carl Reinecke, einem Schüler Mendelssohns, ausgebildet worden war). Umgeben von weiteren Schwarzen Komponisten und Komponistinnen (zu ihrer Zeit bemerkenswert!) trug sie ihren Teil zum Klang einer neuen Epoche bei. Ihre erste Sinfonie stößt die Hörenden, ähnlich wie der Beginn von Mendelssohns Violinkonzert, mitten in eine musikalische Welt hinein, fast als würde man sich plötzlich in ein intensives Gespräch einklinken. Eine von einem treibenden Rhythmus unterlegte Fagottmelodie und Einwürfe aus dem Orchester umkreisen sich immer wieder, bis sie sich zu einem triumphalen Tutti vereinigen. Diese Sinfonie ist wie Mendelssohns »Schottische« erfüllt von unterschiedlichen Stimmungen, hat aber einen Drive wie Janáčeks Ouvertüre zu Die Sache Makropulos.

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Mit ihrer neuen Einspielung von Prices erster und dritter Sinfonie stürzen sich Yannick Nézet-Séguin und das Philadelphia Orchestra in den Strom der Musik, von der betörenden Alchemie des ersten bis zur überbordenden Fröhlichkeit des dritten Satzes, der das romantische Terrain in Richtung afroamerikanischer Juba-Rhythmen verlässt, die Coplands Hoe-Down bieder und behäbig erscheinen lassen. Einer ähnlichen Struktur folgt auch Prices dritte Sinfonie, die ihre Existenz einem Auftrag des Federal Music Project der WPA verdankt und die sechs Jahre nach der ersten uraufgeführt wurde. Man merkt, wie sich im Laufe der Zeit Prices musikalische Einflüsse und Bezugspunkte immer mehr zu etwas unverkennbar eigenem verbinden. Der erste Satz klingt zum Teil wie aus dem Jenseits herübergeweht, fächert sich dann aber auf in eine Reihe von Panoramen, die an John Ford erinnern: weite Landschaften aus Sandstein und Himmel mit schroffen Momente des Erhabenen.

Nézet-Séguin ist als Dirigent wie geschaffen für Sinfonien wie die von Price. Er hat ein Auge sowohl für die großen Totalen als auch die feinen Detailaufnahmen, die man erst beim mehrmaligen Hören wirklich entdeckt – eine Mischung aus Ford und Hitchcock. Prices Partituren sind so üppig, dass eine Einspielung schnell ins Überladene kippen könnte, aber Nézet-Séguin ist trotz oder gerade wegen seines Status als Superstar in der Lage, nicht selbstverliebt im eigenen Klang zu schwelgen, sondern dem Überschwang solcher Werke auf eine ganz natürlich wirkende Art gerecht zu werden. 

Die ersten Sätze der Price-Sinfonien lassen mich an Sarah Kirkland Snider denken, die mit Mass for the Endangered die katholische Messe aus ihrem alten Zusammenhang löst und in den Kontext der Klimakrise stellt. »Die Messe hat ihre Wurzeln in der Sorge der Menschheit um sich selbst, die sich in der Anbetung des Göttlichen ausdrückt«, schreibt Snider. »In der katholischen Tradition ist das ein Gott nach dem Bild des Menschen.« Snider und der Librettist Nathaniel Bellows übertragen dieses Gefühl der Sorge und Kontemplation auf das nicht-menschliche Leben und richten ihre Bitten an die Natur selbst.

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Sniders Musik, die immer etwas übersinnlich und ätherisch wirkt, spürt hier den vier Elementen nach, sowohl abwechselnd im Verlauf der Messe als auch mehreren auf einmal in einem Abschnitt. Das Gloria beginnt mit einer Chorpassage, die sich flirrend ausbreitet wie das Wasser eines Sees, wenn man einen Stein hineinwirft. Bald übernimmt ein Männerchor, der viel erdiger klingt, und genauso leidgeplagt wirkt wie Schuberts Wanderer. Das Auf- und Abschwellen der Streicher zu Beginn des anschließenden Halleluja flackert wie eine Kerze, die darum kämpft, nicht zu erlöschen. 

Immer wieder hören muss ich das Sanctus-Benedictus, bei dem Sniders Vokaltexturen am deutlichsten zwischen Kirchlichem und Irdischem schwanken. An manchen Stellen fühlt man sich wie auf einem Weg, der schon seit Jahrhunderten beschritten wird – wie in Brittens Chorwerken, die von den Traditionen aus der Zeit Maria Stuarts geprägt sind, oder wie in den Chorpassagen in Mendelssohns Paulus. Aber noch deutlicher wird beim erneuten Hören die Verbindung zwischen Snider und Price, die beide zeitweise mit demselben amerikanischen Musikvokabular arbeiten. Es erweckt gleichermaßen Gefühle von vertrautem Terrain und undurchdringlichem Zwielicht. Und damit einen Ort, an dem man Stille findet. Oder einen neuen Anfang. 

Im Laufe der letzten Jahre wurde pandemiebedingt wieder und wieder empfohlen, an der eigenen Resilienz zu arbeiten. Die New York Times verkündete dazu kürzlich: »Die gute Nachricht ist, dass sowohl die Resilienz als auch die Fähigkeit, an Problemen zu wachsen, erlernt werden können, sowohl in guten Zeiten als auch mitten in der Krise.« Alles, was man dazu brauche, sei Optimismus und positives Denken. Während ich an einem trüben Dienstagmorgen versuche, den Teppich vom jüngsten Malheur meines Hundes (er hat Durchfall) zu reinigen, denke ich stattdessen an John Eliot Gardiner und was er über Bach schrieb:

»Ich sehe keine Notwendigkeit, Bach in einem schmeichelhaften Licht erscheinen zu lassen oder die Augen vor möglichen Schattenseiten zu verschließen. (…) Diese Autoren unterschätzen die psychischen Folgen, die weniger sein unermüdlicher Einsatz als das lebenslange Buckeln vor ihm intellektuell Unterlegenen auf sein Gemüt und Wohlbefinden gehabt haben muss.«

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Sabine Devieilhes neue Bacheinspielung hat etwas Rohes an sich, das gut zu Gardiners ungeschöntem Blick auf den Komponisten passt. Devieilhe beginnt mit dem Choral Mein Jesu! was vor Seelenweh und damit den Qualen, die Jesus in Gethsemane erduldet. Dieses Stück wirkt wie ein Gegenmittel zur allgemeinen Empörungsspirale auf Social Media. Die Musik ist nachdenklich, Devieilhes Vortrag wie ein Kaleidoskop in Bewegung, manchmal kaum mehr als das Echo eines Flüstern. Im folgenden Mein Herze schwimmt im Blut schlüpft Devieilhe in die Rolle einer Sünderin, deren Herz »in Blut schwimmt«, während sie mit langsamen, kleinschrittig und voller Klage die eigenen Fehler analysiert. Unter der musikalischen Leitung von Raphaël Pichon lenkt das Ensemble Pygmalion die Aufmerksamkeit auf die Bewegungen im Schatten und lässt die feinen Nuancen und vielschichtigen Dimensionen in Devieilhes schimmerndem Sopran da hervortreten, wo sonst oft nur flaches Relief gesehen wird. 

Devieilhe kombiniert diese Werke mit Geistlichem und Weltlichem von Händel, der Brockes-Passion und Julius Cäsar. Bei Kleopatras Arien wirkt Devieilhes Stimme wie elektrisiert, es ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei wie Bachs Sünderin, nur in Neonfarben. Kleopatras gibt sich Cäsar hin wie die treue Seele Gott in der Brockes-Passion. In beiden Fällen erscheint das Begehren als ein Überschuss an Energie, die jedoch wie bei einem Laser gebündelt und so von Geräusch zu Klang wird.

»Künstler wie Bach und Beethoven errichteten ganze Kirchen und Tempel«, witzelte Edvard Grieg  einmal. »Ich wollte nur Behausungen schaffen für Menschen, in denen sie sich glücklich und heimelig fühlen können.« Und auf diesen Zweck hin scheint auch sein Liederzyklus Haugtussa nach der gleichnamigen Dichtung seines Landsmanns Arne Garborg gestaltet zu sein. Die Heldin, das Bergmädchen Veslemøy, pflückt gerne Blaubeeren und redet mit Bären.

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Aber sie hat etwas Mystisches an sich: Ihre Augen sehen in eine andere Welt. Und so schwankt auch Griegs Liederzyklus zwischen dahinplätschernden Glissandi und esoterisch wirkenden Moll-Akkorden, die sich in Miniaturidyllen auflösen. Eine neue Aufnahme von Haugtussa bildet das Herzstück des Albums Grieg (Decca). Pianist Leif Ove Andsnes klingt hier, als würde er auf hoher See Ravels Schiff entern, während das, was Sopranistin Lise Davidsen singt, mehr an Senta als an Solveig denken lässt: »Oh, wenn du den Traum und das Lied kennst, wirst du die Noten verstecken wollen.«

Das Treffen zwischen Veslemøy und ihrem Liebsten in der Mitte des Zyklus ist berauschend und benebelnd, verweilt in leiser Freude und webt Girlanden aus Verlangen. Es ist allerdings schnell klar, dass all das kein gutes Ende nimmt. Griegs Musik nimmt keine verschlungenen Pfade, sie führt uns einfach von einem Raum zum nächsten, bis Veslemøys schließlich verlassen wird und stirbt, und Davidsen und Andsnes führen die Architektur des Werkes gewissenhaft aus. 

Noch romantischer geht es in Amy Beachs Klavierwerken zu. So romantisch, dass ein Rezensent der Berliner Volkszeitung monierte: »Ihre Abhängigkeit von Schumann und Brahms ist unverkennbar, was eine Schwäche ist, für die der weibliche Charakter Grund und Entschuldigung liefert.« Einen Hauch von Brahms spürt man tatsächlich durch Beachs Variations on Balkan Themes wehen, der vertraute Klang der Spätromantik vermischt sich hier mit traditioneller Musik wie in Brahms’ Ungarischen Tänzen. Beach bezieht aber mit irischen und gälischen Melodien zudem den eigenen kulturellen Hintergrund in ihr Komponieren mit ein. Auch diese sind neben den Balkan Themes in der neuen Einspielung sämtlicher Werke Beachs für Klavierduo durch die in Bulgarien geborenen deutschen Pianist:innen Aglika Genova und Liuben Dimitrov zu hören.

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Die Balkan Themes hatte Beach 1904 und ursprünglich für Klavier solo komponiert, in einer Zeit also, in der man auf dem Gebiet, das später als Jugoslawien bekannt werden sollte, für die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich kämpfte. Fasziniert hatten die Komponistin die eindringlichen Melodien, aus denen die »eigentümliche Schönheit und das Pathos von Legenden aus den Bergen« spreche. Die Authentizität dieser Volkslieder ist umstritten. Beach lernte sie von einem protestantischen Missionar, der in der Region gearbeitet hatte, bevor er nach Neuengland zurückkehrte. Ein Anthropologe stellte später fest, dass sich hier einige künstlerische Freiheiten genommen wurden. Man kann Beach als Komponistin feiern, deren Werk wegen ihres Geschlechts zu unrecht geringgeschätzt wurde und wird, und muss sich gleichzeitig damit auseinandersetzen, dass bestimmte Privilegien Beachs, zum Beispiel ihre Nationalität und Klasse, ihr Schaffen prägen.

Aus Beachs Variationen spricht die Faszination für die Klänge selbst und eine aufrichtige Begeisterung für den Balkan. Es ist schwer, die romantische Sehnsucht, die Beachs Werken innewohnt, dominierende Themen wie Verlust und Brüche, nicht zu hören, besonders in der Aufnahme von Genova und Dimitrov. Beach hat die Variationen erst 1942 für vier Hände arrangiert. Sie schafft so einen rückwärtsgerichteten Austausch zwischen den Epochen – und zeigt die Geschichte selbst als eine der wiederkehrenden Themen und Variationen. ¶

… berichtet über Musik und Kunst für Paper, die Washington Post, NPR, Gramophone und andere. Sie war Teil der Redaktion bei Time Out New York und WQXR/Q2 Music. Auf der Bühne der Brooklyn Academy of Music konnte man ihre Texte auch schon hören – beim Next Wave Festival. Seit 2020 ist sie festes Mitglied der VAN Redaktion. olivia@van-verlag.com