Durch den Vorhang I: Aha-Erlebnisse

Mein erster Lutosławski war ein Aha-Erlebnis: Ich hatte gerade begonnen, gelegentlich in Konzerte mit sogenannter moderner Musik zu gehen – ohne musikwissenschaftliches Spezialwissen, ohne kultische Verehrung dieses großen N in Neuer Musik. Nur mit offenen Ohren. Konversation mit der Musik statt Konversion. Einfach zuhören. Aber leichter gesagt als geschafft. Ich hörte öfter Nachkriegs-Avantgarde, sozusagen Donaueschinger Barock und Darmstädter Klassik, Serialistisches, Durchdeterminiertes. Boulez, Stockhausen, Nono, die berühmten Namen halt. Doch meine Ohren blieben oft verschlossen.

Dann geriet ich bei einem Kammermusikabend, zwischen Haydn und Beethoven, an Witold Lutosławskis Streichquartett. Und diese Musik riss mich unmittelbar mit, so direkt, wie ich es mir nicht hatte vorstellen können. Sie klang komplex, aber ich hatte das Gefühl, dass ich ihr einfach folgen konnte. Und mehr noch: dass ich ihr folgen wollte. Nicht obwohl, sondern weil sie komplex schien. Das Prinzip Spannung/Entspannung ließ sich leicht fassen, es war ja körperlich spürbar. Die vier Streicher sammelten sich anfangs immer wieder auf demselben Ton in verschiedenen Höhen (einem C, wie ich später las), bevor sie von neuem in verschiedene Richtungen losflirrten, sausten, sangen. Um dann auf das verabredete Signal hin alles abzubrechen und sich wieder zu treffen. Ein Spiel, so nervös wie kompakt.

YouTube video

Erst dachte ich, der Komponist hat eine Meise. Dann verschlug es mir den Atem, weil ich‘s so großartig fand. Diese Musik, komponiert in weiter Ferne so nah, nämlich in der Volksrepublik Polen anno 1964, hinter dem Eisernen Vorhang: Sie drang spielerisch leicht durch den Eisernen Vorhang meines Nichtwissens.

Später lernte ich, neugierig geworden, mehr über ihre Formprinzipien. Ich erfuhr einiges über mobile Klangfelder und begrenzte Aleatorik, das kontrollierte Spiel mit dem Zufall: dass den Musikern Abschnitt für Abschnitt vorgeschrieben ist, was sie spielen müssen, aber freisteht, wie sie es spielen. Aber die Musik hatte mich infiziert, ohne dass ich etwas von ihren Formprinzipien gewusst hatte. Lutosławski kam mir vor wie ein fremder Nachbar, der sich als enger Verwandter herausstellt.

Und ich las später auch: Lutosławski hatte ebenfalls ein Aha-Erlebnis gehabt – bevor er das Streichquartett komponierte. 47 Jahre war er schon alt, als er 1960 im Radio Musik des amerikanischen Avantgarde-Zauberclowns John Cage hörte, die sein musikalisches Denken umkrempelte. Musik, in der zum Beispiel einfach gewürfelt wurde statt nach »wissenschaftlichen« Methoden Reihen rauf und runter zu basteln. Die Swinging Sixties der Avantgarde.


Durch den Vorhang II: Naja-Erlebnisse

Ich hielt die Augen auf nach Lutosławski in Konzertprogrammen. Hier und da wurde ich fündig, aber nicht sehr häufig. In letzter Zeit scheint es etwas mehr geworden, und das ist auch höchste Zeit: 24 Jahre nach Lutosławskis Tod in Warschau, fünf Jahre nach dem Jubiläum seines 100. Geburtstags (das hoffentlich keine Strohfeier bleibt). Das Streichquartett taucht immer wieder mal zwischen Wiener Klassikern auf. Dem Cellokonzert verhalfen Rostropowitsch und andere Meister zu einer gewissen Präsenz. Dirigenten wie Esa-Pekka Salonen in den USA oder Simon Rattle halfen der Kenntnisnahme von Lutosławski auf die Sprünge. Doch insgesamt scheint Lutosławskis Rezeption im Westen eher zögerlich verlaufen zu sein. Ein Nachbar, der fremd blieb.

Vielleicht lag das ja daran, dass Lutosławski, obwohl immer auf der Suche nach neuen Wegen, sich stets von allen »Schulen« fernhielt. Ist das eine Herkunftssache? Wer sich im Osten freidachte, der mochte auch sonst kein Parteigänger sein und musste sich (bei allem musikalischen Interesse) von den dogmatischen, ja totalitären Tendenzen der 50er-Jahre-Avantgarde à la Darmstadt geradezu abgestoßen fühlen. Ähnelt Lutosławski darin nicht György Ligeti?

Und kam es vielleicht von dieser skrupulösen Bindungsscheu, dass Lutosławski sich als Mann von 47 Jahren einfach so neu erfinden konnte? Eine Neuerfindung, die mich sehr faszinierte, als ich lernte Lutosławski zu lieben.


Scheherazade studiert Mathematik

Allerdings muss man mit dem Etikett der Neuerfindung vorsichtig sein. Denn es teilt Lutosławskis Schaffen mit allzu grobem Schnitt in zwei Hälften, in ein Davor und Danach. Die Wirklichkeit ist komplexer.

Außerdem war der Lutosławski des Jahres 1960 alles andere als ein Provinz-Niemand. Auch vor dem Cage-Erlebnis hatte er hinter dem Eisernen Vorhang, durch den Vorhang hindurch seine westliche Avantgarde-Nachbarschaft rezipiert. Er war Stammgast beim Festival Warschauer Herbst, der seit dem Tauwetterjahr 1956 existierenden Antwort des Warschauer Paktes auf Darmstadt und Donaueschingen (Alex Ross). Und er hatte seit Beginn der 1930er Jahre schon ein bedeutendes Œuvre geschaffen, beeinflusst von Bartók und Strawinsky, aber alles andere als epigonal. Herausragend sind sicherlich das vor Witz, Energie und Spielfreude funkelnde Konzert für Orchester (1950–54) und die erschütternde Trauermusik für Streichorchester (1954–58).

YouTube video

Nahezu unbekannt sind dagegen die Werke der 30er Jahre oder auch die Mała suita (Kleine Suite), die 1951 entstand, also noch in finsterster stalinistischer Polarnacht. Die musikalische Herzwärme, die der Kunst da das Überleben ermöglichte, stammt aus der Verbindung von Volkstümlichkeit und Experimentierlust: Lutosławski ließ die traditionellen Melodien aus der polnischen Region Rzeszów unverändert, setzte sie aber in verblüffende harmonische Zusammenhänge. Das ist hochmusikantisch und hat doch was von existenziellem Verschleierungstanz.

YouTube video

Am Anfang aber stand, wenn man so will, Rimsky-Korsakow. Denn dessen Schüler war Witold Maliszewski, bei dem der 15jährige Lutosławski im Jahr 1928 Komposition zu studieren begann. Daneben immatrikulierte er sich auch für Mathematik. Und diese beiden Bezüge kennzeichnen auch sein Werk: ungeheure Klangsinnlichkeit einerseits, andererseits Denken in Proportionen und Strukturen. Kopflastig klingt das nie.


Hinter dem Vorhang: Polnische Gegenwarten?

Ist Lutosławskis Werdegang auch ein Spiegelbild der polnischen Geschichte, wie es einige Interpreten sehen? Die Geschichte seiner hochintellektuellen Familie könnte exemplarisch für das Schicksal des polnischen Bürgertums im schrecklichen 20. Jahrhundert stehen. Diese Familie war weltläufig wie der Onkel Wincenty, der als Philosoph seinen katholischen Platonismus an europäischen Universitäten von der Seine bis an die Wolga lehrte und mit der pazifistischen spanischen Schriftstellerin Sofia Casanova verheiratet war. Sie war freiheitsliebend bis zum Tod wie der Vater Jozef, ein Grundbesitzer und polnischer Patriot, den die Bolschewisten 1918 vor den Toren Moskaus als Konterrevolutionär hinrichteten. Und sie war musikalisch wie die Mutter Maria, die als eine der ersten polnischen Frauen studierte und nach dem Tod ihres Mannes allein blieb mit dem fünfjährigen Witold und seinen beiden älteren Brüdern. Einer der Brüder fiel im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen die Deutschen. Eine ganz normale, entsetzliche Familiengeschichte im 20. Jahrhundert: typisch Polen.

Witold, der schon als Komponist hervorgetreten war, schlug sich in der Zeit der Besatzung als Cafépianist durch, gemeinsam mit dem etwa gleichaltrigen Andrzej Panufnik (der in der kommenden Saison ebenfalls in der Elbphilharmonie zu hören sein wird). In dieser Zeit entstand neben hunderten Arrangements die Originalkomposition der Paganini-Variationen für Klavier zu vier Händen. Die 1978 entstandene Überarbeitung für Klavier und Orchester gleicht zwar einer Neukomposition, zeigt aber auch die Verbindungslinien, die sich über Jahrzehnte hinweg durch Lutosławskis Schaffen ziehen – allen Brüchen und Neuerfindungen zum Trotz. Und nicht zuletzt steht die Geschichte der Paganini-Variationen für die ungeheure Geduld, mit der Lutosławski Ideen entfaltete. Nicht nur in seiner Komponistenlaufbahn, sondern in jedem einzelnen Werk, so komprimiert und dicht es sein mag.

Aber kann man die bewegten bis katastrophalen polnischen Gegenwarten auch aus Lutosławskis Musik heraushören? Hineinhören kann man sie zweifellos. In der 3. Sinfonie, die von 1972 bis 83 entstand, schwirren die individuellen Orchesterstimmen nervös herum, organisieren sich, werden immer wieder von vier lauten Schlägen unterbrochen und in neue Getümmel geschickt, bis das ausgebreitete Material in eine gewaltige Klangbewegung explodiert. Diese vier Schläge sind ein Start- und Stoppzeichen, ähnlich der Funktion des C’s im Streichquartett; aber hier ist das Signal zugleich zum sinfonischen Baustein geworden, das nicht von ungefähr an die Schläge in Beethovens Fünfter erinnert. Aber ohne Terz. Man kann darin eine originelle Auseinandersetzung mit der Sonatenform hören – oder eben auch den heroischen Aufruhr der polnischen Werftarbeiter assoziieren, dem die Machthaber 1981 mit der Verhängung des Kriegszustandes begegneten.

YouTube video

Aber solche Interpretationen sind alles andere als zwingend und schon gar keine Gleichungen. Man sollte nicht vorschnell Mstislaw Rostropowitsch glauben, der 1970 Lutosławskis Cellokonzert uraufführte: Er zog eine direkte Linie vom irrwitzigen Ringen des Solo-Instruments mit dem Orchester zum Ringen des Einzelnen mit dem totalitären Staat. Lutosławski hat dem nicht widersprochen. Aber geht diese Gleichung nicht allzu glatt auf? Lutosławski ist nicht Schostakowitsch.


Charakterzüge

Vielleicht können ein paar konkretere Merkmale dem Lutosławski-Hören auf die Sprünge helfen. Was mir bei Lutosławski in den Hörsinn kommt:

Witz

YouTube video

Rostropowitsch würde mich vielleicht ohrfeigen, aber als ich Lutosławskis Cellokonzert zum ersten Mal hörte, musste ich viel lachen. Wenn nach fast vier Minuten erst tapsender, dann expressiver, virtuoser Cello-Aerobic völlig überraschend die Trompeten reinplärren – ist das etwa nicht schreiend komisch? Natürlich ist das eine Konfrontation von Soloinstrument und Kollektiv, aber die Zusammenstöße knallen cartoonesk. Konzertieren wie bei Tex Avery (nicht Walt Disney). Und das ist eben auch typisch für Lutosławski: Seine unorthodoxen Klangorganisationen führen immer wieder zu grotesken, herrlich witzigen Effekten. Wie diese C-Stopps im Streichquartett.

Schrecks und Schrecken

Klar aber auch, dass man sich bei Lutosławski immer wieder am eigenen Lachen verschluckt. Da muss man nicht gleich an die Nazis oder Stalin oder das Kriegsrecht denken. Lutosławskis Musik wimmelt von abrupten Wendungen und Überraschungen, dass man einen Heidenschreck bekommt. Aber passiert einem das bei Haydn nicht auch manchmal?

Was einem freilich bei Haydn nicht zustößt, ist, dass der Schreck zum Schrecken wird, der sich flächig ausbreitet: wenn einem die irisierenden Klangwelten sinister vorkommen, wenn man keinen festen Boden unter den Füßen mehr spürt.

Zärtlichkeit

YouTube video

Doch immer wieder ist da dieser eminente Klangsinn: »Folkloristisch« wirken die Farben in vielen früheren Werken, in den späteren dagegen kaleidoskopisch, immer wieder neu, niemals fixierbar. Selbst im Cellokonzert schmiegen sich ja Soloinstrument und Orchester auch einmal in atemberaubender Schönheit ineinander. Als wärs Dvořák.  Umso kräftiger freilich der Schreck, der dann folgt. Oder der Schrecken, der sich ausbreitet. Oder das Lachen.

Aber die Zärtlichkeit kann auch triumphieren. Während in Lutosławskis Dritter das Knallquadrupel formbildend wirkt, zeichnet sich die von 1988–92 entstandene 4. Sinfonie durch einen weichen Grundpuls aus. Es gibt melodische Linien, die das Ohr mit Freude wiedererkennt und denen es sich hingibt: vor allem jenem ornamentalen, geradezu hypnotischen Ohrwurm, der glatt was von Mahler hat. Und wenn man daran denkt, dass Lutosławski ein Jahr und zwei Tage nach der Uraufführung seiner Vierten starb, wird einem noch viel mahlerischer zumute.

Spiel

YouTube video

Vielleicht sind das alles Seiten einer Medaille, die noch viel mehr Seiten hat. Sie ist nämlich polygonal – der Würfel, den die Aleatorik wirft: Alles ist Spiel und Form, Formenspiel. Aber kein l’art pour l’art. Das Spiel bringt eben auch Witz hervor, Schrecks und Schrecken, Zärtlichkeit und Melos – große Gefühle. Es ist kein Zufall, dass der Begriff des Spiels im ersten Werk auftaucht, in dem Lutosławski seine Ideen vom kontrollierten Zufall erprobte, nachdem er Radio gehört hatte: den 1960/61 entstandenen Jeux vénitiens (Venezianischen Spielen). Wenn Lutosławski zu Beginn seiner oft zweiteiligen, hochexpressiven Werke in fast enervierender Geduld sein Material ausbreitet, erprobt, verzögert, erinnert er an ein Kind, das in heiligem Ernst sein Spiel vorbereitet.

Moment

Das Spiel lebt nur im Moment, in dem es gespielt wird: Das gilt auch für Lutosławskis Musik. Seine Werke existieren nur in ihrer Aufführung. Das gilt bei ihm mehr als bei anderen Komponisten und natürlich besonders für jene Stücke, in denen der gelenkte Zufall eine tragende Rolle spielt. Sie klingen notwendig jedesmal ganz anders, über Interpretationsfragen hinaus. Solche Musik aufzuzeichnen ist eigentlich ein Widerspruch in sich. (Aber natürlich ist Mehrfachhören der Schlüssel, um unbekannte Musik kennen und lieben zu lernen. Bereitet man sich auf ein Lutosławski-Konzert vor, sollte man zur Vorbereitung besser nicht dreimal dieselbe Aufnahme hören, sondern drei verschiedene Aufnahmen. Kein Problem im gesegneten Youtube-Zeitalter!)


Den Vorhang beiseite

Zeit also, Lutosławski lieben zu lernen. Und allerhöchste Zeit, ihn vom Etikett der neuen oder gar Neuen Musik zu befreien. Was für eine seltsame Gegenwart: Man stelle sich vor, Schuberts Zeitgenossen hätten 50 Jahre alte Werke von Carl Philipp Emanuel Bach als neue Musik rezipiert. Die würden uns einen Vogel zeigen. Haben wir Hörer eine Meise oder der Musikbetrieb?

Lutosławskis Musik zu hören erfordert jedenfalls, finde ich, keine wissenschaftliche Vorbildung, nur die Bereitschaft zum Mitgehen und Nachvollziehen. Liebe zum Klang und Freude am Spiel. Lutosławski ist ein Aha-Erlebnis-Hexer, ein perfekter Türöffner zur neuen Musik, ein Vorhang-beiseite-Schieber. Ein Klassiker in unserer Nachbarschaft. ¶


Dieser Beitrag erschien zuerst im Elbphilharmonie Magazin.

...lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: Fliegen (2019) und Beethovn (2020). Und führt nebenher das Blog Hundert11 – Konzertgänger in Berlin. … lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Fliegen‹ und ›Beethovn‹. Zuletzt erschien ›Luyánta – Das Jahr in der Unselben Welt‹. Nebenher führt Selge das Blog Hundert11 – Konzertgänger in Berlin.