Europäische und nordamerikanische Opern- und Konzerthäuser, Festivals und Orchester haben die Zusammenarbeit mit Valery Gergiev und Anna Netrebko beendet, weil der eine sich nicht und die andere sich nicht deutlich genug von dem russischen Einmarsch in die Ukraine sowie vom Oberbefehlshaber Wladimir Putin distanzierten. Russische Medien reagieren empört und verweisen auf andere aktuelle Fälle von sogenannter »Cancel Culture« gegen Russen. 

Zwei Tage nach dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine meldete sich die Sopranistin Anna Netrebko auf Instagram und Facebook zu Wort. Sie sei gegen diesen Krieg, und die Leiden ihrer ukrainischen Freunde würden ihr das Herz brechen. Sie finde es jedoch nicht richtig, »Künstler und Personen des  öffentlichen Lebens zu zwingen, ihre politische Meinung öffentlich zu äußern und ihre Heimat an den Pranger zu stellen«. Parallel teilten viele Menschen in Russland ein Video aus dem Jahr 2001: Der Schauspieler und Regisseur Sergei Bodrow (2002 auf tragische Weise bei einem Filmdreh  in Nordossetien ums Leben gekommen), der wegen der Kultfilme Brat (Bruder) und Brat 2 über die wilden 1990er Jahre immer noch als Kulturheld des jungen Russlands gefeiert wird, äußert sich darin wie folgt zum Tschetschenienkrieg: »Während des Krieges sollte man über Landsleute nicht schlecht sprechen. Nie. Auch wenn sie falsch liegen. Auch wenn dein Land im Krieg Unrecht hat, darfst du es nicht schlecht reden. […] Wenn kein Krieg mehr droht, wenn der Krieg vorbei ist, dann kann man ja sagen: ›Dieses und jenes war nicht richtig. Versuchen wir sicherzustellen, dass das in Zukunft nicht mehr passiert.‹« 2001 befand sich Russland im Zweiten Tschetschenienkrieg, dessen Auslöser und Hintergrund grundlegend anders ist als beim jetzigen Angriff auf die Ukraine. Trotzdem glauben viele in Russland, dieses Bodrow-Prinzip würde heute auch für den Ukraine-Krieg gelten.

Ob Netrebko, die ihre südrussische Herkunft gerne und oft betont, ähnlich tickt? Was viele nicht wissen: Einige Stunden nach ihrem ersten Post entschuldigte sich Netrebko in einer Instagram-Story auf Russisch bei ihren Landsleuten für diese Stellungnahme und suggerierte, dass sie keine andere Wahl gehabt hätte. Noch später löschte sie alle Statements auf Instagram und beschränkte den Zugang zu ihrem Account. Von Gergiev kam auch in Russland nach wie vor kein Wort. 

Anna Netrebkos Instagram-Posts vom Februar 2022 nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Die Beiträge wurden inzwischen gelöscht, und Netrebko hat ihr Konto auf »privat« geschaltet.

»Der Westen ›cancelt‹ die russische Kultur«, schrieb eine Kolumnistin der größten russischen staatlich finanzierten Nachrichtenagentur RIA Novosti zur Entscheidung der Bayerischen Staatsoper, auf die Zusammenarbeit mit Gergiev und Netrebko zu verzichten, sowie zum Rauswurf Gergievs bei den Münchner Philharmonikern. Der Tenor: Schaut, die wollen uns nicht nur wirtschaftlich und politisch »canceln«, sondern auch kulturell! »Europa wird ohne seine besten Musiker und Sportler dastehen«, lautete eine weitere Überschrift bei RIA. In diesem Text wird die Nähe Gergievs und Netrebkos zu Putin nicht angesprochen, während in der Kolumne eine Distanzierung von Putin quasi mit dem Verrat der »Heimat« gleichgesetzt wird. Man habe Gergiev aufgefordert, seiner »Heimat öffentlich abzuschwören«, empört sich die Autorin. 

Das ist doch Quatsch, würde sich ein EU-Bürger dazu denken. Dieser Quatsch wird in den staatlichen russischen Medien jedoch untermauert mit anderen, zum Teil auch fragwürdigeren Entscheidungen, die zusätzlich zu den offiziellen EU-Sanktionen in den letzten zwei Wochen getroffen wurden, offenbar unabhängig davon, wie die Betroffenen zum Krieg und Putin persönlich stehen. Covent Garden sagte zum Beispiel die Sommertournee des Bolschoi-Theaters ab, Russland wurde vom Eurovision Song Contest und den Paralympics ausgeschlossen, das Filmfestival in Cannes lud die russische Delegation aus. Ein angebliches Statement der Bundesregierung gegenüber Science|Business wird von RIA Novosti zitiert: Deutsche Wissenschaftseinrichtungen würden alle Projekte mit Russland in Wissenschaft, Forschung und Lehre beenden. 

Falls der Grundgedanke war, mit diesen Sanktionen die Menschen in Russland auf das völkerrechtswidrige Handeln ihres Präsidenten aufmerksam zu machen, so ist das nicht geglückt, im Gegenteil. Bei vielen Kommentatoren unter den Artikeln sorgen diese Entscheidungen für auffällig viel Hass. Einige scheinen sich nur noch mehr über den »bösen Westen« aufzuregen. Natürlich werden die diskussionswürdigen Fälle von den Medien in aller Breite erläutert und hinterfragt. Die Namen Gergiev und Netrebko kommen dabei nur als Sahnehäubchen vor. »Wir waren auf Sanktionen gefasst«, wird Außenminister Lawrow zitiert, man habe aber nicht damit gerechnet, dass auch Sportler, Kulturschaffende, Schauspieler und Journalisten darunter fallen würden. 

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Vor diesem Hintergrund echauffieren sich auch die staatlichen Medien deutlich vernehmbar über »den Westen«. Die zweitgrößte staatliche Nachrichtenagentur TASS zitierte die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, die die Forderungen des Münchner Oberbürgermeisters und der Leitung der La Scala an Gergiev, sich von der russischen Politik zu distanzieren, als »unerhörte«, »unmenschliche Diskriminierungskampagne« abtat. Es werde gerade alles »gecancelt«, beklagte Sacharowa, und nannte dabei neben Gergiev und Netrebko auch den Pianisten Denis Matsuev. Der Russe wird beim Lucerne Festival nicht auftreten, weil er sich dem Intendanten Michael Haefliger zufolge nicht von der russischen Regierung distanzierte.

»Der irrationale Hass des Westens auf Russland ist zum Leitmotiv seiner Politik geworden«, zitiert RIA Novosti die Vorsitzende des Oberhauses des russischen Parlaments, Walentina Matwijenko. In dem Versuch, Russland zu bestrafen, hätten die USA und ihre Verbündeten die Kontrolle über sich verloren und es habe sich herausgestellt, dass »sich darunter glühende Hasser unseres Landes, aggressive Russophoben« verborgen hätten. Zu Netrebko meint Matwijenko: Kaum habe »die große Sängerin« geschrieben, dass eine Person nicht gezwungen werden sollte, ihre Heimat zu verurteilen, sei sie von der Scala gefeuert worden. Ihre Auftritte in Mailand sagte Netrebko nach eigenen Angaben allerdings selbst ab mit dem Hinweis, es sei für sie jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zum Musizieren. 

Die drittgrößte und unabhängige Nachrichtenagentur Interfax zitierte zum Rauswurf Gergievs in Deutschland den Vorsitzenden der Staatsduma, des Unterhauses des Parlaments, Wjacheslaw Wolodin. Russische Kulturschaffende, die in den aus dem Staatshaushalt finanzierten Einrichtungen beschäftigt seien, sollten kündigen, forderte Wolodin, wenn sie nicht bereit seien, Gergievs Beispiel zu folgen und in der Sache »neutral« zu bleiben und zu schweigen. Diese Neutralität werde »dort«, also »im Westen«, nicht toleriert. »Auf zwei Stühlen kann man nicht sitzen«, so Wolodin weiter, und »im Westen bist du leicht entbehrlich und letztendlich wird man dich dort noch hassen dafür, dass du dein Volk, deinen Staat verraten hast.«  

Ein Instagram-Post von Anna Netrebko am 1. März 2022, kurz nach der Kündigung von Valery Gergiev als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker und der Ausladung beider Künstler für geplante Vorstellungen an der Bayerischen Staatsoper.

Die private Zeitung »Izvestia« entschied sich in der Berichterstattung für einen anderen Blickwinkel: Man habe Gergiev– Halleluja – »heimgeholt ins Vaterland«, und die russischen Fans könnten »von den westlichen Attacken auf Gergiev« endlich profitieren. Der künstlerische Leiter des Mariinski-Theaters, teilte die Pressestelle des Theaters der Zeitung mit, habe bereits sein Repertoire in St. Petersburg erweitert und wolle noch Wagners gesamten Ring-Zyklus in den Moskauer Konzertsaal Sarjadje bringen. »Wahrscheinlich mussten Netrebko wie Gergiev jetzt im Westen für ihre guten Beziehungen zu Wladimir Putin bezahlen – beide Künstler waren ja Vertraute des Präsidenten«, schrieb die Zeitung weiter, wies aber darauf hin, dass auch das Konzert von Pianist Mikhail Pletnev in der Berliner Philharmonie vom 15. April »auf einen späteren Zeitpunkt« verlegt worden sei, obwohl Pletnew nicht im Verdacht der Regierungsnähe stehe. 

Wie geht man in Russland aber mit Kulturschaffenden um, die es doch wagen, den Angriff auf die Ukraine zu verurteilen? Der Dirigent Vladimir Spivakov und der Generaldirektor des Bolshoi-Theates Wladimir Urin riefen die russische Regierung in einem offenen Brief neben vielen anderen mehr oder weniger einflussreichen Kulturschaffenden auf, »bewaffnete Aktionen« in der Ukraine zu stoppen und die Truppen abzuziehen. »Erinnerung an den Krieg ist in jedem von uns genetisch verankert. Wir wollen keinen neuen Krieg, wir wollen nicht, dass Menschen sterben«, mahnten die Unterzeichner. Von persönlichen Konsequenzen für sie ist bisher nichts bekannt. Weniger bekannte Künstler haben es schwerer. Der künstlerische Leiter des staatlichen Theaters Meyerhold-Zentrum, Dmitri Wolkostrelow, wurde nach eigenen Angaben nach einem Antikriegs-Statement auf Social Media »ohne Erklärung der Gründe« entlassen, der Dirigent Iwan Welikanow darf laut eigener Aussage wegen seiner Antikriegsrede vor einer Aufführung in Nischni Nowgorod jetzt nicht mehr beim Festival »Goldene Maske« in Moskau spielen. Irritierend ist hierbei, dass die Geschäftsführerin der »Goldene Maske« und Direktorin des staatlichen Theaters der Nationen, Maria Revyakina, neben Spivakov und Urin ebenfalls den offenen Antikriegsbrief unterzeichnet hatte. 

Etwas merkwürdig erschien auch die Entscheidung von Dirigent Tugan Sokhiev, seine beiden Posten als Chefdirigent am Bolshoi-Theater und Musikdirektor des Orchestre National du Capitole de Toulouse niederzulegen, weil er, wie er auf Facebook schrieb, gezwungen werde, »eine unmögliche Wahl zu treffen« und sich für eine musikalische Familie und Tradition und gegen die andere zu entscheiden. Dabei blieb offen, wer tatsächlich von ihm erwartet hatte, der russischen Musiktradition abzuschwören. Wahrscheinlich wollte Sokhiev, der genauso wie Gergiev aus der kaukasischen Republik Nordossetien stammt, so auf eine diplomatische Weise nicht alle Brücken nach Europa und Russland abbrechen, vor allem ins patriarchal geprägte Nordossettien, denn dort ist eher Gergievs Typ gefragt.

In dieser Hinsicht beklagte auch der Dramaturg Kirill Fokhin in der unabhängigen oppositionellen »Nowaja Gaseta« (die sich den staatlichen Einschränkungen der Berichterstattung über den Krieg leicht angepasst hat und anders als der Sender »Doschd« oder der Hörfunksender »Echo Moskwy« weiterarbeiten darf) in einer Kolumne namens »Kultur im Notfall« das Ausmaß der »Katastrophe«: Es gehe hier nicht um einzelne Fälle wie Gergiev oder Sokhiev. Alle Verbindungen, vor allem »die kleinen« werden gerade gekappt. »In dieser Hinsicht ist es natürlich, Verwirrung und sogar Wut zu empfinden«, schreibt Fokhin. Den Westen für »Cancel Culture« zu verurteilen, sei jetzt aber keine gute Idee. Man müsse stattdessen auf sich selbst als Künstler schauen und anerkennen, dass man als liberale Minderheit der kulturellen Gesellschaft in Russland, die sich den aktuellen Prozessen im Lande und Putin widersetze, verloren habe. Nur so könne man den Heilungsprozess ankurbeln und weiterleben. ¶