Barockgeiger John Holloway begann seine Karriere auf einer modernen Geige in einem konventionellen Orchester: Nach dem Studium war er kurzzeitig Stimmführer der 2. Geigen der Bournemouth Sinfonietta. Das mag in der Rückschau ähnlich unwahrscheinlich klingen wie der Umstand, dass der kürzlich verstorbene Heldentenor Stephen Gould eine Zeitlang einen ganz normalen Bürojob hatte.
1972 öffnete eine Begegnung mit dem Barockgeiger Sigiswald Kuijken Holloway die Türen zur damals noch jungen Welt der historischen Aufführungspraxis. Seitdem ist er mit vielen aus der Gründungsriege dieser Bewegung aufgetreten und hat eine Reihe charismatischer Kammer- und Soloaufnahmen veröffentlicht. Zwischen 1999 und 2014 unterrichtete Holloway außerdem (moderne) Violine an der Dresdner Musikhochschule.
2016 entschied sich Holloway zu einem radikalen Schritt: Er gab das Geigespielen komplett auf. Sein komplexes, introspektives letztes Album, »Henry Purcell: Fantazias«, wurde 2015 aufgenommen, aber erst am 22. September 2023 veröffentlicht. Mittlerweile besitzt der 75-jährige Holloway gar kein Instrument mehr. Er konzentriert sich stattdessen auf eine selbstfinanzierte Website, die sich den Soloviolinwerken von Bach widmet, The Bach Project.
VAN: 1972 haben Sie den Barockgeiger Sigiswald Kuijken kennengelernt – und mit ihm die Welt der Alten Musik. Wie hat sich diese innerhalb der letzten 50 Jahre verändert?
John Holloway: Es gab eine Zeit, in der ich alle, die in Europa mit einer Barockgeige in der Hand ihren Lebensunterhalt verdient haben, persönlich kannte. Unsere Welt war überschaubar. Die meisten von uns haben auch noch auf modernen Geigen gespielt, um die Miete zahlen zu können. Die Entwicklung war dann alles andere als linear: Anfang und Mitte der 1970er Jahre war es in London zum Beispiel noch schwierig bis unmöglich, eine Matthäus-Passion zu machen. Man bekam einfach nicht alle Bläser zusammen, niemand spielte Oboe d’amore.
Das hat sich natürlich total gewandelt. Ich lebe jetzt in Bern in der Schweiz. Vor Kurzem gab es hier an der Oper eine wirklich schöne Alcina mit Barockensemble, Monteverdis Vesper und wir haben hier das lokale Barockorchester Les Passions de l’Âme. Und das in einer Stadt, in der 120.000 Leute wohnen. Wir sprechen hier nicht von London, Berlin oder New York.
Es ist ein bisschen wie beim Tennis, das ich auch sehr mag: Neulich waren ja die US Open und da wurde auf einem Niveau gespielt, das sich vor 20 Jahren noch niemand hätte ausmalen können. Vor einigen Jahren, als ich noch Professor für moderne Geige in Dresden war, habe ich eine Einladung angenommen, in China bei einem Wettbewerb für moderne Violine in der Jury zu sitzen. Wie die Preisträger gespielt haben, war überwältigend: Es gab keinen einzigen Ton, der nicht gesessen hätte. Natürlich gibt es unterschiedliche Geschmäcker, aber es war absolut klar, dass diese jungen Leute ganz genau wissen, was sie machen. Wenn man das Gefühl hat, dass es nicht mehr besser werden kann – das gibt einem zu denken. Und so ist es auch in der Alten Musik.
Es hat mich schon immer amüsiert, wenn bestimmte Kollegen gerade in den besonders traditionsreichen Institutionen sagen: ›Die jungen Leute sind nicht mehr so gut wie früher. Die ganze Welt geht vor die Hunde.‹ Da frage ich mich: Was sagt das über unsere Lehrmethoden? Ganz abgesehen davon ist einfach Fakt, dass die Jungen nicht nur so gut sind wie wir. Sie sind besser.
Gibt es Aspekte, die über die Jahre verloren gegangen sind, wie zum Beispiel der anarchische, rebellische Geist in der Alten Musik?
Wenn man sich als Bewegung etabliert, ist das ein Vorteil und ein Nachteil zugleich. In den frühen 70er Jahren wurde in London gegen den Vietnamkrieg demonstriert und für die nukleare Abrüstung. Die meisten Musikstudierenden waren total unpolitisch, aber manche von uns sind auch auf die Straße gegangen. Wie die Alte-Musik-Bewegung förmlich explodiert ist, das passte gut zu der allgemeinen Anti-Establishment-Stimmung.
Ich glaube nicht, dass wir zu sowas wieder zurückkommen können. Im Laufe der Jahre habe ich in meinem Unterricht versucht zu vermitteln: ›Man sollte dieses und jenes lesen und eigene Schlussfolgerungen ziehen.‹ Ich habe versucht, nicht nachzugeben, wenn Leute in den Unterricht kommen und – wie es bei der modernen Geige immer wieder passiert – erwarten, dass man ihnen sagt, was sie machen sollen: diesen Fingersatz, diesen Bogenstrich, laut hier, leise dort. So war auch mein moderner Geigenunterricht. Was mich an der Begegnung mit Sigiswald bewegt hat, war, dass er Fragen gestellt hat und davon ausgegangen ist, dass ich eine eigene Meinung habe. Ich wurde zum Nachdenken eingeladen.
1999 haben Sie angefangen, an der Dresdner Musikhochschule zu unterrichten …
Ich habe die Stelle angenommen, weil ich wusste, dass sie mich zwingen würde, über bestimmte Fragen nachzudenken: Inwieweit kann man eine eher traditionelle Institution mit Ideen infizieren, die alles andere als traditionell sind? Ich neige dazu, nicht mit einer Geige in der Hand zu unterrichten, weil ich nicht glaube, dass es gut ist, wenn die Studierenden mich imitieren. Meine Aufgabe ist es, sie dazu zu bringen, zu imitieren und sich dann selbst zu entwickeln. Das war schon ein bisschen revolutionär. Ich habe versucht zu sagen: ›Habt ihr eigentlich versucht, darüber nachzudenken, was der Komponist erwartet haben könnte, als er das geschrieben hat? Wenn wir das Brahms-Violinkonzert studieren, guckt ihr dann auch in die Ausgabe von [Geiger Joseph] Joachim? Und lest den Briefwechsel zwischen Joachim und Brahms? Oder erwartet ihr von mir, dass ich euch die Bogenstriche und Fingersätze gebe und euch sage, was ihr machen sollt? Wenn ja, seid ihr hier falsch.‹
Es ist mir gelungen, einige Studenten zum Nachdenken anzuregen. Aber es liegt ja in der Natur der Sache, dass Traditionen sehr schwer zu ändern sind. Das Interessante am deutschen System ist, dass es zwei gute Orchester in Dresden und viele weitere in Berlin gibt, was viele dazu verleitet zu sagen: ›Wir bilden die Studierenden für eine Zukunft in diesen Orchestern aus.‹ Eine Zeit lang habe ich in Dresden einen kleinen Geigen-Meisterkurs und einen Wettbewerb veranstaltet und einen ehemaligen Konzertmeister der Wiener Philharmoniker eingeladen, um zu unterrichten. Ich fragte ihn: ›Könnten Sie uns einen kleinen Vortrag über den Wiener Klang halten?‹ Er sagte nein. Ich fragte: ›Warum nicht?‹, und er meinte: ›Letztendlich geht es darum, sich anzupassen.‹
Warum haben Sie das Geigespielen an den Nagel gehängt?
Irgendwann 2015 wurde mir angeboten, Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo im Konzert zu spielen. Ich bin damit schon ziemlich viel aufgetreten, um mich auf meine 2006 erschienene CD vorzubereiten. Als das Angebot kam, wusste ich genau, was ich zu tun hatte, um die Stücke auf den Stand der Dinge zu bringen, meine Interpretation zu verbessern. Ich wusste genau, an welchen Stellen ich in der Vergangenheit kleine Katastrophen erlebt hatte. In der Fuge der a-Moll-Sonate gibt es eine Stelle, an der man, wenn man auswendig spielt und einen Moment nicht aufpasst, leicht zwei Seiten zurückspringt, anstatt weiterzuspielen. Das ist mir mal bei einem Wettbewerb passiert, mit einer modernen Geige, als ich etwa 20 war, und das hat mich für mein Leben gezeichnet [lacht].
Es gibt in diesem Werk Stellen, von denen ich wusste, dass sie mich an den Rand bringen von dem, was ich zu leisten imstande bin. Ich wusste, wie viel Üben nötig sein würde. Und Üben hat mir nicht so viel Spaß gemacht. Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen, aber mit 70 wird das Üben mühsam. Ich denke, es ist wichtig, dass man Spaß am Üben hat, aber es wurde etwas mechanisch. Ich habe nicht gerade neue Ideen zu den Sonaten und Partiten entwickelt.
Die andere Sache war, sich bewusst zu werden, dass die Hände nicht flinker, flexibler werden. Ich habe gespürt, wie die Hände etwas langsamer und steifer wurden. Ich glaube nicht, dass das auch bei 1.000 Leuten im Publikum irgendjemand hören würde. Aber das ist nicht der Punkt. Es geht darum, dass ich es gespürt habe. Dieses Repertoire zu spielen, erfordert ein hohes Maß an Selbstvertrauen. Das habe ich ein bisschen verloren.
Dazu kam noch das Marketing, darin war ich noch nie gut. Ich habe mit Kollegen gearbeitet, deren Agent ich gerne gewesen wäre, denn ich hätte jedem Veranstalter gerne gesagt, dass ich zum Beispiel Lars Ulrik Mortensen für den besten Continuospieler halte, den ich je gehört habe. Aber ich kann einfach keinen Veranstalter anrufen und sagen: ›Ich bin genau der, den Sie suchen.‹
Die Veranstalter wollen neue, junge Gesichter; das verstehe ich absolut. Sie wollen keine alten Gesichter, zumindest nicht bis sie wirklich alt sind. Dann geht das Publikum hin und hört jemanden, von dem es glaubt, dass es sein letztes Konzert sein könnte. Es gab mal einen Chefdirigent beim BBC Symphony Orchestra. Als sein Vertrag auslief, wurde er gefragt, was er jetzt vorhabe. Er lächelte den Interviewer an und sagte: ›Ich werde versuchen zu leben, bis ich ein richtig alter Mann bin. Und dann werden sich mir jede Menge Gelegenheiten bieten, die nur was für richtig alte Männer sind.‹ Das klingt furchtbar zynisch, aber es steckt eine gewisse Wahrheit darin.
Das Problem ist, dass jede Art von Geige spielen im hohen Alter sehr schwierig ist, mit Darmsaiten ganz besonders. Ich fühlte mich dazu einfach nicht in der Lage. Also habe ich aufgehört. Ich habe es nicht eine Sekunde lang bereut. Ganz und gar nicht. Ich spiele nicht alleine zu Hause und denke: ›Wie schade, dass ich nicht da draußen bin.‹ Manchmal höre ich ein Konzert, bei dem ich denke, dass ich gerne da oben stehen und mitmachen würde – aber das kommt sehr selten vor. Die allermeiste Zeit vermisse ich es nicht. Ich habe gar keine Geige mehr. Ich habe meine Instrumente an andere Leute weitergegeben: einige verkauft, andere verschenkt.
Ihr neuestes Album, ›Henry Purcell: Fantazias‹, ist letzten Monat erschienen. Ist das Ihr letztes Album?
Auf jeden Fall. Aber wissen Sie, das habe ich 2015 eingespielt. Warum es erst jetzt rauskommt – das müssen Sie ECM fragen. ECM ist nicht auf Alte Musik spezialisiert, aber Manfred [Eicher] ist mir gegenüber unglaublich loyal gewesen. Meine Tantiemenabrechnungen sagt eindeutig, dass ich ein Nischenprodukt bin. Das weiß man auch bei ECM, sie hatten ihre Gründe. Aber: Dieses Album wurde 2015 aufgenommen, und Ende 2016 habe ich aufgehört, Geige zu spielen.
Wenn es acht Jahre her ist, dass Sie dieses Album aufgenommen haben – wie war es dann für Sie, als Sie es wieder gehört haben, jetzt, wo Sie nicht mehr Geige spielen?
Ich glaube, wenn ich es mir jetzt anhöre, dann spüre ich zwangsläufig eine gewisse Distanz. Wir haben es im Radiostudio in Zürich aufgenommen, wo wir schon ein Dowland-Album mit der gleichen Truppe gemacht hatten. Die Akustik ist da ziemlich trocken. Wenn ich es mir jetzt anhöre: ›Meine Güte, wir sind nackt.‹ [Lacht] Wenn Sie meine Frau fragen, würde die Ihnen sicherlich erzählen, dass ich eine Zeit lang etwas deprimiert war, als das Album rauskam.
Alle früheren CDs wurden in St. Gerold in Vorarlberg in Österreich aufgenommen. ECM nimmt dort leider nicht mehr auf, weil da etwas an den Bedingungen nicht stimmte. St. Gerold ist ein himmlischer Ort zum Aufnehmen. Bei der Bach-Aufnahme bin ich immer noch erstaunt: Sie haben es irgendwie geschafft, dass man mich atmen hört, und trotzdem gibt es fast so etwas wie einen Heiligenschein, den der Klang ausstrahlt und den ihm St. Gerold gegeben hat. Bei der Purcell-Aufnahme ist das überhaupt nicht so; das klingt wie ein kleinerer Raum auf Schloss Windsor, mit Vorhängen und Teppichen an der Wand, nah und trocken. Da kann man sich nirgends verstecken. Ich brauche ein bisschen Zeit, um mich daran zu gewöhnen. Ich habe das fertige Produkt erst vor ein paar Wochen bekommen, und ich muss mich erst damit anfreunden. Aber es ist einfach eine erstaunliche Musik. ¶