Die deutsche Nationalhymne ist, so wie wir sie (noch) singen, ein Problem. Die Melodie – entschuldige, Papa Haydn! – ist nicht besonders gut, der Text nichtssagend und aus klobigen Legobauklötzen auf Helgoland erbaut. Schlimmer noch der immer mitschwingende latente Verweis auf die erste Strophe (»Deutschland, Deutschland über alles«). Arno Lücker hat einen Vorschlag – und richtet ihn als offenen Brief an Frank-Walter Steinmeier (beziehungsweise Olaf Scholz, die Rechtslage ist da nicht eindeutig) – als Nachtrag zum Tag der Deutschen Einheit.
»Deutschland, Deutschland über alles«, heißt es zu Beginn der ersten Strophe vom Lied der Deutschen, 1841 von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland gedichtet. Und mit »über alles in der Welt« geht es weiter. Die zweite Strophe salbadert über deutsche Frauen, deutsche Treue und – dabei können wir nur Riesling! – deutschen Wein (immerhin auch über »Sang«). In Deutschland singt man zu manchen offiziellen politischen Anlässen (und bei Länderspielen) heute die dritte Strophe des Lieds der Deutschen. Diese bildet den Text zur offiziellen, aktuellen Nationalhymne. Der deutschen Nationalhymne. Das muss sich ändern. Und die Melodie auch.
Häufig hat es schon Probleme gegeben; Vorfälle, bei denen – meistens versehentlich – die erste Strophe des Lieds der Deutschen gegrölt wurde (fast schön dagegen Sarah Connors legendäre »Brüh-im-Lichte«-Variation 2004). Berüchtigt ist das (nicht versehentliche) Absingen der Nationalhymne bei der Siegerehrung zum »Wunder von Bern«, dem damals sensationellen Sieg der deutschen Männer-Fußballnationalmannschaft 1954 in der Schweiz. Einen von vielen weiteren Irrtümern gab es bei einem Damen-Tennis-Event 2017. Vor einem Spiel der deutschen Tennismannschaft beim Fed-Cup auf Hawaii intonierte ein Sänger ebenfalls »Deutschland, Deutschland über alles«. Das damalige Mitglied der deutschen Tennismannschaft Andrea Petkovic – ohnehin ein Lichtblick in der deutschen Sportszene – gab geschockt zu Protokoll: »Ich habe mich noch nie in meinem Leben so respektlos behandelt gefühlt. Das war einfach das absolut Allerletzte.« Viele weitere Beispiele lassen sich leichterhand ergoogeln. Die Melodie der aktuellen Nationalhymne ist nun einmal schlichtweg die gleiche wie die der furchtbaren ersten Strophe. Und wie in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ist aktuell eine ähnlich rassistische und antisemitische Partei bekanntlich mit steigenden Prognosezahlen unterwegs. Schon wegen der potentiellen Gefahr, von dieser oder anderer Seite die erste Strophe entgegengejallert zu bekommen, gehört die deutsche Nationalhymne in Gänze ausgewechselt.
Statt zu erläutern, was denn in aller Welt »Unterpfand« bedeutet, kurz zur komplizierten Entstehungsgeschichte der Hymne, genauer: zur Story um die Entstehung von Text und Melodie.
Franz II. (HRR) beauftragte Joseph Haydn 1796 mit der Komposition einer Kaiserhymne (Gott erhalte Franz, den Kaiser). Der Text stammte von dem österreichischen Lyriker Lorenz Leopold Haschka. Am 6. August 1806 war das Heilige Römische Reich Deutscher Nationen auch schon wieder passé. Und so ging es weiter. Eine wirklich zerfaserte Genese, die wir hier nicht weitererzählen, denn der Wikipedia-Artikel zur Deutschen Nationalhymne ist wirklich gut und lesenswert.
Für die DDR dichtete später Johannes R. Becher (der – wie Hanns Eisler, der die Melodie lieferte – auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte liegt) sein Auferstanden aus Ruinen. Man kann mutmaßen, dass Becher irgendwie implizit musikalisch den Wunsch einer Wiedervereinigung seinem Text mit einschrieb. Denn die DDR-Hymne lässt sich gut auf die Haydn-Melodie der BRD-Hymne singen – und der Fallersleben-Text gut auf die Eisler-Melodie. Fast! Vor Jahren habe ich das mit dem Tenor Sebastian Köchig im Rahmen eines Kabarettprogramms einmal vor Publikum ausprobiert.


Der Witz: Hier wie dort »reißt« der Text hinten raus ab. Es gibt jeweils »zu viel« Musik – beziehungsweise »zu wenig« Text. Die Schwierigkeit der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten steckt gewissermaßen in der DNA dieser Schein-Deckungsgleichheit. Und zu allem schelmischen Übermaß lässt sich – Relativismus an Relativismus – auch die bekannteste Weill-Melodie, sprich: Die Moritat von Mackie Messer aus dessen Dreigroschenoper prima mit dem BRD-Hymnen-Text aufführen. Und umgekehrt (auch das habe ich mit Köchig 2015 verifiziert).
Brecht kommt aber doch noch ins Spiel! Und zwar auf eine sehr schöne Weise. Denn Bertolt Brecht dichtete 1950 seine Kinderhymne, als Teil eines Zyklus von Kunstkinderliedern. Dieses Mal war es der DDR-Nationalhymnen-Melodieschöpfer Hanns Eisler, der die Weise dazu beisteuerte. Mehrere prominente Persönlichkeiten, beispielsweise der Schauspieler Peter Sodann oder der amtierende thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow, forderten bereits die Einsetzung von Anmut sparet nicht noch Mühe als neue deutsche Nationalhymne. Und tatsächlich sprechen alle Argumente für die Brecht-Eislersche Kinderhymne! Dieser wohnt textlich quasi »deutsche Dialektik« inne. Denn Anmut sparet nicht noch Mühe ist fraglos eine Reaktion auf den Text vom Lied der Deutschen. Nur, dass die Dinge hier – bei Brecht – liebevoll, luzide aufgeklärt erscheinen.
»Anmut« und »Mühe«: Durch die Voranstellung von »Anmut« wird vielleicht der Wunsch nach einem schlichtweg schöneren Deutschland deutlich. In der – bei Brecht fast schon beschönigten – Eigentlich-Hässlichkeit von Deutschland steckt gleichsam der Verweis auf die Bomben, die Deutschland eben so hässlich gemacht haben, wie es jetzt ist. Bomben, die wir verdient hatten. Bomben, die beispielsweise den Potsdamer Platz in Berlin – wir alle kennen die Bilder von früher, als dieser Ort noch nicht zu einem absoluten Un-Ort geworden war – so ruiniert haben, dass wir uns fast schon zwanghaft mit etwas überschätzten Serien wie Babylon Berlin nach den 20er Jahren und dem damaligen Zustand des Potsdamer Platzes zurücksehnen müssen.
Weiter im Text der Kinderhymne (was für ein schöner Titel für ein neues Deutschlandlied übrigens): »Leidenschaft nicht noch Verstand«. Cool, Emotion und Ratio in Kombination. Darin waren wir schon immer gut! »Dass ein gutes Deutschland blühe«: Hier sind wir ganz nah dran an dem – sonst recht aussagelosen – Fallersleben-dritte-Strophen-Gedöns: »Blüh im Glanze dieses Glückes, blühe, deutsches Vaterland!« Damit kann viel gemeint sein. Wirtschaftliches, kulturelles Wachstum. Oder, um es mit einem Wort Goethens zu sagen: fair enough.
Und jetzt wird es immer schöner: Deutschland soll bei Brecht blühen, wie jedes andere gute Land, oder, genauer: »Wie ein andres gutes Land«. Was immer »gut« heißt (so schwer zu verstehen ist dies eigentlich nicht …): Anderen guten Ländern, die vielleicht ihre Bürgerinnen und Bürger ebenfalls (?) gut behandeln, sie ausreden, demonstrieren, kritisch bleiben lassen und andere Länder nicht angreifen, möge es auch gut (er)gehen. Ja, freilich.
Nun folgen drei weitere Strophen, die sich allesamt als zusammengehörende neue deutsche Nationalhymne geradezu aufdrängen: »Dass die Völker nicht erbleichen wie vor einer Räuberin«: Nein, das wollen wir nicht. »Sondern ihre Hände reichen uns wie andern Völkern hin«: Ja, das möchten wir bitte gerne.
»Und nicht über und nicht unter andern Völkern wolln wir sein«: Wer will das schon? »Von der See bis zu den Alpen, von der Oder bis zum Rhein«: Das hat Brecht nicht nur schön gereimt, es ist auch ein süßer Wink mit dem (Eichen-)Zaunpfahl hinüber nach Helgoland: Nicht »Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt«, sondern im Rahmen der richtigen geographischen Ausmaße. (Ich war im Sommer an der Etsch. Der Fluss heißt eigentlich Adige, liegt in Italien – und das ist auch sehr schön so.)

»Und weil wir dies Land verbessern«: Ja, das etwas sozialistisch »Werktätige« schimmert hier durch. Aber auch ein (deutsches) Arbeitsethos, auf das man sich einigen kann. »Lieben und beschirmen wir’s«: Aber selbstverfreilich doch! Mutterlandsliebe wird ja wohl erlaubt sein. Es gibt ja auch ganz schöne Ecken. Bamberg zum Beispiel. »Und das Liebste mag’s uns scheinen, so wie andern Völkern ihrs«: Wir lieben unser Land – und sind d’accord damit, wenn das andere Länder auch (mit ihrem jeweiligen Land) so halten.
Letztlich wäre die Einsetzung einer neuen deutschen Nationalhymne auch ein Zeichen für die Menschen im Ostteil des Landes. Weniger schwer würde also der Verrat, der Ausverkauf, die Verramschung der damals »neuen« Bundesländer durch Helmut Kohl und Co. wiegen – ja, sich vielleicht die Menschen im Osten sogar etwas »entschädigt« fühlen, wenn »ihr« Hanns Eisler nun der neue deutsche Nationalhymnenkomponist wäre.
Doch da gibt es (noch) ein kleines Problem. Die Melodie von Eisler ist wunderschön, nur der von ihm überlieferte Klaviersatz etwas zu kompliziert für das niedrigschwellige Absingen allerorten. Deshalb haben wir zunächst bei der Internationalen Hanns Eisler Gesellschaft und schließlich bei dem offiziellen Rechteinhaber der Eisler-Brechtschen Kinderhymne (beim Verlag Breitkopf und Härtel) angerufen. Und, was sollen wir sagen? Hier wie dort hat man weder Anmut noch Mühe gespart, um uns die musikalische Bearbeitung des Ganzen tatsächlich zu gestatten. Einen herzlichen Dank und einen ebenso herzlichen Gruß nach Berlin-Kreuzberg und Wiesbaden! Wir präsentieren also, zunächst noch exklusiv für Leserinnen und Leser von VAN: die hoffentlich baldige neue deutsche Nationalhymne.
Alles musste etwas einfacher werden. Synkopen können wir Deutschen nicht. Also raus damit (jedenfalls mit den meisten). Dementsprechend wurden die jeweiligen Auftakte ein wenig »grader«. Außerdem mussten ein paar »Lücken« in der Begleitung gefüllt werden. Eisler hat zudem einige Terzen eingebaut (bei »uns wie andern Völkern hin« beziehungsweise bei »so wie andern Völkern ihr’s«), die er mit der Interpretationsanweisung »Chor (ad lib.)« versah. Derart »springende« Zweiklänge – immerhin geht es jeweils eine Sexte hinauf – müssten im Rahmen einer chorischen Aufführung aber wirklich geprobt werden. Diese Zeit hat man meistens nicht. Ich habe mich also dafür entschieden, diese »Chor-Möglichkeit« zu streichen. Und die fraglos kunstfertigen, sich im Verlaufe des Originals einstellenden Variationen Eislers sind: unrealistisch. Schlussendlich musste natürlich auch die Melodie der Gesangsstimme(n) ins Klavier (im Sinne einer dortigen Verdopplung) mit hinein. Fußballerinnen und Fußballer beispielsweise sind freilich nicht in der Lage, sich – wie im Eisler-Original – haltlos über einer selbständigen Klavierstimme intonatorisch korrekt zu bewegen (und vielleicht auch nicht taktisch im jeweils darauffolgenden Match).
Lieber Herr Bundespräsident, lieber Herr Bundeskanzler: Der Weg zur neuen deutschen Nationalhymne ist also bereitet. Bitte treffen und entscheiden Sie sich – für Anmut sparet nicht noch Mühe! Wir würden uns freuen. ¶