»Ich habe kein Handy, wie unglaublich das auch scheinen mag«, schreibt Sigiswald Kuijken mir, als ich das Interview anfrage. Seine Mail-Adresse teilt er mit seiner Frau Marleen Kuijken-Thiers, die als Bratschistin in dem von Kuijken 1972 gegründeten Ensemble La Petite Bande und dem Kuijken Quartett spielt. Kuijken spricht meist leidenschaftlich und ernst, am Ende einer längeren Antwort wartet er jedoch oft kurz, um dann leicht nervös zu lachen, was sehr entwaffnend wirkt.

VAN: Sie haben kein Handy und blicken eher kritisch auf Social Media. Wirkt die Gegenwart anders, wenn man sich viel mit der Vergangenheit beschäftigt?

Sigiswald Kuijken: Ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt. Ich habe nichts gegen die Gegenwart, ich bin auch kein Nostalgiker. Ich finde nur: heute ist man immer so hektisch. Ich möchte nicht immer erreichbar sein. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich Alte Musik spiele (lacht).

Wann oder wofür möchten Sie nicht erreichbar sein?

Für alles. Ich meine, es gibt natürlich Momente, wo man erreichbar sein kann und muss. Aber dass man immer, immer erreichbar sein soll, das finde ich schade. Das bringt zu viel Hektik, da geht einfach die Ruhe verloren.

In einem kurzen Dokumentarfilm auf YouTube über Sie und Ihre Brüder werden Sie gebeten, sich miteinander zu vergleichen. Ihre Antwort lautet: ›I am more anarchistic‹. Wie meinten Sie das?

›Anarchist‹, was heißt das schon? Ich meine, Anarchie als System, das funktioniert auch nicht. Anarchismus finde ich zwar sympathisch – es darf aber nicht zu weit gehen.

Gibt es eine positive Anarchie in der Musik?

Ja, zwar keine reine Anarchie, aber: Ich mag die Sinfonieorchester nicht, bei denen der Dirigent seine Befehle gibt und die anderen schweigen müssen – das heißt, sie müssen spielen, was er sagt und basta. Da schwindet mit der Zeit oft die Motivation der Leute. Der Dirigent muss im Dienste der Musiker stehen. Und die Musiker im Dienste des jeweils Anderen: Sie sind dem Dirigenten nicht stärker verpflichtet als sich gegenseitig. Ich mag die Alleinherrschaft von Regeln nicht. Man sollte die Freiheit aus jedem Einzelnen wachsen lassen und beim Musizieren ein Basisvertrauen haben. Dazu muss man natürlich erst einmal die richtigen Leute aussuchen, die man für ein Repertoire braucht. Das ist nur insofern Anarchie, als dass nicht immer nur ein einziger Mann oder eine einzige Frau alles sagt. Natürlich ist es so: Wenn ein Dirigent sehr gut ist und die Musiker blöd, dann ist es vielleicht am besten, wenn der Dirigent die Sache macht (lacht). Aber die Musiker dürften nicht blöd sein.

Wenn Sie La Petite Bande dirigieren, geben die Musikerinnen und Musiker Ihnen dann Vorschläge? Akzeptieren Sie sie?

Manchmal, ja. Bei uns ist es so: Wir arbeiten schon sehr lange zusammen und ich sehe, dass die Leute gerne mitmachen. Ich muss nicht jedes Mal wieder beweisen, dass ich recht habe. Unser Stil ist mit dem Vergnügen und der Zustimmung der Leute gewachsen.

Müssen Sie denn anderen Musikern beweisen, dass Sie recht haben?

Ich muss gar nicht beweisen, dass ich recht habe. Mit Zwang und Rechthaberei wird es nie interessant.

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Johann Sebastian Bach, Johannes-Passion; Solisten: Christoph Prégardien, Huub Claessens, Gabriele Rossmanith, Andreas Scholl, Markus Schaeffer, Werner Van Mechelen; La Petite Bande, Sigiswald Kuijken (Leitung)

Sie haben als junger Geiger mit dem berühmten Cembalisten Gustav Leonhardt gespielt, die Zeit sogar als die ›Glory Days‹ bezeichnet. Welche besonderen Erinnerungen verbinden Sie mit ihm?

Ich habe von ihm unheimlich viel gelernt, nicht nur über die Musik, sondern auch über die Kultur im Allgemeinen. Wenn wir in Italien Konzerte gespielt haben, sind wir immer viel zusammen in Museen und Kirchen gegangen. Es war ein Entdecken, wirklich aus erster Hand, mit seinem persönlichen, erfahrenen Kommentar. Das war für mich fantastisch. In der Musik war sein Ansatz immer interessant und überzeugend. Er hat nicht viel geredet, keine Theorien gemacht. Er hat immer so wenig wie möglich geprobt.

Sie haben in Den Haag und Brüssel unterrichtet, nun geben Sie Meisterkurse und eine Sommerakademie der Petite Bande. Wenn Sie die Ausbildung heute mit Ihrer Studienzeit vergleichen: Was hat sich geändert?

Damals war die Alte Musik neuer. Heute gibt es so viele Hochschulen, Schallplatten und Wettbewerbe für Alte Musik, und es wird behauptet, man könne dort alles lernen. Da ist ein ganz neuer Mechanismus entstanden. Aber ich glaube, dass die Leute, die wirklich etwas in sich haben, davon so wenig wie möglich mitmachen sollten. Sie sollten nicht einfach immer hören, wie die anderen spielen, sondern ihrer eigenen Intuition folgen und eigene Kenntnisse entwickeln.

Wenn sie einen Lehrer finden, der dabei hilft, ist das gut. Aber wenn Studenten Lehrer suchen, um sie nachzumachen, dann ist das schade. Und wenn ein Lehrer unterrichtet in der Hoffnung, seine Schüler werden einst genauso spielen wie er, dann ist das auch schade. Natürlich kann man als Lehrer schon allgemeine Sachen ansagen.

Zum Beispiel?

Sachen wie: ›Wie liest man Musik?‹ In der Barockmusik ist das gute Lesen unglaublich wichtig. Als Lehrer kann man den Studenten das echte Hinschauen, das Verständnis für Harmonie und Bezifferungen, für Spannung in der Harmonie beibringen. Das Problem ist oft, dass junge Leute eigentlich sehr wenig Kenntnisse von der praktischen Harmonie haben. Sie spielen nach Gehör: Ich finde das schön. Das ist natürlich kein starkes Argument. Denn was ist schon Schönheit? Es muss erstmal richtig sein. Wenn Leute falsch phrasieren und dabei die Dissonanzen nicht richtig auflösen, stattdessen nur horizontal, melodisch phrasieren, hat das keinen einzigen Vorteil und kein bisschen besondere Schönheit. Das ist nur dumm.

Ich möchte mit Ihnen kurz über Perfektion sprechen. Auf YouTube gibt es eine Aufnahme von Ihnen

Das ist möglich, ja. Ich schaue nicht auf YouTube.

Unter dem Video gibt es Kommentare. Die Leute sagen, ihnen gefällt die Interpretation, wobei manche mehr Perfektion fordern, zum Beispiel in der Intonation.

Verstehe ich völlig. Es gibt ja heute Leute, die auch im Konzert perfekt spielen. Ich bewundere das. Aber es ist leider nicht immer mein Fall gewesen oder noch immer nicht. Ich glaube, es ist auch nicht das allerwichtigste. Man muss ja nicht sagen, OK, geht schon, ich spiele falsch. Das ist auch nicht gut. Man muss tun, was man kann. Aber man muss auch nicht sterben, weil eine Note im Konzert falsch ist.

In 2012 wurde die staatliche Förderung für La Petite Bande zurückgezogen. Das Ensemble gibt es immer noch, es wird privat finanziert. Wie geht es Ihnen dabei?

Da geht sehr viel. Trotzdem war uns die staatliche Förderung sehr wichtig. Bis 2012 hatten wir 600.000 Euro im Jahr, was natürlich praktisch war. Die flämische Regierung ist eigentlich seit langem in Europa beispielhaft in Sachen Kultursubvention. Aber es gab ein paar Personen in der Kommission, die wirklich gezielt gegen La Petite Bande waren und fanden, dass wir aus der Förderung raus sollten. Naja, wenn sie das meinen, muss man es annehmen, man kann nichts dagegen tun. Wenn der Wurm im Apfel ist, dann ist er drin.

Ist es schwer, genug Finanzierung aus privaten Mitteln zu bekommen?

Es ist schwer, aber wir tun, was wir können. Wir versuchen natürlich, kleinere Programme zu machen. Wir können uns keine Zauberflöte mehr erlauben, wo wir früher mit 70 Leuten auf der Bühne saßen. Im Moment machen wir halt kleinere Produktionen, mit kleineren Besetzungen, und versuchen dann, Organisatoren zu finden, die alles bezahlen können. Früher konnten wir sagen: ›Die Hälfte ist auch ok, die andere Hälfte bringen wir mit.‹ Das können wir jetzt nicht mehr, was nicht so angenehm ist. Ich spiele ja auch Soloprogramme, und alle Einnahmen davon gehen in die Kasse des Orchesters. Das hilft, kann aber nicht alles ersetzen – ich kann nicht 600.000 Euro im Jahr einspielen (lacht). Ich habe auch ein Buch über Bach geschrieben, das verkauft wird und das man als Dankeschön bekommt, wenn man für das Orchester spendet. Wir brauchen diese Spenden, sonst wird es wirklich schwierig. So ist das. Es hat uns dankbar gestimmt, dass wir die Förderung so viele Jahre bekommen haben, jetzt ist es an der Zeit, dass wir uns anders aus dem Brand retten. Es ist schwierig. Vor allem ist es bitter zu sehen, dass die einzige Begründung eigentlich war, dass die Leute fanden, dass wir die alte Musik oder alte Kunst ›auf die heutige Zeit beziehensollten. Immer ›aktualisieren‹. Und das ist gerade das, was ich nicht möchte.

Warum nicht?

Wenn man Don Giovanni aufführt, sollte es nicht in New York oder Sydney oder Moskau spielen und auch nicht zur heutigen Zeit. Diese Stücke haben Ewigkeitswert, da muss man nicht anfangen, irgendwas zu arrangieren. Wenn man sagt, man spielt Don Giovanni und heraus kommt ein modernes Schauspielstück mit ein bisschen Musik von Mozart, ist das nicht mehr dasselbe. Die alten Partituren haben so viele Anweisungen, auch zur Bühnenregie. Man hat das Stück ganz auf dem Papier stehen, so wie es gedacht war.

Aber man muss es ja lesen können und vor allem lesen wollen. Das ist die Sache. Ich habe meine Prinzipien: Ich finde, das Stück ist das Stück. Und dieses elende Aktualisieren –  Aktualisieren ist nur eine Missform. Man macht die Stücke kaputt.

Schaffen Sie es, Regisseure von dieser Ansicht zu überzeugen? Oder Regisseure zu finden, die ähnliche Ansichten haben?

Die haben das nicht und wollen es auch nicht. Das heute gefestigte, offizielle Opernleben ist ganz eingestellt auf Modernisierung und glaubt, dass nur das interessant sei. Ich habe nie eine Oper dirigieren wollen, wenn ich nicht wusste, wie die Bühnenführung war. Eine Oper ist eine Einheit von Visuellem und Auditivem, Spielen und Tanzen. Wenn die Einheit da ist, dann ist es unwahrscheinlich schön. Aber das wissen diese Leute meistens nicht mal, weil sie es nie so versucht haben. Ich habe in der Vergangenheit ein paar Mal Oper machen können, die in eine gute Richtung gingen. Aber erst in den letzten Paar Jahren werde ich wirklich glücklich: Unter Regie meiner Tochter Marie haben wir mit Le Petite Bande zwei Haydn-Opern semi-konzertant aufführen können (La canterina und L’isola disabitata), die wir so realisiert haben, wie es in der Originalquelle vorgeschlagen war. Dabei ist natürlich Erfahrung, echtes Begreifen, Lieben und Vertrautsein mit den alten Bühnenkonventionen Voraussetzung, dazu guter Geschmack und Überzeugung. Es ist wunderbar zu merken, wie dann die Stücke ohne jegliche hineininterpretierte »Modernität« plötzlich anfangen zu glänzen in ihrer Einfachheit, Direktheit und ihrem Humor.

Welches Repertoire aus der Alten Musik ist mit dem modernen Orchester machbar?

Ich fange eigentlich am liebsten mit Musik aus der Beethoven-Zeit und später an: Beethoven, Mendelssohn, Brahms, das ist alles ok. Jetzt mache ich auch Mozart und Haydn mit modernen Instrumenten, wenn ich darum gebeten werde. Ich weiß, bis zu welchem Punkt ich die Leute kriegen kann, und wo es aufhört. Das ist die Gelegenheit bei der Zusammenarbeit: Man geht soweit man kann. Bach mache ich ungern mit modernem Orchester. Ich glaube, die Sprache ist so völlig anders, dass ich fast nicht den Mut finde. Es wäre schwierig, die Brandenburgischen Konzerte oder die Matthäus-Passion mit modernen Instrumenten zu machen, weil so ein großer Gegensatz zwischen den Instrumenten und dem Stil besteht.

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Johann Sebastian Bach, Brandenburgisches Konzert No. 3; La Petite Bande

Sie beschäftigen sich viel mit Musik, die vor etwa 300 Jahren geschrieben wurde. Wenn Musiker oder Musikwissenschaftler in 300 Jahren unsere Musik anschauen, was glauben Sie, werden die denken?

Tja, wenn ich das wüsste. Was würde Bach sagen, wenn er ein modernes Steinway-Klavier sehen würde? Die Frage ist natürlich absurd. Wir können nicht wissen, was die Leute in 300 Jahren von Stockhausen und Boulez halten und wie sie das spielen. Das ist keine interessante Frage, muss ich ehrlich sagen.

Haben Sie selber Interesse, Komponisten wie Boulez oder Stockhausen aufzuführen?

Das habe ich früher, in den später 1960ern und ’70ern, oft gemacht. Ich habe zur Hälfte Barockmusik und zur Hälfte Avantgardemusik gespielt; das fand ich fantastisch.

Warum machen Sie es nicht mehr?

Das Ensemble in Brüssel ist eigentlich auf einmal gestorben wie eine Torte, die aufgegangen und dann eingestürzt ist. In dem Moment war aber keiner von uns sehr traurig, obwohl wir gute Sachen gemacht haben. Es gab auch keinen Konflikt, nur einfach die Realität des Lebens, dass wir alle auch in anderen Richtungen unterwegs waren und dass sich die Alte Musik bei uns mehr durchgesetzt hat.

Jetzt kommt diese Mischung zurück. Viele Programmverantwortliche glauben, sie tun damit etwas Weltumstürzendes, obwohl es eigentlich schon vor 50 Jahren gemacht wurde. Man glaubt, diese Art von Crossover sei neu, dabei ist sie das überhaupt nicht. Diese Überheblichkeit, zu glauben: ›Jetzt habe ich etwas erfunden, müsste man relativieren.

In einem Interview in VAN sagte uns Reinhard Goebel, ›Sigiswald Kuijken denkt, er sei eine Originalquelle‹. Wissen Sie was er damit meint? Haben Sie eine Antwort darauf?

(Lacht) Ich denke, dass er damit sagen wollte: Ich versuche so authentisch wie möglich zu spielen. Ich hoffe, dass er nicht mehr meinte als das. Dass ich mich selber für eine Quelle halte, das geht zu weit. Ich habe mich nie als eine Quelle gefühlt. Aber wahrscheinlich hat er nur gemeint, dass ich ein Purist bin. Naja, wenn er das so behauptet, ist das kein Problem.

Ich finde das noch immer interessant, die Musik mit den Instrumenten zu spielen, für die sie gedacht wurde; keine 20.- oder 19. Jahrhundert-Mechanismen anzuwenden in der Musik, wo diese Mechanismen gar nicht gelten. Zum Beispiel als Dirigent eine Suite von Bach zu dirigieren. Das tut man nicht. Man spielt mit oder man schweigt. ¶

...ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Seine Texte sind auch in Slate, The Baffler, The Outline, The Calvert Journal und Electric Lit erschienen. Er lebt in Berlin. jeff@van-verlag.com