Klänge aus Lava und überkommenen Zeiten

Titelbild und Vortext Hartmut Welscher · Datum 30.11.2016

In der Konzerthalle Harpa in Reykjavík probt ein Männerchor für sein Jubiläumskonzert zum hundertjährigen Bestehen. Im Backstagebereich steht eine Gruppe von aufrechten knorrigen Männern in feierlichen Anzügen beisammen. Als der Pianist Víkingur Ólafsson auftaucht, öffnet sich die Runde kurz und umschließt ihn in seiner Mitte. Jeder möchte kurz »hallo« sagen, die einen schütteln feierlich die Hand, andere umarmen ihn herzlich. Da schwingt viel Stolz mit auf den berühmten Sohn, der regelmäßig zu Besuch kommt. Der wiederum weiß, wo er herkommt, und dass es sich gehört, dem Respekt zu zollen. Statistisch kennt jeder jeden über 6,6 Ecken, in Island schrumpft die Bekanntschaftskette auf eine Dezimalstelle, bei Víkingur wird aus der Ecke fast eine gerade Linie.

Er hat im Moment viel um die Ohren. Gerade wurde verkündet, dass die Deutsche Grammophon ihn als Exklusivkünstler gesigned hat. Im Februar wird er ein Klavierkonzert von Haukur Tómasson in der neu eröffneten Elbphilharmonie uraufführen, das er später im April auch in Los Angeles spielen wird. Beide Spielorte setzen auf Festivals mit isländischer Musik. Wir haben Víkingur vorab gebeten, eine Playlist mit Musik aus seiner Heimat zusammenzustellen. Hier ist seine Einführung:»Die Aufgabe eine Playlist zu Island zu kreieren, ist etwas überwältigend: es wäre einfach, eine Liste zusammenzustellen, die stundenlang weiter geht. Ich wollte aber etwas schaffen, das man tatsächlich in einem Stück durchhören kann. Hier sind einige meiner Lieblingsstücke vom 64. Nördlichen Breitengrad.«

Haukur Tómasson – Violinkonzert, II. —; Sigrún Eðvaldsdóttir (Violine), Guðmundur Óli Gunnarsson (Leitung), Caput Ensemble

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Haukur Tómasson nimmt gerade ziemlich viel Platz in meinem Kopf ein – ich bereite mich auf die Uraufführung seines zweiten Klavierkonzerts vor. Tómasson schreibt Musik mit hieb- und stichfesten Strukturen, hat ein einzigartiges Gespür für Instrumentierung und eine seltene Gabe seine Ideen weiterzuentwickeln als man es für möglich hält. Dieses Violinkonzert ist das erste Stück von ihm, in das ich mich verliebt habe – in dem Moment im zweiten Satz, in dem das Cembalo einsetzt, jagt es mir immer noch Schauer über den Rücken.

Thurídur Jónsdóttir – Flow and Fusion

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Dieses Stück von Thurídur Jónsdóttir ist pures Gold. Wenn Du eine gute Anlage hast, wird es Dich komplett umhauen. Sie selbst hat dazu geschrieben: »Eines der Bilder, die ich im Kopf hatte, als ich Flow and Fusion schrieb, war die Vorstellung zweier verschiedener Ströme glühenden Magmas, die sich in einen großen Strom vereinen, abkühlen und zu einem Felsen werden … der schließlich Echos abgibt.«

Snorri Sigfús Birgisson – Klavierkonzert No. 2, II.; Víkingur Ólafsson (Klavier), Guðmundur Óli Gunnarsson (Leitung), Caput Ensemble

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Von den dunklen Klängen Jónsdóttirs zu diesem strahlenden, nächsten Stück, dem zweiten Satz aus Snorri Sigfús Birgissons zweitem Klavierkonzert (das er 2006 für mich geschrieben hat). Ich mag besonders die Kadenzen in diesem Satz, von etwa 3:20 bis zum Ende. Sie fühlen sich improvisiert an – aber die Strukturverhältnisse und das Gespür für Zeit (bzw. Zeitlosigkeit) sind bewundernswert.

Eine kleine Randnotiz: Birgisson hat sehr viel Zeit damit verbracht, sich die über 2000 isländischen Volkslieder, die auf Tonband erhalten sind, anzuhören und zu studieren. Diese wurden Mitte des letzten Jahrhunderts von Musikwissenschaftlern aufgenommen, die durch Island fuhren und Bauern baten ihnen Volkslieder vorzusingen, die bis dahin nur mündlich tradiert wurden. Das melodische Material dieses Stücks stammt von einem isländischen Volkslied, das Birgisson in den Archiven gefunden hat.

Björk – Hidden Place

https://www.youtube.com/watch?v=cpaK4CUhxJo

I gebe zu: Ich habe mich gefragt, ob es überhaupt erlaubt ist, ein Stück von Björk auf diese Playlist mit isländischer Musik zu setzen. Ist das nicht zu viel, zu offensichtlich? Aber ich muss einfach, ihre Arbeit ist inspirierend für mich auf ganz vielen verschiedenen Ebenen.

Hidden Place ist wahrscheinlich der Song, den ich am häufigsten gehört habe – ich weiß nicht wirklich warum. Irgendetwas an ihm ist perfekt und er ist ein so guter Opener für das sinnliche und zuversichtliche Album Vespertine. In Anbetracht des großartigen Motivs bei 0:49 muss ich Björk irgendwann einmal fragen, ob sie Schönbergs Verklärte Nacht gehört hat, als sie den Song geschrieben hat.

Jón Leifs – Requiem; Hallgrimskirkja Motet Choir

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Jón Leifs’ Requiem ist nicht ein Requiem im traditionellen Sinne einer lateinischen Messe, sondern ein kurzes a capella-Stück, das Leifs für seine Tochter geschrieben hat, die kurz vor ihrem 18. Geburtstag ertrunken ist. Der Text, eine Collage von Gedichten von Jónas Hallgrímsson, dem beliebtesten romantischen Dichter Islands, ist ein Wiegenlied, das einem Kind zum Einschlafen gesungen wird. Die Musik schwankt ständig zwischen Dur und Moll, die reine Quinte – ein so präsentes Intervall in der isländischen Folklore – dient als Stütze und verleiht dem Stück einen quasi mittelalterlichen Gestus. Requiem unterscheidet sich sehr stark von dem übrigen Schaffen von Leifs: große Orchesterwerke wie etwa Hekla oder Geysir, die sich der schieren Wucht und der explosiven Kraft der isländischen Natur widmen.

Anna Thorvaldsdottir – Aeriality; Ilan Volkov (Dirigent), Iceland Symphony Orchestra

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Wenn wir gerade schon bei der Natur sind: Thorvaldsdottir bezieht sie in ihre Werke ein, indem sie ihre eigenen Naturzeichnungen in musikalische Strukturen umwandelt. Mittlerweile ist sie international bekannt, aber für diejenigen, die sie nicht kennen: Aeriality ist eine gute Einführung in ihre jenseitigen Klänge und Gesten. Als ich das Stück zum ersten Mal gehört habe, habe ich mich in dem von ihm kreierten Schwebezustand ganz verloren – die sich langsam bewegenden harmonischen Fortschreitungen schaffen einen Rahmen für enormes Leben innerhalb von ihnen.

Þorkell Sigurbjörnsson – Heyr himna smiður; Shaw Street Collective

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Sigurbjörnsson starb 2013. Der Psalm Heyr himna smiður, geschrieben auf ein Gedicht aus dem 12. Jahrhundert von Kolbeinn Tumason, wurde mit der Zeit zu einem jener seltenen Werke, über die sich eine Nation definiert.

Georg Philipp Telemann – Fantasie No. 10 in D-Dur; Elfa Rún Kristindóttir

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Eine Playlist zu isländischer Musik muss Interpreten genauso einschließen wie Komponisten. Elfa Rún Kristindóttir ist eine großartige Geigerin, die kristalline Interpretationen der Fantasien von Telemann und der Konzerte von Bach aufgenommen hat.

Daníel Bjarnason – Klavierkonzert No. 2, Processions III. Red Handed

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Bjarnason hat dieses Stück für mich 2008–2009 geschrieben und wir haben es gemeinsam mit dem isländischen Symphonieorchester im Februar 2009 uraufgeführt mit ihm selbst als Dirigenten. Es war ein unvergesslicher Abend. Alle Menschen in Island waren wütend und ein wenig durcheinander in den düsteren Monaten, die auf den nationalen Fast-Bankrott des Bankensystems im Oktober 2008 folgten. Es gab intensive Proteste, die dazu führten, dass die Regierung einige Tage vor dem Konzert zurücktrat. Alles fühlte sich chaotisch an. Und dann kam dieses Konzert mit ausschließlich neuen isländischen Kompositionen auf dem Programm – ein Format, das es bis dahin schwer gehabt hätte, ein großes Publikum zu finden. An jenem Abend aber war das alte Kinogebäude, das bis zur Eröffnung von Harpa 2011 die Spielstätte des Orchesters war, voll und die Publikumsreaktion war heftig. Diese Atmosphäre kann wahrscheinlich nicht rekreiert werden bis zum nächsten Staatsbankrott.

Ólöf Arnalds – Surrender

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Als ich das erste Mal Musik von Arnalds hörte, dachte ich, dass ich vorher noch nie etwas gehört hatte, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit ihr hat. Das denke ich immer noch. Surrender ist ein sehr persönlicher Song – ein Treffen von Freunden, in dem Björk Hintergrundstimmen improvisiert.¶