Als kleiner Junge, so erzählte der immer bescheiden und entspannt auftretende Komponist Friedrich Cerha mal, habe er den Österreichischen Bürgerkrieg im Jahr 1934 hautnah miterlebt. Sein Vater führte ihn später an die entsprechenden Kriegsschauplätze. Das waren Mahnungen, die Cerha nicht vergessen sollte. Damals hatte er längst Geigenunterricht und schon bald komponierte der keine zehn Jahre alte Friedrich erste eigene Stücke. Mit 13 Jahren kamen Unterweisungen in Harmonielehre und Kontrapunkt dazu. Doch dann wurde der gerade knapp Volljährige zur Wehrmacht eingezogen – und desertierte, gleich zwei Mal. Cerha wurde, so berichtete er, mit dem Satz indoktriniert: »Du bist nichts, die Nation ist alles.« Die tumbe Aufgabe jedweder Individualität – in einen Satz gepackt; ein Befehl, der menschengemachte Barbarei, Unmenschlichkeit, Vernichtung schon fast freiwillig zur Tür herein bittet.

Der 1926 in Wien geborene Friedrich Cerha galt als der wichtigste österreichische Komponist der älteren Generation. Cerha erhielt zahlreiche bedeutende Auszeichnungen, zuletzt 2012 den Ernst von Siemens Musikpreis, der als »Nobelpreis der Musik« gilt, eine Ehrbezeugung, die vielleicht fast schon etwas »spät« kam. Cerha war weder eitel noch ängstlich. Aber die Verachtung für Indoktrinationen blieb; ein langes, sehr langes – und schließlich glückliches Leben lang. Aus der Abscheu gegenüber den einstig erlebten Versuchen der Nationalsozialisten, das Individuum auszulöschen, kristallisierte sich bei Cerha später ein kompositorisches Interesse für die Beleuchtung des Verhältnisses von »Individuum und Masse« heraus. So zoomt Cerha in seinem Bühnenstück Netzwerk aus dem Jahr 1981 – komponiert für das Theater an der Wien – immer wieder Klänge aus der Masse heran, um sie wie unter dem Mikroskop zu betrachten, als Musik gewordene Einzelschicksale.

Nach dem Krieg studierte Cerha ab 1946 an der Akademie für Musik und darstellende Kunst Wien Violine, Komposition, Musikwissenschaft und andere verwandte Fächer. Während des Studiums freundete er sich mit Kompositionskollegen wie Paul Kont (1920–2000) und vor allem mit Schriftstellern und Malern an. Intensiv analysierte er die Werke von Arnold Schönberg und Anton Webern, verlor dabei aber nie seine Liebe zur Musikpraxis aus den Augen. Cerha trat noch viele Jahre als Konzertgeiger und Dirigent auf.

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1950 wurde Cerha promoviert und arbeitet fortan als Musiklehrer an verschiedenen Mittelschulen in Wien. Mit dem Kompositionskollegen Kurt Schwertsik (*1935) zusammen gründete er 1958 das Neue-Musik-Ensemble »die reihe« – und wurde dafür im konservativen Nachkriegs-Wien kritisch beäugt, denn Cerha war stilistisch nie wirklich festgelegt und führte auch Musik des amerikanischen Revoluzzers John Cage auf: »Das hat einen Skandal ausgelöst« – so erinnerte er sich einem VAN-Interview, das er 2019 zusammen mit seiner Frau gab. Cerha fand sich, wegen seines leidenschaftlichen Einsatzes für die zeitgenössische Musik, in seiner Heimatstadt Wien also wieder in eine Außenseiterrolle gedrängt.

Anfang der 1960er Jahre standen  auch Cerhas eigene Werke dann mehr und mehr auf den Konzertprogrammen. Bald war er auf den Lehrerberuf nicht mehr angewiesen, zumal er 1969 auf eine Professur für Komposition an der Musikhochschule Wien berufen wurde. Unter seinen Schülern befand sich später auch der 1953 in Graz geborene Georg Friedrich Haas.

In seinen Kompositionen der 60er Jahre zeigte sich bei Cerha ein anhaltendes Interesse an musikalischen Prozessen. Noch behauptete allerdings die serielle Musik ihre Vorrangstellung; diejenige Musik also, die die Schönbergsche »Zwölftonmethode« in Richtung Ausdifferenzierung vieler musikalischer Parameter (Tondauer, Dynamik, Artikulation) weiterdachte. Auch Cerha eignete sich zum Teil serielle Techniken an, sah allerdings darin bald eine dogmatische Einschränkung musikalischer Möglichkeiten. Kritisch bemerkte er, die Neue Musik leide an einer »enormen Verarmung an Aussagemitteln«, was letztlich nur zu einer »bloßen Aneinanderreihung von Klängen« führe. Auch hier: klare Sicht auf das »Material«, auf die in der Neuen Musik »herrschenden« Verhältnisse.

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In Cerhas Orchesterkomposition Spiegel I – 1968 beim großen polnische Warschauer-Herbst-Musikfestival uraufgeführt – entfaltet sich aus einem Vier-Ton-Orchesterklang ein mannigfaltiges Netz an immer weiter ausschweifenden, oben und unten »ausfransenden« Akkorden. Die anfänglichen Pausen zwischen den einzelnen Orchesterschlägen werden dabei durch stetige Verkürzungen eliminiert, wodurch eine zunehmende Klangdichte des gesamten Orchesters entsteht. Wenige Jahre zuvor hatte György Ligeti mit seiner Orchesterkomposition Atmosphères (1961) – durch Stanley Kubricks Verwendung dieser Musik in seinem Film 2001: A Space Odyssey (1968) übrigens ungefragt geadelt – in großem Stil auf sich aufmerksam gemacht. Im Scherz soll Ligeti nach dem Hören von Cerhas Komposition Spiegel zu diesem gesagt haben: »Du komponierst mein Stück!« Schmunzelnd fügte Cerha in einem Interview aus dem Jahr 2013 hinzu, dass Ligetis Atmosphères jedoch eine reine Klangflächenkomposition sei; seine eigene Musik hingegen weise immer eine Entwicklung im Werk selbst auf, eine Vorliebe zur immerwährenden Veränderung der Klänge … Cerha komponierte Spiegel I im selben Jahr wie Ligeti sein Erfolgsstück Atmosphères; doch Cerhas Werk blieb zunächst einmal in der Schublade liegen, wohingegen Ligetis Stück sofort zur Aufführung kam. Cerhas Werk wurde als »Kopfmusik« gebrandmarkt. Eine Zuschreibung, die verwundert. Cerhas Werke der letzten Jahre wiesen einen hohen Grad an Plastizität, an Durchhörbarkeit auf, sind alles andere als akademisch-intellektuell, sondern vielmehr sinnlich und zugleich musikantisch.

In den 70er Jahren erhielt Cerha bedeutende Kompositionspreise, Förderungen und durch zahlreiche Kompositionsaufträge internationale Anerkennung. 1974 begann er mit der Arbeit an der Oper Baal. Das Werk – nach dem gleichnamigen Drama von Berthold Brecht – wurde 1981 in der Regie des legendären Otto Schenk bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Voller Expression vertont Cerha die Geschichte des jungen Dichtergenies, das allen Vereinnahmungen seiner Kunst trotzt, allen Freunden und Förderern die Frauen ausspannt, seinen besten Freund ermordet – und am Ende selbst stirbt. Cerhas Expressionismus ist dabei quasi neoklassizistisch-kristallin strukturiert. Kein Tutti ist überfrachtet, jede Gesangs- und Sprechstimme ist klar zu verstehen. Im Gegensatz zu anderen Opernkomponierenden der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begeht Cerha nicht den Fehler, durch Überkomplexität der Partitur die Bühnenhandlung »übertreffen« zu wollen. Klug meißelt der Komponist die Essenz des Stoffes heraus, interessiert sich für das Drama selbst, erzählt eine Geschichte – mit Musik. Gleichzeitig lässt sich an diesem großen Bühnenwerk ablauschen, dass Cerhas Musik als schlichtweg »postmodern« zu beschreiben nicht genügt. Cerhas Humor erscheint subtiler, häufig fern der uns heute oft gähnend unlustig vorkommenden Ironie der musikalischen Postmoderne. So ist Baal eine ernste Oper; in der Tradition von Alban Bergs Wozzeck (1922) und Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten (1960).

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Überhaupt scheint das Etikett »postmodern« nicht sehr gut auf das Schaffen Cerhas zu passen. Viel eher spielte Cerha klug mit der ironischen Distanz, die die Postmoderne – als nicht mehr »große Werke« schaffende – proklamierte: In Baal tritt der zweifelhafte Dichter-»Held« inmitten einer ihn feiernden Abendgesellschaft auf. Der Applaus des Live-Opernpublikums, das gerade noch den im Orchestergraben auftretenden Dirigenten willkommen geheißen hat, mischt sich mit dem Applaus und den »Bravo«-Rufen vom Tonband; die Live-Akklamationen gehen fließend über in den Applaus für den Dichter Baal auf der Bühne. Das Publikum wird gewissermaßen zum »Mittäter«; denn Baal betrügt und massakriert die Menschen, auch, weil er mit dem übermäßigen, falschen Zuspruch seiner Bejubler nicht umzugehen weiß. Der Humor der Postmoderne: ja, aber ins Barbarische gewendet.

Wenige bedeutende Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben mehr Opern geschrieben als Cerha, der neben den Bühnenwerken Netzwerk (1981), Baal (1974/81), Der Rattenfänger (1987), Der Riese vom Steinfeld (2002) und zuletzt mit der komischen Oper Onkel Präsident (im Juni 2013 am Staatstheater am Gärtnerplatz München uraufgeführt) Alban Bergs unvollendete Oper Lulu (1935) komplettierte. Cerhas im Februar 1979 an der Pariser Oper unter Pierre Boulez uraufgeführte Lulu-Fassung genießt bis heute hohes Ansehen. Unbestritten eine Großtat Cerhas für die Musikwelt. Weitere sind auf diesem Planeten jetzt leider nicht mehr zu erwarten. Denn Friedrich Cerha ist am 14. Februar 2023 im gesegneten Alter von 96 Jahren in Wien verstorben. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.