Seit fast 365 Tagen leben Kinder und Jugendliche in der Ukraine im permanenten Ausnahmezustand. Jeden Abend gehen sie in der Angst zu Bett, dass Raketen ihr Zuhause treffen«, sagt Murat Sahin, Leiter von UNICEF Ukraine. Nach jüngsten Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen wurden in den letzten zwölf Monaten in der Ukraine mindestens 438 Kinder durch Kriegshandlungen getötet und 842 verletzt. Mehr als 2.300 Bildungseinrichtungen und mehr als 1.000 Gesundheitseinrichtungen wurden beschädigt oder zerstört. Dies sind lediglich die verifizierten Fälle. Innerhalb des Landes sind rund 3,3 Millionen Kinder und Jugendliche auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Überall finden sich Blindgänger und Landminen und bringen Kinder weiter in Gefahr. Jeden Tag, den der Krieg weitergeht, wächst auch die psychische Belastung der Kinder. UNICEF schätzt mit aller Vorsicht, dass etwa 1,5 Millionen Kinder in der Ukraine ein hohes Risiko haben, an Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen zu erkranken. Der Musiktherapeut Nigel Osborne arbeitet seit vielen Monaten mit Kindern und Jugendlichen in der Ukraine. Hier berichtet er von seinen Erfahrungen.

Die Hälfte eines jeden Monats arbeite ich in der Ukraine. Dabei hat sich folgender Rhythmus etabliert: Sonntags fliege ich von Edinburgh nach Krakau, übernachte in Przemyśl an der polnischen Grenze in einem »last chance saloon« für Mitarbeiter:innen von Hilfsorganisationen, Journalist:innen und anderen, die ins Kriegsgebiet wollen, und nehme am Montagmorgen den Zug über die Grenze nach Lviv.

Lviv erlebe ich, wie Adam Zagajewski es in einem Liebesgedicht an die Stadt beschrieb:

Immer gab’s zu viel Lemberg, niemand konnte
alle Stadtteile kennen, das Flüstern von jedem
Stein erlauschen, den die Sonne
versengt hat …

Für mich ist es eine »gelebte« Stadt, eine Stadt der Engel und Astronaut:innen, die über Kuppeln, Türmen und Kirchturmspitzen schweben. Es ist die Stadt von Iryna Vilde, Bruno Schulz, Ivan Franko, Zbigniew Herbert, Shalom Aleichem und Stanisław Lem. Es ist außerdem die Heimat zahlreicher Komponist:innen (Oksana Lutsyshyn oder Wojciech Kilar, der die Musik für die Filme Andrzej Wajdas komponierte), ein ukrainischer Schmelztiegel der ruthenischen, kroatischen, jüdischen und polnischen Kultur. An jeder Straßenecke bietet sich mir ein opulenter Blick auf Barock, Klassik, Manierismus, Sezession, Art déco oder Funktionalismus, jeweils mit einem langen, tiefen Nachhall des reichen Lebens, das einst gelebt wurde und immer noch gelebt wird, von Synagogenuhren, Glocken und Orgeln.

Am Bahnhof werde ich von einem meiner eigenen Schutzengel empfangen – Dr. Anastasiia Shyroka, die an der Ukrainischen Katholischen Universität (UCU) in Lviv Psychotherapie lehrt. Anastasiia und ich gehen die Pläne für die nächsten Tage durch.

Am Dienstag werde ich von einem Fliegeralarm geweckt. Für diesen Tag sind Vorlesungen und Workshops an der UCU und online an der Universität der Künste in Charkiw geplant. Ich leite ein Mastermodul über »Music in Community«, das die Studierenden in die relevanten Aspekte der neuen biologischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung zu Musik einführen und sie auf die Arbeit mit Kindern, die Opfer des Krieges sind, vorbereiten soll.

Mittwoch, Donnerstag und Freitag sind der Arbeit in Kinderheimen gewidmet. Dort leite und betreue ich Gruppen von Studierenden und Praktikant:innen. Die Kinder sind aus Orten wie Mariupol und Saporischschja in diese Heime gekommen. Es handelt sich um eine Mischung aus Kriegswaisen und Kindern, die aus verschiedenen anderen Gründen von ihren Eltern getrennt wurden. Die Heime werden verantwortungsvoll geleitet, aber auf den Kindern lasten trotzdem all die Probleme, die der Krieg für junge Menschen mit sich bringt: Hyperaktivität im Wechsel mit Antriebslosigkeit, Konzentrationsschwäche und mangelnde Fähigkeit zur emotionalen Beteiligung.

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Unsere jüngste Gruppe besteht aus neun kürzlich verwaisten Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren. In der letzten Sitzung haben wir zwei Kinderlieder gesungen. Wir unterrichten bei Kindern in diesem Alter die Lieder nicht aktiv, sie lernen sie durch Mitsingen: Kotiku Bilenkiy (weiße Katze) und Dva Pivnyky (zwei Hähne). Ich habe eine weiße Spielzeugkatze mitgebracht. Wir reichen sie an die Kinder weiter, damit sie das Fell berühren und die Katze herumlaufen lassen. Mein Ziel ist hier die sensorische und sensomotorische Stimulation. Dann gehen wir dazu über, einen einfachen Rhythmus zu klatschen – was den Kindern, die ihr Zeitempfinden verloren haben, hilft, dieses wiederherzustellen. Dabei stellen wir fest, dass einige Kinder schon gut im Takt klatschen können, andere weniger gut und einige gar nicht… Außerdem bieten wir den Kindern emotionale Stimulation, indem wir die Geräusche von Katzen nachahmen und nutzen, um verschiedene Gefühle auszudrücken.

Als Höhepunkt des Treffens erzählen wir ein ukrainisches Volksmärchen, in dem eine Katze und ein Hahn eine Hütte bauen, um darin zu leben. Wir bauen die Hütte aus Stühlen, Kissen und Decken nach, und die Kinder genießen es, darin zu sein. Unser Ziel ist, die Fantasie anzuregen und eine familiäre Atmosphäre und Sicherheit zu schaffen.

Mit den älteren Gruppen schreiben wir oft Lieder. Dabei versuchen wir, Worte zu finden und Töne und Harmonien sorgfältig auszuwählen, um die kognitiven Fähigkeiten und die Konzentration der Kinder zu stärken. In den Texten geht es um Sinn, Identität und darum, die Kombination von Worten und Musik zu wertvollen emotionalen Erfahrungen werden zu lassen. All das regt die Kreativität an und das Endergebnis, das Lied, erzeugt Zufriedenheit, Selbstachtung, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl – als wichtige Symbole des Lebens und der Existenz. Ein kleiner Junge (der möglicherweise selbstverletztendes Verhalten zeigt und auf eigenen Wunsch ins Krankenhaus gehen möchte) besteht darauf, dem Leiter des Heims sein Lied vorzusingen.

Einige der Lieder, die die Kinder schreiben, sind wertvolle Erfahrungsberichte. Beim letzten Mal hatte eine Gruppe von 6- bis 10-Jährigen Spaß am Schlagzeugspielen und schrieb: Veliki baraban veliki baraban, yaki baraban, yaki baraban (»eine große Trommel, eine große Trommel. Welche Trommel? Welche Trommel?…«). Leider begannen die Luftschutzsirenen zu heulen, und mitten in unserer Sitzung gab es einen Stromausfall. Wir gingen hinunter in den Luftschutzkeller, einen schmalen Korridor tief im Gebäude, und komponierten und sangen unser Lied in der Dunkelheit mit flackernden Handy-Taschenlampen weiter. Diesmal fügen die Kinder eine »kleine Gitarre«, ein »grünes Klavier« und eine »kleine Fiedel« hinzu und erzählen in einem neuen Bewegungslied eine lustige Geschichte: malpochka tantsuye I yit banane I spit, hulyaye I skoche po derevah…. »Der Affe tanzt und isst eine Banane, er schläft, er läuft und springt durch die Bäume. Der Panda macht Kung-Fu und jagt einen Schmetterling, er isst Bambus und spielt im Park.« Den Kindern macht es natürlich Spaß, sich mit Hilfe der Tiere ein normales Leben vorzustellen.

Manchmal kommen auch persönlichere Dinge zum Vorschein. In einer Gruppe von Kindern zwischen 10 und 12 Jahren schrieb ein Junge ein Lied: Ne znayu chom ya zly, ya zly, ya zly……Ya ne zly. Ta spokiyni: »Ich weiß nicht, warum ich wütend bin, ich bin wütend, ich bin wütend… jetzt bin ich nicht mehr wütend, ich bin friedlich.« Er nutzte das Lied, um seine Stimmungsschwankungen zu erklären – er passte die Musik den Emotionen entsprechend an und wechselte in eine Dur-Harmonie, als er sich ruhig fühlte.

In vielen Liedern der älteren Kinder geht es um Begegnungen. Ein schwarzer Hund trifft im Park auf ein kleines Kätzchen. Eine Tulpe, eine Rose, eine Mohnblume und ein Kamillenpflänzchen kommen im Garten zusammen; sie sehen »die Morgendämmerung, die Sonne und die Schönheit der Welt«. Hier werden natürlich das Zusammensein und die schönen Dinge, die man mit Familie und Freunden erlebt, zelebriert. Einige der Kinderlieder feiern die Heimat und die Nation: »Ein Haus für die Familie, ein großes Haus, ein Haus in der Ukraine. Wir leben in dem Haus, wir schlafen in dem Haus, wir kochen unser Essen.« Oder »Ein fröhliches Lied über die Ukraine – eine Nachtigall, die singt für unser Volk, unsere Stärke und unsere Unabhängigkeit.«

Ukrainische Kinder lieben es, in der Musik um die Welt zu reisen. Ich bringe den Gruppen einfache Lieder aus vier Kontinenten bei – Lieder, die man sofort lernen kann. Ich versuche, die Kinder auf emotionale Reisen mitzunehmen und dabei ihr autonomes Nervensystem, ihr limbisches System, ihr endokrines System, ihr Atem- und Bewegungsrepertoire und so weiter zu trainieren (und hoffentlich zur Regulierung beizutragen). Sobald wir die grundlegenden Lieder und Rhythmen gelernt haben, ermutige ich die Kinder zum Improvisieren. In den Heimen wird daraus schnell eine Gruppen-Improvisation, eine psychobiologische und psychodynamische Übung, die Themen wie Empathie, Vertrauen, Selbstausdruck und Selbstvertrauen behandelt.


Und nun ist es auch für mich Zeit zu reisen – zu meiner zweiten Arbeitswoche in der Ostukraine. Ich mache mich spätabends mit dem vielleicht außergewöhnlichsten meiner Schutzengel auf den Weg zum Bahnhof: Julia Nikolaevska, Dekanin für Musik an der Universität der Künste in Charkiw. Julia hat schon mehrmals mit einigen ihrer Studierenden die 30-stündige, manchmal gefährliche Reise von Charkiw auf sich genommen, um meine Vorlesungen und Workshops in Lviv zu besuchen. Wie Anastasia weckt Julia in mir die Hoffnung, dass die Hochschulbildung eines Tages aus den Fängen der Bürokratie, der Kommerzialisierung des Wissens und den weltfremden Strukturen der akademischen Führung entkommen kann, die sie in den letzten Jahrzehnten nach und nach gelähmt haben. Diese Frauen sind leidenschaftliche Aktivistinnen für Kreativität, Wissenschaft und Lehre: Aus ihnen spricht die Zukunft, und ich hoffe aufrichtig, dass diese bald kommt!

Auf dem Bahnhof wimmelt es von Soldaten. Während ich versuche, zu dem sanften rhythmischen Rattern des verdunkelten Zuges einzuschlafen, denke ich an Charkiw: seine pastellfarbenen Gebäude und goldenen Kuppeln, seine breiten, von Bäumen gesäumten Alleen unter einem großen Himmel. So wie Lviv nach Westen blickt – zu den westslawischen Ländern, Polen und Mitteleuropa – ist Charkiw der Osten. Und ich denke an den Alltag meiner Kinder: in den Krankenhäusern und in den kürzlich besetzten Dörfern an der Front, die durch Bombardierungen und den Durchzug der Armeen entmenschlicht wurden. Die Charkiwer Kinderlieder spielen in Dauerschleife in meinem Kopf – zum Beispiel ein Lied, das die Kinder im Krankenhaus komponiert haben; über ein »weißes Traumflugzeug« (Bili litak mriya), das in den tiefblauen Himmel fliegt: »Wir sind alle im Flugzeug – Karina, Anya, Maryana, Nazar, Maxim, Irishka, Nizhana, Ulyana, Lip, Vova und Andrey.« Ein so simples Lied wird sehr tiefgründig, wenn wir erkennen, dass das Flugzeug ein Symbol für die Kinder ist. Wegfliegen ist nicht weglaufen – es bedeutet, dass sie wieder die Kontrolle über ihr Leben übernehmen: was sie tun und wohin sie gehen. Und natürlich werden sie es gemeinsam tun.

Sogar die Ärzt:innen im Krankenhaus haben mit mir ein Lied geschrieben – auf Russisch, obwohl die meisten ukrainischen Russischsprechenden eigentlich wütend auf diese Sprache sind: horosha nastroye, lublyena robota, Ditei, Rodina, druzya, tihi noch – »eine gute Atmosphäre, Arbeit, die wir lieben, Kinder, Familie, Freundschaft… ruhige Nacht«. Der Rhythmus von tihi noch (stille Nacht) fügt sich in das sanfte Schaukeln des Zuges ein, während wir durch die Dunkelheit in Richtung Osten nach Charkivshchyna rollen. ¶

… arbeitet als Komponist, Lehrer, Wissenschaftler und für Hilfsorganisationen. Er leistete Pionierarbeit bei der Anwendung von Musik und kreativen Künsten zur Unterstützung von Kindern, die Opfer von Konflikten sind. Dieser Ansatz wurde während des Krieges in Bosnien-Herzegowina (1992–95) entwickelt und seitdem in der Balkanregion, im Kaukasus (Tschetschenien), im Nahen Osten (Palästina, Syrien und Libanon), in Ostafrika, Südostasien und zuletzt in der Ukraine umgesetzt.

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