Die sogenannten »Performing Arts« – Musik, Theater, Tanz – haben es mit einem Kanon von alten, starken Stücken zu tun, von denen einige unkaputtbar sind. Sie überleben erstaunlicherweise jede Bearbeitung, und sei die noch so rat- und sinnlos. Jede Überfrachtung, jede Unterschätzung, jedes Missverständnis. Sie verzeihen selbst handfeste Fehler. Immer bleibt ein lebendiger Kern übrig, der sich wie von selbst mitteilt, jenseits der Mühen der Interpretation. Zum Beispiel: Pelléas et Mélisande von Debussy. Oder: Die Zauberflöte von Mozart. Oder: Schuberts große C-Dur-Symphonie. Daneben gibt es aber auch ein paar weniger robuste Stücke, die spezielle Überlebensbedingungen brauchen. Die hängen quasi am Tropf ihrer Interpreten. Dazu gehört die Oper Daphne von Richard Strauss.

Ein weltflüchtiger, raffinierter Einakter, ein Spätwerk. Ungefähr so kurz wie die Elektra. Aber anders als bei Elektra machen die Opernhäuser um Daphne lieber einen großen Bogen. In Berlin wurde das Stück zuletzt vor einem Vierteljahrhundert gezeigt, in einer luftigen, von griechischem Licht durchfluteten Inszenierung von Anthony Pilavachi. Der junge Thielemann dirigierte damals die Premiere an der Deutschen Oper Berlin. Lange her. Jetzt hat die Lindenoper eine Neuproduktion auf den Spielplan gesetzt, dafür eigens einen herumgereichten Regisseur engagiert und sowohl interessante junge wie auch altbewährte Sänger. Die Vorfreude war groß. Die Enttäuschung ist riesig. Um es gleich zu sagen: Diese Daphne ist für die Katz. 

Vera-Lotte Boecker (Daphne), Pavel Černoch (Apollo) • Foto © Monika Rittershaus

Soweit die Kurzkritik. Für diejenigen, die weiterlesen wollen: hier die Details. Wie es schon im Kinderlied heißt, läuft die Katze im Schnee. Er rieselt fuderweise aus dem Schnürboden herunter, rund hundertfünf Minuten lang. Es gehört ja neuerdings zum Opernregie-ABC, alle möglichen Schauplätze in die Arktis oder einen atomaren Winter zu verlegen, zur Warnung vor Klimawandel und Krieg. Auch das antike Arkadien, in dem sich die Nymphe Daphne, um nicht von Sonnengott Apoll vernascht zu werden, frei nach Ovid in einen Lorbeerbaum verwandelt, befindet sich diesmal in Sibirien. Romeo Castellucci, verantwortlich nicht nur für die Regie, sondern auch für Bühnenbild, Kostüme und Licht, entwarf dafür ein beeindruckend leeres Tableau. Rechts ragt das Gerippe einer toten Birke. Links liegen, unter der Papierschneedecke, ein paar Eisblöcke herum oder auch die Reste eines eingestürzten Tempels. Es ist zu dunkel, um Genaueres zu sagen. Gelegentlich wetterleuchtet es rötlich oder bläulich am Horizont. 

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Die Überlebenden des Armageddons lassen sich davon aber nicht bange machen. Sie sind gut eingemummelt in Schals, Mützen und Daunenjacken und versammeln sich so zu einem, wie es im Libretto heißt, »Dionysosfest«. Aus den Blöcken basteln sie Skulpturen, die gleich wieder lautlos einstürzen. Ihre Schreit-Tänze erinnern an einen eingefrorenen Eurythmiekurs. Wenn der angeblich als Hirte verkleidete Apoll, mitten unter ihnen, den angeblich als Mädchen verkleideten Rivalen Leukippos tötet, wird ein ganzer Kanister mit Theaterblut vergossen, das immerhin ist deutlich zu erkennen. Daphne ihrerseits, das Objekt der Begierde, hat sich als einzige schon in den ersten fünf bläserumschwebten Minuten bis auf die Unterwäsche entkleidet: ein Wink mit dem Zaunpfahl. Sie turnt hypermotorisch herum, vielleicht, damit ihr nicht kalt wird. Am Ende aber verpasst sie ihre Metamorphose. Rupft besagte Birke aus dem Bühnenboden, buddelt für sich selbst emsig ein Erdloch, in dem sie verschwindet. 

Vera-Lotte Boecker (Daphne) • Foto © Monika Rittershaus

Nun ja. Die Bühnenfotos von Monika Rittershaus, diesmal gebündelt dem Programmbuch beigelegt in einem eigenen Tiefdruck-Heft, schaffen es tatsächlich, die Evidenz der ewigen Schneemetapher so auszuleuchten, dass ihnen eine rätselhafte Kraft zuwächst: Poesie der Leere. Schönheit der Statik. Man hat das aus dem Zuschauerraum so nicht wahrnehmen können. Vielleicht war es aber trotzdem da. Im Übrigen gilt: Wer eine Castellucci-Inszenierung bucht, der sollte nicht damit rechnen, dass er etwas von der Handlung mitkriegt. Castellucci arbeitet nie mit dem Narrativ, stattdessen mit freier Assoziation und offenen Fragen, auf diversen Metaebenen. Das Publikum darf sich dazu etwas denken, das kann spannend sein. Diesmal hätte es eine konzertante Aufführung aber sicher auch getan.

Eine »Bukolische Tragödie« hat der alte Richard Strauss seine Daphne im Untertitel genannt, komponiert im Vorschatten des Zweiten Weltkriegs. Sie sollte das idyllisch-eskapistische Gegenstück sein zu dem politisch absolut inkorrekten Einakter Friedenstag, der gleichzeitig entstand. Geplant war, beide Stücke an einem Abend aufzuführen. Bei Daphne handelt sich um eine Vergewaltigungsoper, einerseits. Um jenseitiges Glücksversprechen, auf Bildungsbürgerniveau, andererseits. Um ein ins Menschelnde verbogenes Gleichnis, eine spießige Psycho-Dreiecksgeschichte. 

Magnus Dietrich (Leukippos), Vera-Lotte Boecker (Daphne) • Foto © Monika Rittershaus

Um überleben zu können auf der Bühne braucht diese Oper, in all ihren Widersprüchen, die sie seit der Uraufführung in Dresden 1938 mit sich herum schleppt, vor allem eines: ein vielfarbig leuchtendes Orchester-Organ aus lauter starken Solisten, das überschwänglich aufrauschen, aber auch transparente Kammermusik abliefern kann. Die übersteigerte Raffinesse der Partitur besteht darin, dass mehrere widerstreitende Affekte gleichzeitig dargestellt werden – jene berühmten »gemischten Gefühle«, die, wie Nietzsche einst schrieb, die einzig wahren seien. Außerdem braucht es einen Dirigenten mit Klangphantasie, der auch große dynamische Bögen riskiert. Außerdem: zwei gute Tenöre, nämlich einen strahlend-metallischen Heldentenor und einen lyrischen, mit Belcantobeweglichkeit. Und: einen jugendlich-dramatischen Sopran mit lyrischem Schmelz, leicht genug, um Koloraturen quer durch alle Register zu singen, schwer genug für Wucht und Durchschlagskraft. 

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Fast all das hat gefehlt. Die Staatskapelle tönte ungewöhnlich wattig und diffus, wie gedrosselt. Thomas Guggeis dirigierte auf Sicherheit. Vera-Lotte Boecker, mit Vorschusslorbeeren überschüttet und vom Publikum dankbar bejubelt, sang ihren Daphne-Part glasklar, lieblich, niedlich. Ins Dramatische muss sie erst noch hineinwachsen. Pavel Černoch (als Apoll) ließ statt Heldenglanz am Ende nur noch Heldenblech hören. Auch René Pape (als Flussgott Peneios) blieb unter den eigenen Möglichkeiten. Einzig Anna Kissjudit (als Gaea) und der junge Opernstudio-Absolvent Magnus Dietrich (als Leukippos) wurden ihrer Rolle einigermaßen gerecht. Was ist da passiert? Wie konnte das geschehen? Lieber gar keine Daphne, als diese. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.