Kateryna, die neue Oper des ukrainischen Komponisten Alexander Rodin, sollte eigentlich Ende März 2022 in Odessa uraufgeführt werden. Dann marschierte Russland völkerrechtswidrig in die Ukraine ein und das Opernhaus in Odessa musste vorübergehend schließen. Allen Widrigkeiten und Grausamkeiten zum Trotz wurden die Proben im Sommer wieder aufgenommen. Premiere feierte die Inszenierung von Oksana Taranenko am 17. September (eine Aufzeichnung ist ab dem 24. Februar zu sehen auf ARTE Concert). Ich treffe die Regisseurin während eines Kurzbesuchs in Berlin auf einen Kaffee. Sie ist sehr offen und herzlich, zum Abschied umarmt sie mich.

VAN: Die Ungewissheit während dieser Produktion muss dich viel emotionale und mentale Energie gekostet haben. Gab es einen Moment, in dem du aufgeben wolltest?
Oksana Taranenko: Ja, gab es. Die Premiere war für den 21. Dezember 2021 geplant, aber das war mitten in der zweiten Covid-Welle. Die Generaldirektorin der Oper, Nadiya Babich – ihr Name bedeutet übrigens ›Hoffnung‹–, wäre damals fast gestorben. Sie war schwer an Corona erkrankt und lag zwei Wochen in der Notaufnahme. Sie erholte sich, aber wir mussten die Produktion auf März verschieben. Damals dachten wir: Schlimmer kann es nicht kommen. Wir hatten ja keine Ahnung. Dann eskalierte die Situation mit Russland so schnell und eines morgens hieß es auf einmal: Es ist Krieg. Wir hatten an diesem Tag eine Probe. Alexander Rodin,der Choreograph und ich telefonierten und überlegten, ob wir die Probe absagen sollten. Wir hatten alle noch gehofft, dass der Spuk nur ein paar Tage dauern würde.
Als die Probe von der Generaldirektion der Oper abgesagt wurde, bin ich erstmal nach Kyjiw zurückgefahren, wo meine Familie lebt. Die Russen hatten schon begonnen, in die Stadt einzumarschieren, und die Leute filmten von ihren Fenstern aus die vorbeifahrenden Panzer. Also sind wir sofort in ein Auto gesprungen und mein Mann, der Türke ist, brachte meine Eltern und mich nach Istanbul. Unterwegs machten wir Halt in einem Hotel in Moldawien. Da konnte ich endlich kurz durchatmen und habe zum ersten Mal wieder den Chat mit den Leuten vom Opernhaus Odessa geöffnet: Jemand hatte ein Video gepostet, in dem Ensemble-Mitglieder zu sehen waren, die gemeinsam mit anderen Freiwilligen am Strand Sand sammelten, um daraus Säcke für den Bau von Barrikaden zu bauen. Dabei sangen sie gemeinsam die ukrainische Nationalhymne und alte Volkslieder. Ich wusste nicht, ob ich sie jemals wiedersehen würde. Das war wahrscheinlich der schlimmste Tag für mich.
Ich habe großes Glück, dass bisher alle meine Verwandten überlebt haben, aber viele meiner Freunde sind in der Armee. Viele von ihnen wurden verwundet oder getötet.
Ich habe keine Kinder und meine Kunst ist alles für mich. Wenn man das verliert, verliert das Leben seinen Sinn. An einem Tag ist man Opernregisseurin, erschafft wunderschöne Dinge mit talentierten Menschen, und am nächsten Tag steht man im Sozialzentrum für Essen an. Ich war völlig verloren.

Aber irgendwann ging es doch weiter?
Irgendwann im Mai rief Nadiya mich an: ›Wir machen Kateryna. Bist du dabei?‹ Und ich sagte: ›ja, natürlich.‹
Kam es vor, dass ihr eine Probe oder Aufführung wegen eines Angriffs unterbrechen musstet?
Wir mussten eigentlich jeden zweiten Tag wegen Luftalarm unterbrechen. Wenn das passiert, ist man verpflichtet, alles stehen und liegen zu lassen und in einen Luftschutzkeller zu gehen. Die Zeit kriegt man nicht zurück. Wir wussten nie, ob wir wirklich bis zur Premiere fertig werden würden. Aber auf die Dauer gewöhnt man sich daran. Manche von uns sind irgendwann nur noch auf die Straße gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Irgendwann denkt man sich: ›Was soll’s? Wenn wir wirklich bombardiert werden, sterbe ich. Bis dahin will ich wenigstens Freude an meiner Arbeit haben.‹
Als die Proben wieder begannen, fehlte noch unser Choreograph. Er hatte sich freiwillig für die Territorialverteidigung gemeldet. Es war nicht leicht, ihn zurückzuholen, aber wir haben es geschafft. Und als er ankam, in Uniform, mit Militärrucksack auf dem Rücken, hat er erstmal drei Tage lang nicht gesprochen. Er war traumatisiert. Außerdem fehlten Sopranstimmen im Chor, weil die meisten von ihnen junge Frauen waren, die ins Ausland gegangen waren, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.
Wegen russischer Angriffe auf wichtige Infrastruktur kam es überall in der Ukraine zu Stromausfällen. Hat das bei den Proben zu Problemen geführt?
Das kam später. Die Probleme mit der Stromversorgung fingen erst im Oktober an. Das war allerdings die Zeit, in der wir die Produktion filmen wollten. Das haben wir dann mit Hilfe riesiger Generatoren gemacht. Es ist schon ein sehr besonderes Gefühl, wenn du durch eine völlig verdunkelte Stadt zum Opernhaus läufst und auf einmal eine Oase aus Wärme und Licht betrittst. Das Opernhaus in Odessa ist außerdem so ein schönes Gebäude, umgeben von einem kleinen Park und nur ein paar Schritte vom Meer entfernt.

Was hat dir und deinem Team geholfen, den Mut nicht zu verlieren?
Zu wissen, dass wir etwas Sinnvolles tun. Dass wir den Ukrainerinnen und Ukrainern in Kriegszeiten etwas von Bedeutung zeigen. Nacktes Überleben ist nämlich nicht genug. Man muss auch für etwas leben.
Hattest du Angst?
Hatte ich Angst? Nein… Es ging um mehr als das. Man sagt, Geographie ist ein Schicksal. Wir Ukrainerinnen und Ukrainer können nicht einfach woanders leben. Was sollen wir denn tun? In diesem Sinne hab ich auch nur getan, was ich tun musste.
Sind die Mitglieder der Originalbesetzung noch immer in der Ukraine?
Ich glaube, ja. Ich wünschte auch, ich wäre jetzt gerade da. Aber ich habe das Gefühl, es ist meine Aufgabe, Bande zwischen der Ukraine und Europa zu knüpfen.
Du bist eine Botschafterin?
Ja, irgendwie schon.
Kateryna erzählt die Geschichte einer jungen Ukrainerin, die sich in einen russischen Soldaten verliebt. Als er vom Schlachtfeld zurückkehrt, hat der Krieg ihn kühl und hart gemacht. Er tut sogar so, als würde er Kateryna nicht erkennen. Mit gebrochenem Herzen beschließt Kateryna, zu sterben. Ist das eine Metapher für die russisch-ukrainischen Beziehungen?
Ja. Katerynas Geschichte ist sehr symbolisch. Die moderne Psychologie spricht von co-abhängigen Beziehungen, die extrem dysfunktional sind. Die Ukraine war 400 Jahre lang in einer solchen co-abhängigen Beziehung. Wir haben uns von den Russen ausnutzen lassen, sie im wahrsten Sinne des Wortes gefüttert und unterstützt, wie Frauen ihre Männer, bevor der Feminismus kam. Gleichzeitig hatten wir lange einen starken Minderwertigkeitskomplex, was typisch ist für co-abhängige Beziehungen. Wir dachten: ›Sie sind größer und besser als wir.‹ Erst in den 30 Jahren der Unabhängigkeit haben wir unsere Identität gefunden.
Das Libretto der Oper basiert auf einem Gedicht des Ukrainers Taras Schewtschenko.
Sein Vermächtnis fließt durch unsere Adern. Schewtschenko war nicht nur Dichter, er war auch Maler. Eines seiner Bilder zeigt Kateryna, schwanger und verlassen. Kateryna ist auf diesem Gemälde so schön wie die Venus von Botticelli. Schewtschenko hat sie nicht als hässliche, arme Bauerstochter dargestellt, sondern als eine Frau, die es wert ist, angebetet und verehrt zu werden. Und genau das tut das Gedicht. In meiner Interpretation geht es aber nicht nur um Katerynas Leid, sondern vor allem um ihre Stärke. Den beiden Sängerinnen, die die Rolle in meiner Inszenierung übernehmen, habe ich immer wieder gesagt: ›Seid stark, seid unerschütterlich in eurer Liebe, seid loyal.‹
Ein bisschen wie Penelope in Il ritorno d’Ulisse?
Ja, nur dass Penelope die ganze Zeit herum sitzt und wartet. Kateryna geht ganz allein in den Wald, um ihren Liebsten zu finden und ihm ein Geschenk zu bringen – ihr gemeinsames Kind. Weil sie als gefallene Frau aber von allen verstoßen wurde – von ihrer Familie, dem Vater ihres Kindes und der Gesellschaft im Allgemeinen – bleibt ihr am Ende nur der Selbstmord. Das ist alles ziemlich traurig und genauso klingt auch die Musik. Mit meiner Inszenierung versuche ich aber zu zeigen, dass sich die Zeiten geändert haben: Wir können für uns selbst einstehen. Wir sind keine Opfer mehr und werden uns nicht länger missbrauchen lassen.
Stimmt es, dass in der Oper Instrumente eingesetzt werden, die Naturgeräusche imitieren und speziell für Kateryna entwickelt wurden?
Das ist eine längere Geschichte. Das Schöne an Alexander Rodins Musik ist, dass sie sehr ukrainisch ist. Beim Zuhören lernt man sehr viel über die Ukrainerinnen und Ukrainer, über ihre Verspieltheit, ihre tiefe Verbundenheit zur Natur und zu uralten heidnischen Ritualen. Davon kommen in dem Stück eine Menge vor, zum Beispiel die Mitsommer-Rituale, wo man über Feuer springt und Strohpuppen verbrennt. So ganz haben wir Ukrainerinnen und Ukrainer nie aufgehört, an Meerjungfrauen und andere mystische Wesen zu glauben. Teil dieser heidnischen Traditionen ist auch ein Wandertheater, das wir ›Vertep‹ nennen. Darin spielen sieben wiederkehrende Charaktere eine Rolle: ein Wirt, ein Geige spielender Todesengel, ein blinder Poet und so weiter.

Also eine ukrainische Version der Commedia dell’arte?
Ja, genau! Alexanders Oper bringt dieses Wandertheater auf die Bühne und seine Figuren erzählen schließlich Katerynas Geschichte. Zu diesen sieben Figuren gehören jeweils bestimmte Geräusche. Zum Beispiel ist da das Geräusch von Eis, das zu Wasser schmilzt und den Frühling und die Liebe ankündigt. Dafür hat Alexander Rodin eigenhändig Windspiele aus vielen kleinen Glöckchen angefertigt. Er hat auch selbst eine Regen- und eine Windmaschine gebaut. All diese Instrumente sind nicht Teil der Orchesterpartitur. Er brachte sie einfach mit in die Probe und sagte zu mir: ›Mach was draus!‹ Ich habe kleine Zwischenspiele entwickelt, in denen die Vertep-Charaktere magische Rituale vollführen und damit die nächste Szene einläuten. Diese neuen Instrumente stehen gewissermaßen für heidnische Magie.
Was ist sonst noch typisch ukrainisch an der Musik?
Die Szenen mit Chor. Die Polyphonie ist in der ukrainischen Kultur tief verwurzelt. Wir sitzen oft zusammen am Tisch und singen mehrstimmig. Schon meine Großmutter hat das gemacht, das ist für uns etwas ganz Natürliches.
Was sind deine Hoffnungen für die Zukunft der Oper in der Ukraine?
Die Ukraine ist ein großes Land. Reich an Geschichte, reich an Musik und reich an talentierten Menschen. So lange haben wir unsere musikalischen Ressourcen Europa und der Welt einfach so zur Verfügung gestellt. Ich wünsche mir, dass das aufhört. Wir standen so lange im Schatten anderer Kulturen, die mit Sicherheit großartig sind, aber deshalb noch lange nicht großartiger als wir. Die haben sich nur besser vermarktet, weil sie Geld hatten. Wir hatten nie die Chance dazu. Wir haben so viele begabte Komponistinnen und Komponisten. Ich meine: Smetana, der ja auch ein slawischer Komponist ist, hat seinen festen Platz in der europäischen Musik, aber niemand kennt Ljatoschynskyj, Stankovych oder Rodin, der wirklich ein lebendes Genie ist. Gerade jetzt würde ich allen ans Herz legen: Hört ukrainische Musik! Sucht danach!
Kannst du drei lebende ukrainische Komponistinnen oder Komponisten nennen, die man unbedingt hören sollte?
Ich gebe dir sogar vier Namen: Alexander Rodin, Ivan Nebesnyy, Zoltan Almashi und dann noch Roman Grygoriv und Illia Razumeiko – zwei Avantgardekünstler, die als Duo arbeiten.
Kann Musik in so schweren Zeiten helfen?
Die Ukrainer sind sehr musikalisch. Ich habe irgendwo gelesen, dass die ukrainische Sprachmelodie sehr angenehm ist fürs Singen – ein bisschen wie Italienisch. Wir haben eine Jahrtausende alte Volksliedtradition. Singen ist für uns wie Atmen. Auf diese Weise können wir uns ausdrücken und unsere Geschichte erzählen. ¶