Scheherazade in Magdeburg! Ausgerechnet für eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht reise ich in die Hauptstadt Sachsen-Anhalts. Auf den ersten Blick keine Schönheit. Der Zweite Weltkrieg hatte sie fast komplett zerstört, was an Altbau-Ruinen noch stand, sprengte später der Sozialismus in die Luft. Vielleicht ein Grund, warum sich die klassizistische Fassade des Opernhauses weit weg vom Zentrum duckt. Die Traumata von Zerstörung und Wiederaufbau lassen sich gut an ihren Wänden ablesen.
Am Abend wird hier die Mezzosopranistin Emilie Renard und später die Solovioline der Magdeburger Philharmoniker Prinzessin Scheherazade zum Leben erwecken. Das Programmheft lockt mit Ibert, Boulanger, Ravel und Rimski-Korsakow. Was wir so gern als Inbegriff eines märchenhaftes Orientbildes lesen, war – so lese ich weiter – bereits für die ersten arabischen Leser des 8. und 9. Jahrhunderts exotisch. Denn die Rahmengeschichte vom grausamen König Schahryâr und der eloquenten Prinzessin Scheherazade stammt aus Persien, die wiederum mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von einer indischen Vorlage inspiriert war. Die Geschichte, die im Laufe der Jahrhunderte zu einer großen Fabel-Sammlung anwuchs, kennt also weder Autor noch Original, sondern nur verschiedene kulturelle und ästhetische Perspektiven. Der europäische Blick auf den berühmten Märchenstoff wurde wesentlich von einem Franzosen bestimmt, Antoine Galland, der seine Nachdichtung Les mille et une nuits, contes arabes 1704 veröffentlichte. Etwa zur selben Zeit etablierte sich in Magdeburg ein Theaterleben. Die Magdeburger Spielzeiteröffnung verweist also auf den lebensrettenden Aspekt des Fabulierens: Um nicht wie all ihre Vorgängerinnen getötet zu werden, umgarnt die schöne wie kluge Scheherazade den macht- und kontrollkranken König jeden Abend aufs Neue mit einer Geschichte. Natürlich stets mit einem Cliffhanger, damit der Appetit auf eine Fortsetzung gewahrt bleibt, und sich so ihre eigene Lebenszeit verlängert. Es ist ein Urmoment des Theaters. Denn er stiftet nicht nur phantastische Geschichten und mit ihnen vielfältige instrumentale Farben, sondern auch Gemeinschaft zwischen unterschiedlichen kulturellen Verortungen.
Ein guter Einstieg für den neuen Schweizer Intendanten Julien Chavaz, der das Gemeinschaft Stiftende des Theaters als eine seiner wichtigsten Aufgaben erachtet. Chavaz stammt aus Bern, studierte Agrarwissenschaften und Dramaturgie und inszenierte in Paris, London, Amsterdam, Rotterdam, Genf und Den Haag. Von 2018 bis 2022 war er Intendant der Neuen Oper Freiburg in der Schweiz.

Ich treffe Julien Chavaz nach einer Führung durch das Opernhaus in seinem Büro in der fünften Etage: »Während wir in der Schweiz auf Briefmarken großen Fleckchen leben, scheint mir, dass es hier unendlich viel Platz und Raum gibt«, sagt er. Der Satz klingt nach, als ich später durch die Innenstadt schlendere, die frühere Wilhelm Pieck-Allee entlang, wo ein Denkmal vor den Zuckerbäcker-Fassaden daran erinnert, wie ein russischer Offizier ein herabstürzendes Mädchen rettete. Im Dom entdecke ich die Figur des heiligen Mauritius, eine erstaunlich realistische Darstellung eines Schwarzen Kriegers aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Meinen Blick auf zwei triste Plattenbauten verwandelt ein bronzener Panther, der zwischen ihren Fluchten zum Sprung ansetzt und hinter dem Landtag hält das gewundene Hundertwasserhaus als bunter Drache seine graue Umgebung in Schach.
»Diese einmalige Theaterlandschaft, dieser Reichtum, das ganze Abo-und Repertoire-System, das ist doppelt exotisch für mich«, erklärt Chavaz. Seine Euphorie an dem Vierspartenhaus künftig wirken zu können, wirkt ehrlich und ansteckend. Mehr mit den Zuschauern zu arbeiten als für sie, gemeinsam Fangesänge anzustimmen, anstatt Hochkultur vom Podium herab zu zelebrieren, erklärt er, während er in seinem Büro Kaffee aufbrüht. Mehr als ein großer Tisch und ein Kaffeeautomat stehen hier noch nicht. Zum Einstand wurde ein großes Theaterfest im Opern-und Schauspielhaus veranstaltet. Mit Fans des FC Magdeburg, die zuvor zu Proben auf die große Bühne geladen waren. »Eine einfache Theatergeste«, erklärt Chavaz, »und absolut frei von Zynismus, das ist wichtig. Denn es geht mir nicht darum, um jeden Preis neues Publikum zu gewinnen. Sondern darum, Leute zu interessieren, die sich bislang vom Theater weder betroffen noch berücksichtigt fühlten. Ich wollte auch zeigen, dass Musik überall entstehen kann. Auch dort, wo sie nicht geprobt wird, wo niemand sagt, wo sie hinmuss.« Chavaz spricht von der infizierenden Kraft dieser Gesänge, die die ganze Stadt ergreifen kann – und darüber hinaus: »Wenn man Musik aus ihrem ursprünglichen Kontext nimmt, ihr einen neuen Rahmen gibt, dann entsteht etwas Theatralisches. Und letztlich impliziert dieses kleine Projekt die Frage, warum man überhaupt vom Sprechen ins Singen kippt, ab welchem Grad der Emotion das auf einmal passiert. Das ist für mich immer wieder ein großes Mysterium.« Chavaz hat kurz vor seinem Intendanz-Beginn in Magdeburg noch Péter Eötvös’ Goldener Drache in Genf inszeniert, das Musiktheater des 20. und 21. Jahrhunderts liege ihm besonders am Herzen, dabei begeistert er sich für spielerische Situationen, die komplexe, abstrakte Musik plötzlich plausibel machen. Für seine Zeit in Magdeburg plant er, die Hierarchie zwischen den Häusern abzubauen, und obwohl er das Wort nicht mag, spartenübergreifender, noch enger zusammenzuarbeiten. Das heißt: mehr Kammeroper am kleineren Schauspielhaus, mehr Sprechtheater auf der großen Bühne und insgesamt mehr Projekte, an welchen die unterschiedlichen Abteilungen beteiligt sind – ohne die besonderen Fähigkeiten der Künstler verwässern oder gar aushebeln zu wollen. Zudem sollen Kompositions-Residenzen vergeben werden, für die eine zeitgenössische Komponistin, ein zeitgenössischer Komponist nicht nur ein Werk für das Haus schreiben wird, sondern die Stadt auch mit Workshops zu seiner Arbeit bereichern soll.
Vom Intendantenbüro nehme ich den Fahrstuhl ins Erdgeschoss, stehe nun in einem Gang mit hellgrauem PVC. Mehrmals biege ich falsch ab, bis ich den Weg zum Kassenfoyer auf der gegenüberliegenden Seite finde. Hier bin ich mit Musikdramaturgin Ulrike Schröder verabredet, die mich freundlicherweise durchs Haus führen wird. Der Glaserker des Foyers gibt sich protzig, wirkt wie der Versuch, dem Gebäude mehr Ausstrahlung zu verleihen.
Magdeburgs Theateranfänge markieren fahrende Künstlergruppen im 18. Jahrhundert, erklärt mir Schröder, die dem Haus seit knapp zwanzig Jahren verbunden ist. Ein Stadttheater wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegründet, 1897 das Theaterorchester in städtische Dienste übernommen. Dieses Jahr feiern die Magdeburger Philharmoniker ihr 125- jähriges Bestehen. Doch bereits früher bestimmte der Klangkörper das Musikleben über die Stadtgrenzen hinaus: Von 1834 bis 1836 wirkte Wagner hier als Musikdirektor, führte Mozart und Bellini auf und beklagte sich über unmusikalische Sänger, während er an seiner zweiten Oper, dem Liebesverbot schrieb, das in Magdeburg uraufgeführt wurde. Auch Lortzings Undine und d’Alberts Tiefland feierten hier ihre Uraufführung. Und das Orchester lockte berühmte Dirigenten wie Richard Strauss, Hermann Abendroth, Bruno Walter und Hans Pfitzner an.

Das heutige Opernhaus wurde 1907 mit einem wilden Programm aus Akrobatik, Gesang, Hunde- und Pferde-Dressur eröffnet und war ursprünglich als großes Zentraltheater für die leichte Muse mit rund 1.800 Plätzen für Operette und Varieté geplant. Ab 1931 gehörte es zum Verband der Städtischen Bühnen, zeigte nun neben Operette auch einmal wöchentlich Schauspiel. Gespielt wurde täglich, sonntags gab es Doppelvorstellungen. Doch die Auslastung war offenbar nicht so, wie man es sich erhofft hatte. Das Haus investierte falsch, wies ein riesiges Defizit auf, die Stadt stieß es an einen privaten Betreiber ab, nahm es aber ab 1939 mit neuer Bestuhlung, die die Plätze um mehr als die Hälfte verringert hatte, wieder unter ihre Fittiche. Ab 1943 hieß es »Kraft durch Freude«-Theater, bevor Goebbels am 31. August 1944 den Spielbetrieb an sämtlichen deutschen Theatern untersagte. Am 16. Januar 1945 wurde das Gebäude bei Bombenangriffen schwer beschädigt.

Die Wiederaufbau- und Umbauarbeiten dauerten bis 1950, ehe das Haus als Maxim Gorki Theater mit Beethovens Fidelio am 20. Dezember wiedereröffnete. In den kommenden Jahrzehnten blieb das Haus in stetem Wandel: Ballettsaal, Kasino, Orchesterraum wurden umgebaut, eine Podiumsbühne gegründet, in den 1980er Jahren umfangreich renoviert. 1986 wurde eine elektronische Lichtstellwarte eingebaut, wie sie kein anderes Theater in der DDR hatte.
Ein einschneidendes Datum ist der 20. Mai 1990. Bei einem Umbau zwischen einer Perlenfischer– und vor einer Wildschütz-Aufführung, brennt das Haus ab: offensichtlich Brandstiftung, das Feuer war im Schnürboden ausgebrochen, der oder die Täter konnten nie ermittelt werden. Über den Brand existiert ein Video im Netz, aufgenommen aus einem gegenüberliegenden Plattenbau. Eine riesige Rauchwolke schließt das Theater und seine Nachbarbauten ein. Ein Schock für alle, sagt Ulrike Schröder. Das Haus wurde entkernt, der Wiederaufbau zog sich über sieben Jahre. Man spielte zunächst in einem provisorischen Zelt auf dem Uniplatz, später im Kulturzentrum der ehemaligen Sowjet-Kaserne, ehe im November 1997 mit den Meistersingern wiedereröffnet wurde und das Theater Magdeburg als Mehrspartenbetrieb neu startete. In der Wendezeit hatten sich die freien Kammerspiele abgespalten, am großen Haus lief aber weiterhin das Städtische Schauspiel, erst 2003 wurden die beiden Häuser fusioniert. Seitdem gibt es das Magdeburger Theater mit den vier Sparten Musiktheater, Konzert, Ballett und Schauspiel.

Ich frage Ulrike Schröder nach der Anzahl der Abonnenten. Weniger als an anderen Häusern, erklärt sie, das Abo-System konnte nach dem Brand 1990 nie wieder aufgebaut werden. Bis auf die Konzert-Abos hatte man alle radikal beendet, weil man ja nicht wusste, was man gewährleisten konnte. Seitdem strukturierten die zehn Sinfoniekonzerte der Spielzeit den Spiel-und Probenplan. Ob es für das Orchester noch andere Spielstätten gebe? Die Stadthalle mit 2.500 Plätzen sei räumlich und akustisch ungeeignet, »viel zu groß…da verhungerste ja«, so Schröder. Eine eigene Konzerthalle war im Gespräch, als man sich um den Rang der Kulturhauptstadt bewarb, sei inzwischen wieder vom Tisch, bleibe aber trotzdem ein Thema, da alles auf der Bühne geprobt werden müsse, denn auch der Orchester-Proben-Saal sei zu klein.
Der Chorsaal besteht aus den charakteristisch ansteigenden Stuhlreihen – für einen 34-Leute Chor plus 2 Praktikanten bietet er ausreichend Platz. Vor einer vergitterten Stahlwendeltreppe, über die man zum Schnürboden gelangt, stehen alte Scheinwerfer und Beleuchtungsscheiben in einer Ecke. Man stelle im Moment zwar auf LED um, aber noch werde vieles händisch gefahren. Vom Schnürboden schauen wir auf die dunkle Bühne, auf der das Konzertzimmer für den Abend aufgebaut wird. Ein schüchterner Trommel-Wirbel löst sich aus einer Ecke, ein Schlagzeuger probt bereits für das Sinfonie-Konzert. Eines der Hauptprobleme des Hauses sei, dass die Technik noch aus den 1990ern stamme. Video-Übertragung, Monitore und E-Pult funktionieren nur mit Verzögerung. Eigentlich müssten alle Kabel neu verlegt werden.
Im Ballettsaal wird geprobt, Pliés, Pas de bourrée. In der hohen Fensterfront bricht sich das Sonnenlicht, 22 Tänzer. Magdeburg ist eines der wenigen Häuser, das über eine vollständige Ballett-Companie verfügt, nicht nur über ein Tanz-Ensemble, sagt Frau Schröder. Wir steigen einen Stock tiefer, stehen vor dem Orchester-Saal. Harfen-, Kontrabass-Koffer und zwei große Pauken versperren den Eingang. Die schweren Instrumente stellt das Theater den Musikern für Vorstellungen und Proben zur Verfügung, damit sie nicht ihre eigenen Instrumente mitschleppen müssen. 82 Orchesterstellen – für ein B plus-Orchester recht groß finde ich (In Sachsen-Anhalt gibt es kein A-Orchester klärt mich Ulrike Schröder auf.) Eine gewellte Decke und Vorhänge sollen den kleinen Raum, in dem vor kurzem neues Parkett ausgelegt wurde, akustisch angenehmer gestalten. Die frischen Einkerbungen vor meinen Füssen verraten die Sitzordnung: Celli und Kontrabässe sitzen Rechtsaußen. In der Technik-Etage zieren FCM-Sticker und Friedenstauben die Türen, im Gang hängen Fotos bisheriger Open-Air Spektakel, die seit Ende der 1990er Jahre von Mitte Juni bis Anfang Juli auf der Seebühne stattfanden (einem Tümpel im ehemalige BuGa-Gelände), seit 2008 aber auf dem Domplatz veranstaltet werden.
Am Ende der Führung stehen wir auf der großen Bühne. Der Zuschauerraum mit 688 Plätzen (inklusive Rang) wirkt im dunkelblauen Samt fast schwarz, aber nicht kalt, die Sitze sind an manchen Stellen zwar durchgewetzt, dafür plüschig-bequem. Leider wurde der Rang mit Sichtbehinderung gebaut, von einem Architekten, der offenbar keine Ahnung von Musiktheater hat, sagt Frau Schröder. Für die Oper gehe das gerade noch, aber für Schauspiel und Konzert sei es eine Katastrophe. Als man zwischen 1999 und 2003 noch regelmäßig Schauspiel aufführte, verkaufte man den Rang nicht. Für die Konzerte existiere eine halbversetzte Sitzordnung, damit das Publikum oben wenigstens den Konzertmeister und den Solist des Abends sieht. Auf der Hinterbühne stehen bereits die Kulissenteile für die Eröffnungsproduktion Goldener Hahn bereit, eine pink-grüne Raumkapsel, ich steige über Mondgestein aus Styropor, an der geschwärzten Wand entdecke ich Kreidestriche – »da haken die Bühnentechniker die Anzahl der Repertoire-Produktionen ab, 31 Mal wurde die Schneekönigin gespielt …«
Am nächsten Morgen sitze ich noch einmal im 5. Obergeschoss, diesmal im GMD-Zimmer und spreche mit Anna Skryleva, die 2019 unter Karen Stone die erste Generalmusikdirektorin in der Geschichte des Magdeburger Orchesters wurde. »Die Welt am Klavier« sei ihr irgendwann zu eng geworden, sagt sie, die ursprünglich Klavier und Komposition in Moskau und Berlin studierte. Sie dachte zunächst an eine Zukunft als Kammermusikerin, dirigieren stand nicht zur Debatte: »Da gab es für mich gar keine weiblichen Vorbilder.« Über ein Förderprogramm lernte sie Alicja Mounk kennen, die damals das Dirigierinstitut für Musiktheater in Karlsruhe leitete und ihr eine Assistenz anbot. Schließlich folgte ein Dirigierstudium bei Lutz Herbig in Düsseldorf, parallel durchlief sie am Theater alle Positionen von der Korrepetitorin über die verschiedenen Kapellmeisterstellen bis hin zur stellvertretenden GMD in Darmstadt.

Anna Skryleva ist ein Glücksfall für Magdeburg, denn sie dirigiert nicht nur mitreißend, sondern arrangiert und instrumentiert regelmäßig Werke neu für ihr Orchester. Ihre Fassung von Mozarts La clemenza di Tito für Cembalo und Kammerorchester übernahm der Bärenreiter-Verlag. Zudem kümmert sie sich um Ausgrabungen vergessener Komponistinnen. Im Beethovenjahr stellte sie in einer Konzertreihe Werke des klassischen Meisters unbekannten Stücken Mélanie Bonis, einer Zeitgenössin Debussys, Leokadiya Kashperova – bekannt als Klavierlehrerin Stravinskys – Johanna Doderer, Dobrinka Tabakova und vielen weiteren gegenüber. In der vergangenen Spielzeit sorgte sie dafür, dass die Oper Grete Minde des jüdischen Komponisten Eugen Engel 80 Jahre nach dessen Ermordung in Magdeburg uraufgeführt wurde – was auch international auf viel Resonanz stieß. Ihre Programmideen wird Skryleva auch mit Julien Chavaz fortführen – die Kompositionsresidenzen, die er plant und die Erweiterung des Repertoires hin zu mehr Werken des 20. und 21. Jahrhunderts passten da sehr gut, sagt sie. Wichtig sei ihr, nicht nur vergessene KünstlerInnen auszugraben, sondern auch aktiv zeitgenössische zu fördern.

An der klassizistischen Fassade des Eingangs weht wie an so vielen anderen Theater-Portalen derzeit die blau-gelbe ukrainische Flagge. Die Theaterleitung möchte das nicht als hohle Symbolik verstanden wissen, man engagiere sich, organisierte Vorsingen für eine Sängerin aus Kiew, nahm junge ukrainische Musiker als Akademisten ins Orchester auf, ein ukrainischer Frauenchor soll gegründet werden. Anna Skryleva pflegt engen Kontakt zur Dirigentin Oksana Lyniv und deren Youth Symphony Orchestra of Ukraine. Man tue, was die finanziellen Mittel zulassen, obwohl es sich immer zu wenig anfühlt, sagt Skryleva. 2014 initiierte sie angesichts der Krim-Annexion das Orchester-Projekt »Classic for Peace«, brachte ukrainische und russische Musiker für gemeinsame Konzerte zusammen. Ein Erfolg, sagt sie, den sie aber angesichts des brutal geführten Krieges nicht fortsetzen will. Dabei sitzen im Magdeburger Orchestergraben russische neben ukrainischen Musikern, das gemeinsame Musizieren geht also weiter. Doch daraus eine große Geste zu machen, hält Skryleva für falsch. Sie selbst habe ihre Heimat verloren, Russland, Moskau, seien keine Orte mehr für sie, wohin sie glaubt, jemals wieder zurückkehren zu können. Mit ihrer Mutter, die dort noch lebe, könne sie zwar telefonieren, aber über mehr als »Gurken und Tomaten« zu sprechen, sei ausgeschlossen.
Warum die neue Spielzeit nun trotzdem oder ausgerechnet mit russischer Romantik starte? Der Spielplan habe lange vor dem 24. Februar festgestanden, erklärt Skryleva. Aber natürlich wurde diskutiert, ob es sinnvoll wäre, ihn zu ändern. »Dabei erteilt gerade Rimski-Korsakows Goldener Hahn einem autokratischen System eine klare Absage«, sagt sie, »er komponierte seine letzte Oper nämlich als Antwort auf das Massaker, das zaristische Truppen am sogenannten ›Blutsonntag‹ 1905 am eigenen Volk verübten, verpackt in eine Märchen-Satire, um die Zensur zu umgehen.« Was nichts nützte, Rimski-Korsakow erlebte die Uraufführung seines Werks 1908 nicht mehr.

Die Partitur zum Stück, komponiert nach einer Fabel von Puschkin, schmückt sich demonstrativ mit altrussischen Zitaten und ist voller rhythmisch markanter, signalhafter Leitmotive. Parademärsche lösen liebliche Wiegenlieder ab, markige Chöre werden von Orientalismen unterwandert. Anna Bernreitners Inszenierung für Magdeburg interessiert sich weniger für das Märchenhafte der Geschichte, als für deren groteske Elemente. Vazgen Gazaryan als alter Zar Dodon sitzt mit sehr langem Bart auf einem absurd hohen Thron und züchtigt seine dummen Söhne mit donnerndem Bassbariton, so dass ihnen auch das letzte bisschen Mumm aus den Knochen fährt. Das Setting in schwarz-weißem Marmor-Fake erinnert ein wenig an Chaplins großen Diktator. Katerina Tretyakova spielt die Zarin von Schemacha als überirdische Schönheit mit vier Paar Händen und singt die halsbrecherischen Koloraturen ihrer Partie wie eine einfache Weise.
Ihr sinnlich-buntes Alien-Gefolge wickelt sich die langen Bärte der alten Zarenwelt kurzerhand um die vielen Finger und gibt sie in einem Tanzwettbewerb der Lächerlichkeit preis. Die Ausstattung fällt schriller (und phantasievoller) aus als Star Wars und Captain Future zusammen, und zu den Trompetenfontänen aus dem Orchestergraben explodieren Kaleidoskop-Galaxien am Bühnenhimmel, vor denen die Welt der Zarin als pink-grüne Raumkapsel schwebt.
Im Finale pickt der Hahn den alten Dodon zu Tode. Was bleibt ist das Kikeriki des goldenen Vogels, das sich mit dem hellen Lachen der Zarin verbündet und noch lange im Zuschauerraum nachhallt.
Zum Ende meines Besuchs nimmt am Sonntagmorgen noch einmal Scheherazade aus Rimski-Korsakow sinfonischer Suite Opus 35 die Bühne ein. Sie kommt mir beim zweiten Hören wie eine Studie zum Goldenen Hahn vor. Eine leidenschaftliche Etüde zur Freiheit der Kunst und des Menschen. Kurz und anschaulich stellt Anna Skryleva den Komponisten als Marine-Beamten vor, der doch genügend Phantasie und offenbar auch Zeit hatte, um das verführerische Geigenmotiv der Scheherazade zu erfinden. Zu Skrylevas Taktstock setzt die Solo-Violine ihre höchsten ätherischen Pianissimo-Seufzer traumverloren an. Ein blondes Vorschulkind in der ersten Reihe streckt dazu die Hände in die Luft – und dirigiert ab diesem Moment selbstvergessen mit großem Enthusiasmus, mal synchron dann kontrapunktisch zu Skrylevas feinen Bewegungen durch die Matinee. Das bedrohlich-tösende Königsmotiv wischen diese Kinderhände kurzerhand weg, der triumphierenden Scheherezade verleihen sie Flügel und Rimsky-Korsakows Regieanweisungen verhelfen sie für einen Moment zu ungeahnter Glaubwürdigkeit: »Der eigenartige Glanz zerstreut für einige Zeit die ängstliche Spannung der Gemüter. Alle werden lustig wie Kinder«, schrieb Rimski-Korsakow zu Beginn des dritten Aktes im Goldenen Hahn. ¶