Erhaben – dieses Wort beschreibt die Musik des italienischen Autodidakten Giacinto Scelsi wahrscheinlich am besten. Nicht als umständlicher Ausdruck für »einfach sehr gut«, sondern im Sinne Moses Mendelssohns, also als gleichzeitig angsteinflößend, überwältigend, beglückend, schmerzhaft, gewaltig und transzendent. Scelsi verstand sich selbst lediglich als Bote, als Vermittler von Klängen aus einer andere Sphäre. Seine Musik kann klingen als käme sie nicht von dieser Welt, wie eine Art uraltes Erwachen, das seine Erhabenheit aus seiner Ursprünglichkeit gewinnt. Diese Ursprünglichkeit macht Scelsis Musik anders, erschreckend anders. Und trotzdem ist sie unbestreitbar modern. Scelsi erweitert die Spieltechniken für Streichinstrumente, verwendet mikrotonale Harmonien, Elektronik und präparierte Klaviere – alles im Dienst des Klanges. Für ihn war der einzelne Ton unendlich, ein Universum für sich.
Giacinto Scelsi – Streichquartett No. 4; Streichquartett des Klangforum Wien
Ein Nervenzusammenbruch irgendwann im Zweiten Weltkrieg bedeutete ein vorläufiges Ende für Scelsis musikalisches Schaffen. In den Jahren danach konnte man oft beobachten, wie er am Klavier saß und eine Note immer und immer wieder anschlug. Zuvor hatte Scelsi ein paar Jahre lang komponiert, aber die fast zwanghafte Konzentration auf einen einzigen Ton, sein Timbre, seine Obertöne, die an den Randbereichen des Klangs lauernden Mikrotöne, all das stammt aus der Zeit der Regeneration nach dem Zusammenbruch. Obwohl das vierte Streichquartett erst 20 Jahre später geschrieben wurde, bringt er die Ein-Ton-Technik hier zur Vollendung – und nicht im sehr viel berühmteren, aber weniger interessanten Quattro Pezzi (su una nota sola).
Bei diesem Quartett hat er für jedes Instrument eine eigene Stimme komponiert, es handelt sich also eigentlich um 16 Stimmen, nicht um vier. Gemeinsam steigen sie langsam, fast unmerklich an, von C nach A. Wir hören die Geister der Mikro- und Obertöne den zentralen Klang umschwirren, der noch von den vorangegangenen, zwar nicht mehr hörbaren, aber doch präsenten Tönen verfolgt zu werden scheint. Selbst im A hören wir ein C, ein D und ein Es. Die Aufwärtsbewegung geschieht so allmählich, so subtil, dass es am Ende des Stückes schwierig ist, zu sagen, ob sie überhaupt wirklich stattgefunden hat. Scelsis Quartett klingt in der Bewegung statisch, aber es bewegt sich – nur dass es eher aufwärts brodelt als steigt.
Benjamin Stewart – Tanpura Demonstration
Scelsi hat seine Ein-Ton-Therapie nicht selbst erfunden, sie hat ihre Wurzeln in asiatischer und indischer Musik. Vor dem Krieg hatte der Komponist Indien und Nepal besucht und seine Liebe zu östlicher Philosophie und Musik entdeckt. Scelsis Ein-Ton-Kompositionen finden ihre nächsten Verwandten in dem Klang der Tanpura, einem Saiteninstrument aus Indien. Durch rhythmisches Zupfen ihrer vier Saiten entsteht ein schimmerndes Summen aus Obertönen. Der Klang ist dreidimensional, in jedem Ton sind viele enthalten.
Field Recording, Tibet – Lament for the Dead: Chant
In Scelsis Musik zeigt sich außerdem eine Vorliebe für den Gesang tibetischer Mönche. In dieser Aufnahme der Smithsonian-Serie »Music of the World’s Peoples« singen laut Beschreibung »Lamas im Einklang mit Perkussion- und Glockenbegleitung.« Die tief mitschwingenden Bariton-Stimmen kreieren zusammen mit den beinah unhörbaren obertonreichen Glocken einen fast unerträglich eisigen Klang. Bei dieser Klage für die Toten scheint die Musik selbst aus der Erde, dem Reich der Toten zu kommen.
Giacinto Scelsi – Konx-Om-Pax; Juan Pablo Izquierdo (Dirigent), The Carnegie Mellon Philharmonic & Concert Choir
Scelsis Konx-Om-Pax beruht auf drei Aspekten von Klang: als erste Bewegung des Unbeweglichen, als heilige Silbe Om, als kreative Energie. Der dritte Satz hat große Ähnlichkeit mit dem tibetischen Lament for the Dead. Scelsi nennt dieses Vorbild selbst erst später, mit Blick auf Bot-Ba von 1952, explizit, aber eigentlich ist es besonders Konx-Om-Pax hörbar. Ein Chor bestehend aus tiefen Stimmen singt die »heilige Silbe« auf einem A, das Orchester reichert den Klang mit mikrotonalen Clustern und Ober- und Mikrotönen an. So entsteht ein langsames crescendo, bis ein rasselnder Percussion-Schlag die Komposition zerteilt. Dann nimmt das Stück sein Crescendo wieder auf, diesmal vor allem im Orchester, nicht im Chor. Der steigt schließlich auch wieder ein, intensiver, zermürbender, ein Schauder, der gleichermaßen von ehrfürchtigem Wundern und Angst hervorgerufen wird. Wie im tibetanischen Gesang ist auch hier die Grenze zwischen Leben und Tod verwischt. Das letzte Om des Chores ist so von unbeschreiblicher Kraft.
Giacinto Scelsi – Yamaon: I; Roland Hermann (Bariton), Hans Zender (Dirigent), Klangforum Wien
Die menschliche Stimme als Instrument wurde für Scelsi immer interessanter. Obwohl die Möglichkeiten des meditativen Gesangs auf nur einem Ton in seinen späteren Werken wie Khoom oder Ho noch weiter ausgelotet werden, ist Yamaon, eine seiner ersten Kompositionen für menschliche Stimme, vielleicht die interessanteste von allen. In dem Stück, das seinen Namen dem Todes-Gott der Hindus, Yama, verdankt, singt ein Bariton von Scelsi erfundene Silben, die keinem inhaltlichen Sinn folgen. Scelsi orchestriert hier theatral, manchmal richtig verspielt.
Für gewöhnlich komponierte Scelsi, indem er Stücke improvisierte und dann aufnahm. Diese improvisierte, radikal freie Herangehensweise kommt in Yamaon voll zur Geltung, vor allem im intensiven verspielten ersten Satz. Bei der Niederschrift seiner Improvisationen holte Scelsi sich Hilfe vom Komponisten Vieri Tosatti. Nach Scelsis Tod im Jahre 1988 erklärte Tosatti sich in einem Artikel mit dem Titel »Giacinto Scelsi C’Est Moi« zum Urheber des gesamten Œuvre Scelsis, was von Zeitgenossen heftig diskutiert wurde.
Luigi & Antonio Russolo – Awakening of a City
Der junge Scelsi erlebte in Italien die Performances der Geräusch-Orchester der Futuristen. Luigi Russolo, auf dessen Initiative diese Orchester zurückgingen, versuchte, den mechanischen Lärm der Stadt in die Sphäre der Musik zu heben. Dazu entwarfen sein Bruder und er Intonarumori genannte Lärminstrumente, die in dieser Aufnahme, einer Art akustischem Manifest, summen, gurgeln, knistern und hupen. Wir hören außerdem ein Rumpeln wie ein Lastwagen auf einer schlecht asphaltierten Straße, einen Presslufthammer bei der Arbeit, ein startendes Flugzeug. In Russolos Geräuschmusik liegen die frühen Ursprünge für Scelsis intensive Auseinandersetzung mit Klang in all seinen Möglichkeiten und Facetten.
Giacinto Scelsi – Suite No. 6 I capricci di Ty: III.; Anna D’Errico (Klavier)
Dies ist eines der frühesten Werke Scelsis, komponiert in den Jahren 1938–39, noch vor seinem Zusammenbruch. Es zeigt den Kern seines Umgangs mit dem einzelnen Ton. Im dritten Teil wird eine staccato-Note im höheren Register des Klaviers manisch wiederholt, unterbrochen durch längere Töne in mittlerer Lage. Dann reißen beide Klänge ab, werden unterdrückt von kraftvollen tieferen Anschlägen. Es scheint, als ob Scelsi erst versucht, dem einzelnen repetierten höheren Ton gerecht zu werden, diese erfolglose Suche dann aber von sich in der linken Hand Luft machender Frustration unterbrochen wird.
Diesen Prozess wiederholt Sclesi ein paar Mal – ohne Erfolg. Am Ende des dritten Teils verschiebt sich seine Aufmerksamkeit ins tiefere Register, das Stück verklingt mit einer langsam wiederholten tiefen Note. Wenigstens für einen Moment scheint er den richtigen Ton getroffen zu haben. ¶