»Regungslos liegen der Zwerg und sein zweites Ich auf der Orchesterbühne. Ghita eilt bestürzt zum Zwerg und kniet sich neben ihn. Fassungslos rüttelt sie an seinen Schultern und hält seine schlaffe Hand. Die Infantin steht abseits und verschränkt trotzig die Arme.« Audiodeskriptorin Anke Nicolai beschreibt eine der Schlüsselszenen von Zemlinskys Zwerg in einer Inszenierung von Tobias Kratzer an der Deutschen Oper Berlin, gefolgt vom Gesang der Infantin: »Geschenkt und schon verdorben. Das Spielzeug zum 18. Geburtstag.« Den klaren Sopran, der von der Bühne schallt, hören alle, die warme Stimme von Anke Nicolai dringt nur zu denen, die einen entsprechenden Kopfhörer tragen: mit nur einer Hörmuschel, bespielt mit Anke Nicolais Live-Kommentar zum Stück, um mit dem anderen Ohr Instrumenten, Gesang und Bewegungen auf der Bühne lauschen zu können. Von einer schalldichten Kabine im hinteren Parkett in der Loge neben der Lichttechnik aus kann die Audiodeskriptorin das Bühnengeschehen genau beobachten und gleichzeitig auf den Punkt das Relevante einsprechen: Bewegungen, Änderungen des Bühnenbildes und der Beleuchtung … »Wir beschreiben nicht nur das Handlungsgeschehen und das, was auf der Bühne passiert«, erklärt Anke Nicolai im Gespräch. »Die Übertitel, die wir als Sehende ja lesen können, sind genauso wichtig.« Damit diese Wechsel schnell zu erfassen sind, wird mit zwei Sprecher:innen gearbeitet. »Dadurch wird es dann fast wie ein Hörspiel.« Besonders in der Oper zählen Timing und die Konzentration aufs Wesentliche: Zwischen Gesangslinien und -einwürfen bleibt oft nur wenig Zeit, zu beschreiben, was sichtbar und für das Verständnis der Inszenierung relevant ist. 

»Die Herausforderungen für die, die die Audiodeskription herstellen, ist: Sie müssen klare Worte finden, eindeutige Worte, sie dürfen aber nicht werten oder ihre eigene Interpretation einbringen und sie müssen es schaffen, die Pausen zu nutzen, um etwas zu sagen«, erklärt Monika Seeling-Entrich. Sie ist Gründungsmitglied des Theaterbeirats vom Projekt Berliner Spielplan Audiodeskription, einem ehrenamtlich tätigen Gremium von blinden und sehbehinderten Theaterbegeisterten, das seit 2021 Ansprechpartner für an Audiodeskription interessierte Häuser in Berlin ist. 

Bevor die Aufführung beginnt, gibt es für blindes und sehbehindertes Publikum – ebenfalls bereits über Kopfhörer – eine Stückeinführung, die Figuren und Bühnenbild vorstellt. Hier die Einführung zum Zwerg an der Deutschen Oper, gesprochen von Anke Nicolai

Anders als im Sport entsteht der Kommentar in der Oper nicht spontan, sondern wird detailliert in einem Team von blinden und sehenden Autor:innen erarbeitet und im Vorhinein ausformuliert. Auf der Basis von Partitur, Klavierauszug, Libretto, Regiebuch, Programmheft, Videomitschnitt, Requisiten-, Kostüm- und Besetzungslisten sowie mindestens einem Proben- oder Aufführungsbesuch gilt es zunächst, die Inszenierung zu verstehen: Was ist wichtig? Was bedeutet dieses oder jenes Symbol? Wann gibt es überhaupt Raum, um zu sprechen? »Du musst so in die Details gehen«, erklärt Felix Koch, der die Audiodeskription zum Zwerg maßgeblich mitverfasst hat. »Hier ist der Harmoniewechsel, da geht sie nochmal eine Oktave höher und hier hält sie den Ton, dann kann ich ganz schnell die Übertitel reinsprechen, weil der Lauf danach so schön ist.« Und immer wieder stellt sich die Frage: Was ist bewusst angelegt, was Interpretation? »Sind die Blumen wirklich blutrot? Ist das gewollt von der Inszenierung?« Ein bis zwei Wochen ist man so mit dem Schreiben der Audiodeskription einer Oper beschäftigt. Die neu geschriebene Audiodeskription wird dann in einem Probedurchlauf von mindestens einer blinden Redakteurin oder einem blinden Redakteur geprüft und überarbeitet. Auch mit der Dramaturgie des Hauses wird der Text abgestimmt, damit die Beschreibungen wirklich zur Idee der Inszenierung passen. »Bevor wir dieses Projekt hatten«, so Marion Mair von der Deutschen Oper Berlin, »hätte ich gedacht: Das macht man dann so wie die Übertitel – und hätte mir nicht vorgestellt, dass das ein so elaboriertes, umfassend vorbereitetes Kunstwerk in sich ist, diese Audiodeskription.«


Anke Nicolai: Die Küsterin öffnet Jenůfas Kammer und zieht ihren Wintermantel über. Mit beiden Händen hält sie sich an der Tür fest.

Küsterin, singend [Voiceover Nadja Schulz-Berlinghoff]: »Ich bringe den Kleinen zum Herrgott. So geht es schneller und leichter. Wenn im Frühling das Eis schmilzt, ist keine Spur mehr da. Er wird zum Herrgott kommen, bevor er denken kann. Wie sie über mich und Jenufa herfallen würden.«

Die Küsterin verzerrt ihr Gesicht und krümmt sich hinter der Tür. Abrupt richtet sie sich auf und dreht sich entschlossen zum Publikum.

»Seht sie an, die Küsterin.«

Sie nimmt ihre Tasche und rennt in Jenůfas Kammer. Hinten schließt sich die Rückwand, links bleibt ein Spalt offen. Die Küsterin kehrt zurück. Sie hält die Tasche in ihren Armen.

»Aus der Sünde geboren, so wie Števas elende Seele.«

Die rote Mütze des Babys ragt aus der Tasche. Die Küsterin eilt durch den Spalt davon. Die Rückwand schließt sich komplett, es wird dunkel.

Ausschnitt aus der Audiodeskription zu Leoš Janáčeks Jenůfa an der Deutschen Oper Berlin, inszeniert von Christof Loy, Text und Redaktion: Felix Koch, Anke Nicolai und Kathrin Wiermer. Wie auch der obige Ausschnitt aus der Audiodeskription von Zemlinskys Zwerg veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Berliner Spielplan Audiodeskription von Förderband e.V.


Bevor das Publikum im Saal Platz nimmt, gibt es eine Tastführung, bei der Kostüme, Requisiten und häufig auch das Bühnenbild erfühlt werden können. Wenn möglich, werden auch die Bühne abgeschritten oder die Bewegungen mobiler Elemente nachvollzogen. Bei einer Carmen-Inszenierung der Deutschen Oper ließ sich die Drehbühne und ihre Funktion über ein kleines Modell ertasten. »Manchmal ist die Beschreibung das eine, aber die Vorstellungskraft noch einmal etwas anderes«, erklärt Monika Seeling-Entrich vom Theaterbeirat. »Da ist es besser, wenn man das mal unter den Händen hat.« Im Saal folgt dann noch eine Einführung in das Stück mit einer Beschreibung der Personen, des Bühnenbildes und den üblichen Programmheft-Informationen.

Tastführung zur Tosca an der Oper Leipzig, © Oper Leipzig

An der Deutschen Oper waren seit 2019 zu fünf Inszenierungen Aufführungen (beziehungsweise Streams) mit Audiodeskription erlebbar: neben dem Zwerg und Carmen zu Il viaggio a Reims, Jenůfa und zur Zauberflöte. Ermöglicht hat sie das Projekt Berliner Spielplan Audiodeskription des gemeinnützigen Vereins Förderband, der die nötigen Gelder bei der Berliner Lotto Stiftung eingeworben hat. Bevor das Projekt 2019 aus der Taufe gehoben wurde, glich die Hauptstadt, was Audiodeskription an den großen Bühnen anging, einer Brache. Nur vereinzelt hätten an kleineren Theatern und in der Freien Szene Aufführungen mit Audiodeskription stattgefunden, so Imke Baumann, Initiatorin und Leiterin des Berliner Spielplan Audiodeskription. Audiodeskriptorin Anke Nicolai berichtet: »Ich habe der Staatsoper schon vor 20 Jahren gesagt, dass sie was für Blinde anbieten müssen. Da haben die mich angeguckt, als käme ich vom Mond.« Nicolai war es auch, die, ausgehend von ihrer Arbeit als Audiodeskriptorin für Film, diesen Zugang in Deutschland an die Theater brachte, 2004 mit einer ersten Produktion in Kiel, bald darauf nach Heidelberg und Osnabrück. »Wir haben die örtlichen Blindenvereine involviert, aber viele sind auch aus anderen Bundesländern angereist, weil es das da überhaupt nicht gab. Blinde Menschen konnten damals nur ins Theater gehen, wenn sie eine Begleitung hatten, die ihnen etwas zuflüstert. Aber das ist ja nicht vergleichbar mit dem, was wir professionell tun.« 2008 folgte dann mit Frau Luna am Theater Heidelberg Nicolais erste Musiktheaterproduktion mit Audiodeskription. Für Hörversionen geeignet seien eigentlich alle Musiktheaterwerke – es sei denn, sie sind zu lang. Wagners Ring würde Nicolai darum nicht unbedingt empfehlen. »Den Tannhäuser habe ich mal gemacht, das war schon grenzwertig. Den Holländer könnte ich mir aber ganz gut vorstellen.« 

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Trailer zu Franz Lehárs Das Land des Lächelns in einer Inszenierung von Andreas Homoki an der Oper Zürich mit Audiodeskription von Anke Nicolai

Seit 2019 ermöglicht das Projekt Spielplan Audiodeskription in Berlin hörbar gemachte Aufführungen nicht nur an der Deutschen Oper, sondern auch beim Berliner Ensemble, dem Deutschen Theater Berlin, dem Friedrichstadt-Palast, dem Theater an der Parkaue, der Schaubühne und der Volksbühne und schafft so ein adäquates und regelmäßiges Kulturangebot für die etwa 6.000 blinden und 20.000 sehbehinderten Einwohner:innen der Hauptstadt. Aber auch Häuser der Freien Szene bauen ihr Repertoire für seheingeschränktes Publikum immer weiter aus. Hier gibt es mittlerweile auch im Bereich Tanz und Performance mehr und mehr Aufführungen mit Audiodeskription, in Berlin beispielsweise regelmäßig in den Sophiensælen, in der Tanzfabrik und im Radialsystem. 


Raha hat jetzt die Bühne betreten und schlängelt sich von links nach rechts. Dabei gleiten ihre nackten Füße über den glänzenden Boden. Arme, Hände und Finger bewegen sich in kreisenden Gesten nach vorne. Ihr langer brauner Pferdeschwanz schwingt mit. Sie artikuliert die Arme und Finger, verdreht sie umeinander und lässt ihren Körper durch verschiedene Formen fließen. Ihre abgeflachten Hände arbeiten sich wie Klingen durch die Luft.

Audiodeskription zu It’s All Forgotten Now der Company Christoph Winkler, Text und Redaktion: Xenia Tanniko, Felix Koch und Roswitha Roeding

Auch das Berliner HAU zeigt seit 2021 etwa einmal im Monat eine Aufführung mit Audiodeskription. Das Stück BLESSED von Meg Stuart, Damaged Goods und EIRA, eine Parabel auf die menschliche Existenz, wird Audiodeskriptorin Irene Baumann am 11. Februar beschreiben. Der Vorteil bei diesem Stück: »Es ist ganz lange nur eine Person auf der Bühne, später werden es maximal drei«, so Baumann. Diese könne sie im Vorhinein sehr gut beschreiben und bei der Tastführung vorstellen. »Der Hauptperformer bei BLESSED hat eine ganz bestimmte Art zu gehen, mit einem Nachziehen der Beine.« Da könnte Baumann bei der Tastführung auch fragen, ob blinde oder seheingeschränkte Gäste ihn berühren dürften, etwa mit einer Hand auf dem Rücken. »Und so merkt man dann: Es gibt eine schlangenförmige Bewegung der Wirbelsäule, das setzt sich dann durch den ganzen Körper fort …« Eine Besonderheit bei BLESSED sei auch das Bühnenbild: Es ist aus Pappe und löst sich in einem künstlichen Regen auf der Bühne mehr und mehr auf. »Diesen graduellen Zerfall nehmen Sehende langsam wahr, einige früher, einige später. Und ich muss da einfach entscheiden, wann ich die Aufmerksamkeit leite und sage: ›Jetzt zerfällt das Haus aus Pappe.‹ Das ist etwas anderes als ein umfallender Stuhl – den man ja auch hören würde. Da muss ich mit meinem blinden Co-Autor schauen, wie ich das benenne.« 

Irene Baumann arbeitet für den vom Choreographen Jess Curtis gegründeten Audiodeskriptionsanbieter Gravity. Die Tastführung vor der eigentlichen Performance und die Zusammenarbeit mit blinden Co-Autor:innen gehören hier immer mit zum Programm, wie auch die Selbstauskunft der Performer:innen zu ihrer Beschreibung. »Bei Gravity ist es sehr wichtig, dass Personen selbst schreiben, wie sie benannt werden wollen«, erklärt Irene Baumann. »Da geht es um geschlechtliche Identität, um Race, um den Körperbau.« Alle Audiodeskriptor:innen bei Gravity haben selbst Bühnen- oder Tanzerfahrung. Bisher habe er, erzählt Jess Curtis, mit Häusern der freien Szene und im Bereich zeitgenössischem Tanz gearbeitet. Aber er hofft, dass die großen Häuser und auch klassischere Inszenierungen zum Beispiel im Bereich Ballett bald folgen. 

Irene Baumann spricht wie die Kolleg:innen vom Spielplan Audiodeskription live, sie sitzt jedoch meistens im Publikum, mit einem Mikrophon, das ihren Mund bedeckt, ihre Sprache nach außen dämpft und die anderen Anwesenden möglichst wenig stört. »Da kann ich gar kein Skript benutzen, es ist dunkel und ich will nicht durch blättern die Leute ablenken … Deswegen ist es eine vorbereitete Improvisation.« Zwar hat Baumann bei Tanz-Performances tendenziell mehr Zeit als die Kolleg:innen in der Oper, aber auch sie muss Schwerpunkte setzen, zusammenfassen: »Manchmal muss man eher die Atmosphäre einer Bewegung wiedergeben, weil man gar nicht so schnell sprechen kann, um zu sagen, ob der Fuß nach links geht und der andere nach oben. Ich beschreibe dann zum Beispiel eher die Richtung: Ist die Bewegung ein Öffnen oder ein Schließen?« Und manchmal höre man Bewegungen auch sehr deutlich, da gelte es dann Platz zu lassen. »Oft denke ich, dass man im Produktionsprozess da schon darüber nachdenken kann, dass Kostüme einen Sound machen.«

Auch über Berlin hinaus beginnen immer mehr Bühnen, sich für Audiodeskription zu öffnen, berichtet Anke Nicolai, die im gesamten deutschsprachigen Raum für Theater tätig ist. Im Bereich Oper ist die Zahl aber noch recht gering. Das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen macht schon seit über zehn Jahren Höroper, an der Oper Leipzig hat das neue Leitungsteam um Intendant Tobias Wolff Audiodeskription selbstverständlich in den Spielplan integriert. Auch die Häuser in Zürich, Graz, Freiburg und Krefeld / Mönchengladbach sind dabei. 


Die Bühne dreht sich kurz gegen den Uhrzeigersinn und bleibt dann stehen. Rechts steht die Werkhalle mit der Rückseite nach vorn, aus dem Schornstein raucht es nicht mehr. Hinten links ragt das Fördergerüst auf. Muschel und Erdkugel an seiner Spitze schimmern in schwachem Licht. Licht fällt auf das Gebäude links vorn. Es ist das Wohnhaus. Der Balkon ist links, von vorn schaut man ins obere Zimmer mit der Hängematte, am Boden liegt der Rucksack, die Ballonlampe leuchtet. Nadir tritt ins Zimmer und lehnt sich an der vorderen offenen Seite ans Geländer. In der Hand hält er das Foto und betrachtete es versunken.

Audiodeskription zu Georges Bizets Perlenfischer am Musiktheater im Revier, Inszenierung: Manuel Schmitt, Text und Redaktion: Sabine Rosenbaum, Norbert Raestrup, Sylvie Ebelt und Diana Merten


Die Audiodeskription anzubieten, reicht jedoch häufig nicht aus, es braucht auch spezifisches Marketing. »Ich bin jahrzehntelange Theatergängerin und habe eine Erkrankung, bei der ich zunehmend erblinde«, erklärt Monika Seeling-Entrich vom Berliner Thetaterbeirat. »Ich war erstaunt, wie viel Berührungsängste es bei Blinden und Sehbehinderten zum Theater gibt.« Der Theaterbeirat hat sich darum auch die Vernetzung mit und den Kontakt zu blinden oder sehbehinderten Theaterinteressierten zur Aufgabe gemacht. »Diese Woche machen wir eine ›Themenwoche Theater‹ mit dem Blindenshilfswerk«, so Seeling-Entrich, unter anderem ist ein Blick hinter die Kulissen der Volksbühne geplant. Bei solchen Führungen erlebt Seeling-Entrich eine große Offenheit: »Egal ob es die Ticketverkäuferin ist oder der Bühnenarbeiter. Eigentlich stören wir die. Wir gehen mit unserem Langstock auf die Bühne, obwohl die mitten im Umbau sind. Und trotzdem gehen dann alle zur Seite, zeigen uns, was interessant ist. Wir stoßen auf ganz viel Wohlwollen. Und ich hoffe, dass das auch rüberkommt, dass Hemmschwellen abgebaut werden. Dass man weiß: Was ist eigentlich Theater? Wo ist die Garderobe? Wo kriege ich mein Audiodeskriptionsgerät? An wen kann ich mich wenden? Wie komm ich zum Theater?« Die Erreichbarkeit der Häuser ist ein wichtiges Thema für die Community. Das betrifft nicht nur die Anreise (der Spielplan Audiodeskription hat zu jedem teilnehmenden Haus eine Audio-Wegbeschreibung veröffentlicht), sondern auch digitale Zugänge. So lud der Theaterbeirat jüngst die Berliner Häuser zu einem Workshop ein, in dem vermittelt wurde, wie eine Website gestaltet sein muss, um via Screenreader gut nutzbar zu sein. 

Damit die Eintrittspreise nicht zum Hemmnis werden, reduzieren beispielsweise die Oper Leipzig und die Deutsche Oper Berlin (aber auch viele andere Häuser) die Eintrittskarten für das Audiodeskriptionspublikum, falls eine Begleitung gewünscht ist, gibt es für sie eine Freikarte. Eine größere Hürde scheint vielerorts die Finanzierung der Audiodeskriptor:innen durch die Häuser selbst zu sein. Dass auch das funktionieren kann, zeigt zum Beispiel die Oper Leipzig, die Audiodeskriptionen selbstverständlich aus dem Budget des Hauses bezahlt, genau wie freie Spielorte wie das HAU in Berlin (es sei denn, die eingeladenen Ensembles kalkulieren schon beim Antrag zur Förderung der jeweiligen Performances die Audiodeskription mit ein und bringen entsprechende Förderung mit). Für eine neue Audiodeskription zahlt das HAU – inklusive Aufführung und Tast-Tour – je nach Aufwand zwischen 600 und 3.500 Euro, die Wiederaufnahme kostet 300 Euro pro Abend. Andernorts springen Stiftungen zur Finanzierung ein, wie die Lotto Stiftung in Berlin und die Brost-Stiftung in Gelsenkirchen. 

Die Audiodeskription vorzuproduzieren, um Kosten zu sparen, ist für die Audiodeskriptor:innen Anke Nicolai und Felix Baumann keine Option. »Ich halte das für völlig ungeeignet«, erklärt Nicolai. »Manchmal muss man auf Unvorhergesehenes einfach geistesgegenwärtig reagieren.« Das beginnt schon bei unterschiedlichen Tempi der Dirigent:innen, die die Pausen zur Einsprache verändern. Außerdem werde auch in der Oper auf der Bühne zum Teil improvisiert. »Manchmal küssen zwei Sänger:innen sich, manchmal nicht«, so Felix Koch. »Oder irgendwas passiert – sei es, dass jemand aus Versehen ausrutscht und alle lachen. Dann sitzt unser Publikum ohne spontane Erklärung doof da und weiß nicht, was passiert ist.« Selbst die Untertitelung laufe nicht automatisch ab. »Da sitzt jemand und klickt immer weiter, damit zum Beispiel auch der Witz an der richtigen Stelle kommt.«

Anke Nicolai an ihrem Arbeitsplatz im Friedrichstadtpalast

Das Projekt Berliner Spielplan Audiodeskription läuft im Mai 2024 aus, wie es danach in Berlin mit den Opernaufführungen für blindes oder sehbehindertes Publikum weitergeht, ist bis dato ungeklärt. »Unsere Angst ist, dass alles, was jetzt mühsam aufgebaut wurde, wieder zusammenbricht«, so Anke Nicolai. Sepehr Brüderlin von der Berliner Senatsverwaltung meint dazu auf VAN Nachfrage: »Wir sind mit den Häusern in Kontakt und dabei, zu planen, wie wir das verstetigen. Es besteht auf allen Seiten ein Interesse zur Verstetigung.« Auch Marion Mair von der Deutschen Oper betont zur Weiterführung der Audiodeskriptionen nach Mai 2024: »Wir stehen dem positiv und freudig gegenüber und wollen das natürlich. Das Knowhow und die Gäste, die wir dafür gewonnen haben, würden wir gerne bewahren.«

Beim Film ist die Produktion einer Audiodeskription (wie auch die von Untertiteln) seit dem Jahr 2013 Pflicht, sobald öffentliche Fördergelder in Anspruch genommen werden. Auch die Intendant:innen der ARD haben sich 2013 verpflichtet, das komplette Vorabend- und Abendprogramm mit Audiodeskription anzubieten. An den deutschen Bühnen ist die öffentliche Förderung aktuell noch nicht an Maßnahmen zur Barrierefreiheit gebunden. »Eigentlich braucht es im Theaterbereich genau so eine Regelung«, so Anke Nicolai. »Alle großen Häuser werden mit Wahnsinnssummen bezuschusst. Eigentlich muss festgelegt sein, dass davon eine bestimmte Summe für Inklusion ausgegeben werden muss. Sei es Gebärdensprache auf der Bühne, Audiodeskription, Leichte Sprache …« Durch die öffentliche Förderung versteht sie die Zugänglichkeit der großen Theaterhäuser auch für Menschen mit Behinderung als »gesellschaftliche und politische Aufgabe« dieser Institutionen. Beim Jahresbudget vieler Bühnen sei das Angebot wenigstens einer Audiodeskription pro Spielzeit »wirklich nur eine Willenssache«, so Felix Koch: »Die Häuser haben noch nicht so ganz auf dem Schirm – zum Glück werden es aber immer mehr –, dass gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe ein Menschenrecht ist. Sie haben einfach eine Pflicht, das anzubieten.« Und das nicht aus einer Wohltätigkeits-Haltung heraus, meint Anke Nicolai: »Es ist kein Good Will. Das muss eine Selbstverständlichkeit sein.« ¶


... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com

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