Wer die Motive der Romantiker sucht, muss über den Schlangenweg oberhalb der Alten Neckarbrücke den Heiligenberg besteigen, vorbei an Weinterrassen und Obstwiesen und am Rand des Odenwalds in den berühmten Philosophenweg abbiegen. Etwas außer Atem drosselt man sein Schritttempo und begreift plötzlich, warum sich Goethe, Hölderlin, Eichendorff, Heine und so viele andere Dichter und Denker hier mit Vorliebe ihre Beine vertraten. Übertrumpft doch nach jeder Biegung ein neues Panorama die Schönheit des vorigen. Zwischen den filigranen Ästen einer japanischen Wollmistel (so steht es auf einem kleinen weißen Schild am Stamm) reflektiert der Neckar die blutrot sinkende Wintersonne. Ein Schauspiel mit dramatischen Lichtwechseln, das sich am besten auf einer der steinernen Bänke beobachten lässt. Die Renaissance-Ruine des alten Schlosses am Hang gegenüber bildet dazu ein wenig drohend die majestätische Kulisse. Dort – so ist es urkundlich belegt – wurde bereits um 1613 die erste feste Theaterspielstätte Heidelbergs gegründet. Für seine Shakespeare-verrückte Gattin Elisabeth Stuart ließ Friedrich V. ein Theater in die Mauern des dicken Turmes bauen. Kurz nach Shakespeares Tod soll hier sogar dessen Company gastiert haben.

Dass knapp 240 Jahre nachdem jener dicke Turm von französischen Soldaten gesprengt und das Theater geplündert worden war überhaupt wieder eine feste Spielstätte eröffnete, sei eine kleine Revolution, erklärt mir der Technische Direktor des Theaters, Peer Rudolph. Denn weder die altehrwürdige Heidelberger Uni noch die Theater-Nachbarstädte Mannheim und Karlsruhe befürworteten den Bau. Die einen fürchteten um die Sittlichkeit ihrer Studenten, die anderen wollten keine Konkurrenztruppe. Nur dank der Hartnäckigkeit einer engagierten Bürgerschaft, angeführt von einem gewitzten Chirurgen, der mit Spenden und klugem Aktienhandel ein Grundstück erwarb, konnte der Bau in nur einem Dreivierteljahr hochgezogen werden. Am 31. Oktober 1853 öffnete er seine Pforten und behauptet seitdem seinen Platz zwischen Theater-und Friedrichstraße .

Inzwischen ist das Theater Heidelberg zu einem Fünfsparten-Haus ausgewachsen, zu »einer freundlichen Krake«, sagt Peer Rudolph, der mich durchs Haus führt. Ich starre etwas ungläubig auf die schmale klassizistische Front-Fassade. Krake deshalb, weil das Theater regelrecht nach den Wänden der Nachbarhäuser greift, dort wie mit Tentakeln andockt. Tatsächlich – das Haus einmal zu umrunden, erweist sich als schwierig. Der Neubau mit dem großen Marguerre-Saal wurde zwischen 2008 und 2013 konstruiert und schließt nicht nur an den alten Theatersaal von 1853 an, sondern integriert insgesamt fünf Altbauten – unter anderem ein ehemaliges Frauenstift und ein Bürgermeisterhaus. Es ist eine gläserne Neufassung, die zugleich die Struktur und Bauart der alten Gebäude sichtbar macht und das Theater in neuem Glanz erstrahlen lässt.

Foto © Waechter & Waechter mit freundlicher Genehmigung des Theater Heidelberg

Vom neuen Foyer, dessen Beton-Nüchternheit dank hellem Parkett und Glasfronten trotzdem einladend wirkt, erreichen wir über einen quietschenden Lastenaufzug den zweiten Rang des alten Theatersaals. Aus statischen Gründen ist er für Publikum inzwischen gesperrt, dafür gibt es viel Platz für die moderne Lichtanlage. Eine blütenverzierte Kasettendecke rahmt die pompöse Deckenrosette, die erst 1924 nach klassizistischen Mustern angeklebt wurde – das Originaldekor wurde bei Brandschutzmaßnahmen herausgeklopft. Einzig eine barbusige Muse habe den ersten Umbau überlebt, erzählt Rudolph, sie fiel aber später den Nazis zum Opfer. Zur selben Zeit wurde der Boden im Parkett angehoben, Türen verkürzt, der schöne Theatersaal büßte viel an Glanz und Akustik ein. Das sei durch die Restaurierung wieder verbessert worden, erklärt Rudolph. Beim Blick von oben wirkt die Bühne fast gestaucht, zwischen Ränge und Parkett verpackt wie eine glänzende Pralinenschachtel. Immer wieder im Laufe der Jahrzehnte wurde die Existenz des Theaters in Frage gestellt. Zuletzt stand sie 2006 auf der Kippe. Wollte man eine Restaurierung oder einen Neubau? Würde nicht ein Theater für die Region reichen, das in Mannheim stehen sollte? Am Ende der Unsicherheit stand ein überwältigendes Ja für ein Heidelberger Theater – das nun einen modernisierten Altbau und einen Neubau besitzt. Der Rückhalt der Politik und der Heidelberger Bürgerschaft sei seitdem kontinuierlich gewachsen, sagt Rudolph, die Finanzierung des Theaters ist bis 2027 gesichert. Ein Zustand, von dem andere Theater nur träumen können.

Wir stehen im Bühnenbild des Weihnachtsmärchens Konferenz der Tiere nach Erich Kästner. Aus der Bühnenmitte betrachtet hat der Raum etwas Erhabenes. Störrische Papp-Farne und Palmwedel schlagen uns ins Gesicht, abwechselnd in gleißendes Grün getaucht, dann wieder violett angestrahlt. Man bereitet die Diskussion des RNZ (Rhein-Neckar-Zeitung)-Forums vor, das sonst im Foyer stattfinde, aber diesmal besonders viel Zulauf bekommen wird – eine Diskussion mit Gabriele Krone-Schmalz. Vor dem Foyer haben sich bereits ein paar Demonstranten mit kritischen Plakaten gegen die Russland-Expertin versammelt.

Szene aus der Konferenz der Tiere • Foto © Susanne Reichardt

Durch Hubpodien ist die Bühne des alten Theatersaals von allen Seiten bespielbar und lässt sich zudem mit dem Zuschauersaal verbinden. Hinter dem stilisierten Blätterwald zeigt mir der technische Direktor ein Rolltor, wodurch man zur um 90 Grad versetzten (und im Vergleich zur alten Bühne dreimal so großen) neuen Bühne des Marguerre-Saals gelangt. Die Wände dieses modernen Theaterraums bestehen aus hunderten Eichenholz-Bögen, deren Innenseite einzeln beleuchtet ist – was nicht nur für eine gute Akustik sorgt, sondern auch für Avantgarde-Glamour. Der große Clou des Heidelberger Hauses:  Alte und neue Bühne können zu einer großen Fläche zusammengeführt werden. »Das gibt unglaublich vielen Inszenierungsideen Raum«, schwärmt Peer Rudolph. Für das Ende der Saison ist ein großes Fellini-Projekt geplant, über dessen letztes, nie verfilmtes Drehbuch, dafür sollen alle Bühnen geöffnet und verbunden werden, selbst der Zuschauerraum und die Unterbühne.

Theater könne man lernen, wie Mathe oder Deutsch, sagt Intendant Holger Schultze später in seinem hellen Büro oben im zweiten Stock. »Wir haben deswegen Kooperationen mit den Schulen. Inzwischen sind es 45, die sich verpflichten, einmal im Jahr mit ihren Schülern ins Theater zu kommen.« Für Studenten gibt es eine Uni-Flatrate, die bereits mit dem Semesterticket bezahlt werde. Schauspiel, Musiktheater, Konzert, Tanz…. Alles werde da besucht, sagt Schultze. Die Reihen seien voll. Doch die Zusammenarbeit mit Universität und Schulen seie nur ein Aspekt des Erfolgs. Als Theater müsse man darauf reagieren, dass die Gesellschaft immer mehr auseinander driftet – und dabei hat Schultze nicht nur die aktuellen Konflikte im Blick. Seit Beginn seiner Intendanz 2011 habe er sich auf die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der Heidelberger eingestellt, sich immer wieder die Frage gestellt: »Wie können wir Themen setzen, ohne nur Mainstream zu produzieren? Wie können wir den Kanon pflegen und trotzdem experimentieren oder Ausgrabungen machen?« Die Lösung habe er in Festival-Formaten gefunden, »ob das jetzt unser ›Widerstandsfestival‹ war mit den Uraufführungen im Schauspiel oder das iberoamerikanische ›Adelante‹, ob das der ›Stückemarkt‹ ist, die Schlossfestspiele oder Schwetzingen – immer versuchen wir, wichtige Themen über eine Verdichtung, in einer bestimmten Konzentration unserem Publikum nahe zu bringen.«

Der musikalische Winter des Heidelberger Theaters findet derzeit zum 16. Mal in Schwetzingen statt, im weltweit ältesten erhaltenen Rangtheater. Die Idee, nordische Barockkomponisten in südlichem Rokoko-Flair wiederzuentdecken, stamme noch vom Vorgänger-Intendanten Peter Spuhler, erklärt Musikdramaturgin Ulrike Schumann später beim Gespräch.

Bis Februar wird nun Ulysses von Reinhard Keiser gespielt. Das Werk wurde 1722 in Kopenhagen uraufgeführt und feierte jetzt, 300 Jahre später, seine erste szenische Wiederaufnahme. Keisers Version der griechischen Odyssee bedient sich unbekümmert am Homer’schen Epos, verwirft dabei Chronologie und Dramaturgie und stellt die Zauberin Circe mit ihren Eifersuchts-motivierten Intrigen als Schlüsselfigur zwischen die Hauptfiguren Odysseus und Penelope. 

Szene aus Ulysses • Foto © Susanne Reichardt

Auf der Schwetzinger Guckkastenbühne verbreitet einzig ein mächtiger Olivenbaumstumpf mit verschlungenem Wurzelwerk etwas von der Atmosphäre der mythischen Insel Ithaka. Ansonsten hängen die Protagonist:innen in einer  verstaubten Bar ab. Dass die traurige Penelope seit Jahrzehnten auf ihren liebsten Ulysses wartet, macht nicht nur das abgeblätterte Interieur und ihr brauner Faltenrock überdeutlich, sondern zeigt sich auch im etwas leierigen Sound, der ihren ersten Auftritt umgibt – eine virtuose, aber sehr melancholische Dacapo-Arie, die sie hoffnungslos abspult, während die Jukebox in der Ecke schweigt. Munter und feinperlig stieben dafür die Läufe aus dem Orchestergraben. Unter der Leitung von Clemens Flick spielt das Philharmonische Orchester Heidelberg auf modernen Instrumenten, aber versiert in barocker Phrasierung und Tongebung. Im Laufe der vergangenen Festival-Jahre haben die Musiker:innen hier ihren eigenen Barockklang kreiert – der beweist, dass man dafür nicht dogmatisch an historischer Aufführungspraxis kleben muss. Flicks Bearbeitung des Ulysses-Fragments ist theatral gedacht, die Leerstellen hat er mit Arien und Passagen anderer Werke Reinhard Keisers gefüllt, die erstaunlich gut zum erhaltenen Libretto passen. Der ungezwungene Umgang mit dem historischen Material wirkt erfrischend. Selbst wenn in den Verwandlungsszenen, in welchen Circe mit einem Zauberschwert versucht, Ulysses an sich zu binden, ein Motiv aus Strauss’ Rosenkavalier erklingt und Keisers Ulysses plötzlich unter einer romantischen (hier ungut-wahnhaften) Vorahnung leidet, oder die abgewiesene Zauberin Circe als schrille Barchanteuse plötzlich im Tangoschritt abgeht, zu Bandoneon-Akkorden, die in einen Hafensong münden. – Ich freue mich über den mutigen Zugriff, der das Publikum im fast ausverkauften Haus zu Beifallsstürmen hinreißt. Ulrike Schumann selbst hat die Texte für einen Schriftsteller-Erzähler geschrieben, der die dramaturgischen und musikalischen Änderungen auf der Bühne glaubhaft machen soll (was jedoch nicht immer aufgeht) und die komplexe Geschichte zugleich unterhaltsam herunterbricht. Jede Rekonstruktion sei ja auch Pionier-Arbeit, sagt sie nach der Vorstellung. Selbst wenn man sie im Geiste der Musik, der Zeit vornehme, wisse man nicht wirklich, ob es dann auch so aufgeht beziehungsweise funktioniert. Sie würde sich immer mal wieder die Augen reiben, denn von den großen Lücken, die Corona in die Zuschauerreihen vieler Theater gerissen habe, seihier nichts zu spüren. Auch das jüngere Publikum käme inzwischen nach Schwetzingen, »da merken wir ganz deutlich die Auswirkung der Uni-Flatrate«, sagt Schumann. Trotzdem müsse man Oper als Medium immer wieder vermitteln. Schumann hat vor Kurzem ihr erstes Libretto zu einem Musiktheater über Sophie Scholl geschrieben, das in Heidelberg mit großem Erfolg uraufgeführt wurde. »Die Leute kommen nicht von selbst. Und es geht doch darum: Wie nehme ich ihnen die Berührungsängste und zeige, dass Oper keine intellektuelle Veranstaltung ist, wofür man sich immense Vorkenntnisse anlesen muss?« Eine Gruppe vermisst Schumann ganz besonders im Theater: »Die jungen Familien, die Dreißig- bis Vierzigjährigen mit ihren Kindern.« Die könnten auch in Heidelberg einen größeren Prozentsatz im Publikum ausmachen. Über die Erweiterung entsprechender Angebote müssten sie sich in Zukunft verstärkt den Kopf zerbrechen.

Als spartenübergreifendes Intermezzo zwischen den Interviews sehe ich mir eine Liedrevue an, die Holger Schultze mit drei Schauspieler:innen und zwei Sänger:innen bereits vor zwei Jahren inszenierte. Deren romantisch-politischer Inhalt scheint heute passender denn je. 500 Meter vom großen Haus entfernt in der Zwingerstraße sind die Kammerbühne und die Spielstätte des Kinder-und Jugendtheaters untergebracht. Ursprünglich diente das Gebäude als Tanzsaal, den ein Bierbrauer in den 1840er Jahren gebaut hatte, um sein Produkt besser verkaufen zu können – auf dem Ruinengrundstück eines ehemaligen Deutschordens. Das bischöfliche Wappen, das als Schmuckstein in die Fassade verbaut wurde, sieht man noch heute am östlichen Giebel. Bis das Haus zur Probebühne des Theaters und schließlich Spielstätte wurde, diente es als Turnhalle, Lager und Papierfabrik. Vor zwei Jahren wurde er aufwändig saniert und mit einer neuen Obermaschinerie ausgestattet.

Szene aus Der Mond braust durch das Neckartal • Foto © Susanne Reichardt

Der Mond braust durch das Neckartal ist zum Glück keine wirkliche Nummernrevue. Eher eine feine Lied-Korrespondenz zwischen Rollkoffern und nostalgischen Hutschachteln, in denen die Motive der Romantiker (Sehnsucht nach Freiheit, Liebe, Heimat) mit den Rahmenbedingungen von Politik und Gesellschaft kollidieren. Poetischer Gehalt und politische Brisanz verändern sich von Lied zu Lied, spitzen sich zu oder schmieden schillernde Allianzen. Mal singen die Darsteller:innen im stilisierten Kammersängerquintett, mit allen Marotten, die klassische Chorsänger so aufzubieten haben, dann in schmissigen Solo-Nummern, mal mit Klappmesser, das gefährlich sirrend die Pausen von Schumanns In der Fremde zerschneidet, oder als Loreley-Verschnitt mit wasserstoffblonder Lockenperücke an der Harfe zupfend. Immer den Text präzise auf der Zunge, berührend und schrill zugleich.  

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Im ehemaligen Bürgermeisterhaus versperrt ein Korb voller Gasmasken den Eingang zur Waffenkammer. Innen stehen in Reih und Glied historische Badener Gewehre mit mächtigen Holzknäufen an der Wand. »Alle bei der Polizei gemeldet, und unschädlich gemacht«, sagt Rudolph und drückt mir einen abgesägten Lauf in die Hand. Der Orchesterprobensaal im ersten Stock ruht auf Polymer-Blöcken. Von der Kreissäge, die in der Schreinerei darunter mit 120 Dezibel kreischt, dringt deshalb kein Laut nach oben. Die Rückwand des Saals lässt sich zum dahinterliegenden Chorsaal öffnen. Chor und Orchester können so nicht nur ohne Platzmangel gemeinsam proben, es finden sogar Werkstattkonzerte statt. 120 Leute kämen hier problemlos unter, so Rudolph.

Im Cafe zwei Straßen weiter treffe ich dann endlich Generalmusikdirektor Elias Grandy. Er glaubt, es sei weniger wichtig, die exotischste Ausgrabungen oder das ehrgeizigste experimentelle Projekt ans Theater zu holen, als vielmehr den eigenen unverwechselbaren Klang zu finden und diesen auch zu pflegen. »Das ist wie zu seinem Dialekt stehen. Dafür muss man Stücke wählen, die zum Orchester passen, an denen es aber auch wachsen kann«, sagt Grandy, »in unserem Fall nicht unbedingt Wagner.«  Unter Grandy hat das Orchester viel überregionales Lob geerntet und ist zu einem bemerkenswerten Klangkörper gereift. Er vergleicht es liebevoll mit dem SC Freiburg in der Bundesliga, ein kleines B-Orchester von 63 Musiker:Innen, das es locker mit größeren Orchestern an weitaus prominenteren Häusern aufnehmen könne.

Elias Grandy • Foto © Susanne Reichardt

Viel wichtiger als Erwähnungen in der überregionalen Presse ist Grandy aber, dass das Theater mit seinem Orchester als gesellschaftlicher Treffpunkt wahrgenommen wird. Dafür hat er bereits 2015 die ersten moderierten Jugendkonzerte eingeführt: »Denn es bleibt eine Herausforderung, junge Menschen für klassische Musik zu interessieren, egal ob bildungsfern oder nicht«, sagt er. »Allerdings sollten wir dafür nicht den Kern unserer Aufgabe verwässern, sondern die Faszination für Klassik weitergeben, zeigen, wie toll es ist, sie zu spielen und wie vielfältig sie klingt.« Musik sei eine Sprache, die man erlernen kann und an der man gerade auch als Profi immer wieder neue Tiefenschichten entdecke.

»Das geht mir ja genauso«, sagt Grandy, »oftmals dirigiere ich etwas, wozu ich nicht sofort einen Zugang hatte.«

Die Zusammenarbeit mit Schulen und der Universität seien daher wichtige Schritte in die richtige Richtung. Auch weil klassische Musik dazu beisteuern kann, Geschichte zu verstehen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Ein Beispiel dafür ist Heidelbergs Teilnahme am Projekt »Europäisches Archiv der Stimmen«, für das Zeitzeugen-Interviews aus über 30 europäischen Ländern gesammelt wurden. Ziel sei, Geschichten jener Generation zugänglich zu machen, die Europa nach 1945 wieder aufgebaut hat, erklärt Grandy, der auf das Projekt durch den FAZ Redakteur Simon Strauß aufmerksam wurde und drei dieser Texte als Grundlage für Kurzopernlibretti in Auftrag gab. Im Mai werden diese im Zwinger uraufgeführt. Grandy hofft, dass dies ein Impuls sein wird, auch andere Theater für das Projekt zu begeistern. Den weiteren Spielplan bestimmten acht Philharmonische und vier Bachkonzerte dazwischen laufende Repertoireproduktionen und vier Musiktheaterpremieren. Bei den Philharmonischen Konzerten ist es Grandy wichtig, jeweils eine unbekannte Komponistin und einen bekannteren Komponisten zu finden, die thematisch oder musikalisch miteinander korrespondieren. Auch eine Gastdrigentin pro Spielzeit sei gesetzt. Das sei wichtig, um der Selbstverständlichkeit von Frauen am Pult und im Programmheft auf die Sprünge zu helfen

Die heutige Aufgabe des Stadttheaters sieht Grandy darin, das Repertoire auf einem Niveau vorzustellen, wie es früher vielleicht nicht möglich war, und dabei die Möglichkeiten voll auszukosten. Da sei man in Heidelberg schon sehr gut dabei, doch für die Zukunft wünscht sich Grandy, dass man die Exzellenz-Festivals, wie  den »Heidelberger Frühling« und das »Klangforum« auch einmal mit dem Philharmonischen Orchester Heidelberg zusammenbringe. Ein großes Musikfest schwebt ihm vor, von dem alle profitieren könnten.

Wie die Heidelberger Philharmoniker dann am Abend in der Aula der Universität Lera Auerbachs Violinkonzert de profundis spielen, zeigt, wie unbedingt man hier bereit ist, am eigenen Ausdruck zu feilen. Elias Grandy ist ein präziser, eher zuhörender als eingreifender Dirigent, der seinem Orchester viel Raum zur Entfaltung bietet. Es ist aufregend zu hören, wie die Musiker:innen die Grenzen von Auerbachs Musik ausloten, sie erklimmen, auf ihnen balancieren, abstürzen – um mit Liza Ferschtmans Solovioline förmlich abzuheben. Mit einem leisen Klagelied steigt diese aus einem irisierenden, nervös gestrichenen Klangteppich. Immer wieder sticht die Melodie gnadenlos in die Tiefe, kommentiert von knarzendem Blech und tiefen Streicher-Gewitter, um sich schließlich über erneutem Tutti-Raunen in virtuoser Verzweiflung noch höher zu schwingen. Eine Sisyphos-Arbeit, die einen am Ende sprachlos, doch erfüllt von Klangschönheit zurücklässt. ¶