Oper soll berühren. Berührung aber kann konkret körperlich und muss dabei nicht immer angenehm sein. Und das hier ist schon mehr als ein normales Theatergewitter. Markerschütternde Schreie von zwei Schiffbrüchigen gellen durch die alte Industriehalle auf Kampnagel Hamburg. Grelle Lichtblitze durchzucken die Halle, akustisch verstärkt von spitzem Gekreische einer Sängerin: »Blitzblitz! Blitzblitz!« Im Hintergrund biegt sich das Donnerblech, aber das Gewitter ist akustisch eigentlich noch viel näher: Es findet auch unter den Sitzen des Publikums statt, mit buchstäblich erschütternden tiefen Frequenzen eines Cellos, die aus riesigen Vibrationsmaschinen tönen.

Wir sind gewarnt worden. Nicht nur durch die drei Ausrufezeichen auf den vier Screens, die in dieser Aufführung der Oper Die Insel immer dann aufleuchten, wenn gleich etwas zum Zusammenzucken passiert. Sondern auch schon vor Betreten der Halle. Regisseur Benjamin van Bebber gibt den Wartenden vor der Vorstellung eine Einführung in die Produktion, »damit Sie sich in unserem Stück zurechtfinden«. Denn obwohl die Komponistin Maria Theresia von Paradis die Oper Rinaldo und Alcina, auf der die Performance Die Insel basiert, vor über 200 Jahren komponierte, läuft in der ersten Inszenierung des Stückes seit 1797 vieles anders ab als sonst in der Oper. Man richtet sich hier ausdrücklich auch an blindes und gehörloses, an ein grundsätzlich diverses Publikum. Teilweise werden wir in den Saal und auf die Plätze geführt. Dabei helfen eine Leuchtspur auf dem Boden sowie Teile des Teams, die assistieren.

Alle, die dabei sind, sollen berührt werden von dieser Oper – von der Geschichte der Zauberin Alcina, in die sich der schiffbrüchige Ritter Rinaldo verliebt. Zuvor fiel die Kompanie [in]operabilities bereits mit einer Produktion auf, die unter dem Titel A Singthing die Arie als Kulturtechnik erörterte – diese teils viertelstündige Darlegung eines einzigen Gefühls. Auf welchen Ebenen, so war damals die Frage, ist so eine opernhafte Darlegung auch für blinde und gehörloses Publikum interessant? Für Die Insel, sagt die Ko-Regisseurin Jeanne Charlotte Vogt, rutscht der zentral betrachtete Begriff nochmal eine Ebene höher: Nicht mehr das Gefühl einer einzigen Person steht im Fokus, sondern eben die Berührung mehrerer Personen – auf ihre je eigene Art.

»Wir haben eher das gemeinsame Singen in den Fokus genommen: Wie können wir gemeinsam Töne finden?« Und das eben auch, obwohl einige Protagonisten keine Klänge im herkömmlichen Opern-Sinn produzieren. »Berührt uns das dann trotzdem?«

Auch schon Opernmacher vergangener Jahrhunderte hätten – zum Zweck der Berührung aller – ihre Hoffnung auf viele Medien jenseits der eigentlichen Musik gesetzt. »In der Oper«, so Benjamin van Bebber in seiner Einweisung zum Stück Die Insel auf Kampnagel, »gibt es Musik, Gesang, Licht, Bühnenbilder, Schauspiel, Tanz, viele Sprachen, Übertitel – hier spielen viele Sinne und Künste zusammen. Und wofür das alles? Um uns zu berühren, um uns Gefühle fühlen zu lassen, für die wir sonst keinen Ort finden.«

Benjamin van Bebber ist kein klassischer Opernregisseur, wiewohl er an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg genau diese Ausbildung absolviert hat. Aber auf das Genre der Oper guckt er offenbar gerne skeptisch von außen: »Die Oper behauptet: Es gibt diesen Ort, den Ort der Berührung. Und dieses große Versprechen wollten wir für uns überprüfen.«

Wenn man den Saal betritt, hat die Vorstellung schon angefangen. Benjamin van Bebber arbeitet eher im Bereich von Installationen und Performances. Auch die sechseckige Spielfläche als zunächst ruhiges Meer gleicht einer Installation. Im Hintergrund kündigt ein Donnerblech schon den Sturm an, der den Ritter Rinaldo auf die Insel der Zauberin Alcina verschlagen wird. An einem Ende der Bühne hängt ein Kleiderständer mit den verschiedenen Kostümen, die gleich benutzt werden – wir dürfen sie befühlen. Die Sopranistin Marie Sophie Richter sitzt am Rand der Fläche auf Kampnagel und zupft ihr Cello. Bevor es wirklich losgeht, stellen sich die Darstellenden vor. Sie beschreiben sich, die Kostüme und Accessoires, die sie in ihrer jeweiligen Rolle tragen.

Das ist kein reines Nach- beziehungsweise Vor-Erzählen der Handlung, es geht auch darum, die eigenen Gefühle in der Rolle zu beschreiben. In der Aufführung staunt man, wie offen über Gefühle kommuniziert wird. Die Darstellerin der Alcina, Athena Lange, sagt von sich, dass sie einen starken Menschen spiele, der jedoch auf seiner Insel einsam sei – und doch auch Freude und Spaß haben wolle.

Die Gebärdensprache wird dann virtuos in die Aufführung eingewoben – auf zwei Arten: Zum einen bekommen die Gebärden der gehörlosen Alcina-Darstellerin oft eine Audiodeskription von anderen Mitspielenden, die selbst künstlerisch gestaltet ist: Sprechen geht in Singen über und umgekehrt. Zum anderen »verstärkt« Alcina ihre Gebärdensprache musikalisch: über einen unkonventionellen Gebrauch eines ohnehin schon ungewöhnlichen Instruments, des Theremin. Hier ist es das »Zauberinstrument« von Alcina.

Das Theremin ist jener in den 1920er Jahren entwickelte Stab, der elektromagnetischen Wellen erzeugt, die ihn umgeben. Spieler können diese Wellen mit den Händen verändern und damit Klänge mit verschiedenen Farben und Tonhöhen gestalten. Die gehörlose Alcina-Darstellerin Athena Lange fasst ihren gebärdensprachlichen Ausdruck auf diese Art musikalisch – im selben Moment, in dem sie gebärdet. Und sie verwendet das Theremin nicht so, wie es bisher üblich war. Der singende, geigenähnliche Klang des Instruments spielt kaum eine Rolle – vielmehr geht es um eine haptische, oft perkussive Begleitung von Alcinas Gesten.

Man habe für diese Produktion mit blinden und sehenden, mit hörenden und gehörlosen Darstellenden nach »taktilen« Instrumenten gesucht, sagt der Komponist Leo Hofmann, der den Ersatz für die verschollene Musik von Maria Theresia von Paradis teilweise erst im Lauf des Produktionsprozesses gemeinsam mit dem gesamten Team entworfen hat.

Dabei hat die Wahl der Instrumente von Beginn an eine entscheidende Rolle gespielt, so Hofmann. »Weil sie anders funktionieren und andere Übersetzungsleistungen vollbringen müssen. Gerade in dem Bewusstsein, dass die Taktilität ein Sinn ist, den in unserem Publikum alle erfühlen können.«

Dazu gehört nicht nur das Theremin – dazu gehören auch die vibrierenden Tribünen, die zum Beispiel die Schwingungen der Celloklänge fühlbar machen, genau wie die Sauna-Fächer, mit denen der Wind des Meeressturms ins Publikum geschlagen wird. Die, sagt Hofmann, »nennen wir intern jetzt quasi auch ›Instrumente‹«. Diese sind mit Folien bespannt, die auch Klang aus anderen Quellen reflektieren. So erweitern sie den herkömmlichen Begriff eines Musikinstruments. »Wir haben Instrumente also immer in verschiedene Sinne übersetzt und mit mehr als einer Funktion ausgestattet.« Leo Hofmann nennt das einen »vielsinnigen Gebrauch« der Instrumente.

Das »Taktile« setzt sich aber in der Aufführung über die Instrumente hinaus fort. Als Ritter Rinaldo in Gestalt der blinden Darstellerin Sophia Neises das rettende Land erreicht, stampft er in einem eigenen Rhythmus und in einer darauf aufbauenden musikalischen Figur mit anderen Spielern auf den Boden. Das glücklich erreichte Land wird für alle Sinne erfahr- und spürbar. Wie auch mit der ganzen Aufführung dieser inklusiven Insel eine neue auch ästhetische Landmarke im Musiktheater erreicht ist.

Das ist vielleicht das beste Beispiel dafür, was das Produktionsteam von [in]operabilities immer wieder betont: Gehörlos oder blind zu sein, sei »Behinderung« in erster Linie aus der Perspektive von Sehenden und Hörenden. Berücksichtige man darüber hinaus die Perspektive der Betroffenen, sei es eher ein »Wahrnehmungsstil« – mit welchem hier künstlerisch umfassend gearbeitet wird.

Gute Kunst ist eine für alle gelungene Kommunikation, die im Sinne des Konzepts Aesthetics Of Access verschiedene Perspektiven zulässt, davon ist Ko-Regisseurin Jeanne Charlotte Vogt überzeugt: »Wir alle nehmen Welt verschieden wahr. Das sollten wir uns bewusst machen und nicht behaupten, ein Kunstwerk sei bedingungslos für alle gleich. Es gibt verschiedene Perspektiven auf eine künstlerische Arbeit. Das ernst zu nehmen und daraus für möglichst viele verschiedene Wahrnehmungsstile ein ästhetisch spannendes Erlebnis zu schaffen – darum geht es uns hier.«

Ein »ästhetisch spannendes Erlebnis« soll hier aber auch für diejenigen geschaffen werden, die eben nicht blind oder gehörlos sind. Die Hoffnung ist, dass dieser Ansatz auch für sie Barrieren abbaut – dass Kunst also für uns alle zugänglicher wird. ¶

In einer früheren Version des Artikels wurde nicht deutlich, dass die ursprüngliche Oper von 1797 Rinaldo und Alcina hieß. Wir haben das korrigiert.


Die Insel ist am 27. und 28. März 2024 im Berliner Radialsystem, am 16. Januar 2025 im Basler Gare du Nord  und am 30. Januar bis 1. Februar 2025 beim Zürcher Sonic Matter Festival zu erleben.

… arbeitet als Musikjournalist für Berliner Tageszeitungen und die Kulturprogramme von ARD und Deutschlandradio. Er studierte Musikwissenschaft, Musik und Philosophie. 2008 erschien sein Buch ›Als Bürger leben, als Halbgott sprechen‹. In seiner Freizeit unterhält er drei Töchter und ein sehr altes Holzhaus.