Ende August kamen in Berlin 29 Künstler:innen des freien Musiktheaters zusammen, um individuelle Erlebnisse und Erfahrungen nach zwei Jahren Pandemie auszutauschen. Dabei zeigte sich, dass es der Szene nicht nur an materieller Sicherheit fehlt. 

Gustav Mahlers Komponierhäuschen am Attersee, Henry David Thoreaus Blockhütte am Walden Pond in Massachusetts oder Dylan Thomas’ Schreibschuppen im walisischen Laugharne sind ikonische Orte des künstlerischen Rückzugs. Sie stehen für zwei ideale Grundbedingungen schöpferischen Arbeitens: die endlose Verfügbarkeit von Zeit in perfekter räumlicher Isolation. Gleichzeitig verräumlichen sie die romantische Auffassung vom genialen Künstler, der nur aus sich selbst heraus, im auf sich selbst gestellten und in sich selbst versunkenen Suchen und Scheitern Großes schafft. 

Es sind Orte, die heute auch deshalb verklärt werden, weil sie an eine verloren gegangene Möglichkeit analoger Kunstproduktion erinnern. Denn die Abgeschiedenheit ist schon lange nicht mehr das, was sie mal war. Heute sind Künstler:innen an fast jedem Ort der Welt mit jedem anderen verbunden. Und kaum einer kann es sich noch leisten, der Welt abhanden zu kommen. Stattdessen gilt: im Spiel bleiben, mobil sein, Sichtbarkeitskanäle bedienen, beschleunigt kommunizieren, Projekte pitchen, sich planvoll vernetzen, sein »Produkt« mit Markt und Wettbewerb abstimmen, strategisch handeln. 

Das verändert auch das Zeitempfinden. »Zeit« wird zur knappen Ressource, um die eine Vielzahl von Interessen und Technologien konkurrieren, ein sequenziertes Fließband, das an einem vorbeizieht und stetig neue Aufgaben bringt, die abgearbeitet werden müssen, wie es der amerikanische Anthropologe Edward T. Hall beschrieben hat. Je »produktiver« man ist, desto schneller läuft das Band, bis man irgendwann zusammenbricht. 

Besonders dringlich scheint dieses Zeit-Problem für eine Kunstszene zu sein, die rein begrifflich zunächst einmal ein unbedarftes Verhältnis zur Zeit zu haben scheint. Die sogenannte »freie Szene« beschreibt sich selbst in Abgrenzung zu den festen (öffentlich finanzierten) Kulturinstitutionen oft als frei von wirtschaftlichen Verwertungszwängen, frei von inhaltlichen und strukturellen Vorgaben, frei von festen Arbeitsverhältnissen. »Künstler:innen der Freien Szene arbeiten inhaltlich, methodisch und strukturell unabhängig, selbstbestimmt und selbstorganisiert.«

Dass mit dieser »Freiheit« auch ein »mehr an Zeit« einhergeht, steht insbesondere für jene – kunstfernen – Betrachter fest, für die der (freie) Künstler der müßiggehende Nichtsnutz ist, der sein »Hobby zum Beruf« gemacht hat und sich aus der Verantwortung stiehlt, seine Lebenszeit für ein sinnvolles = zweckbestimmtes Handeln einzusetzen. Als während der Corona-Lockdowns Kunsteinrichtungen unter »Freizeitgestaltung« subsumiert (und geschlossen) wurden, sahen viele dahinter eben jene kunstbanausige Haltung am Werk. Dabei definiert auch die Freizeitwissenschaft »die freie Zeit« mit dem Kriterium der Selbstbestimmung: »Wir haben eine bestimmte Lebenszeit, in der es Zeiten gibt, die eher determiniert oder zweckbestimmt sind, und disponible Zeiten, freie Zeiten, die der Selbstbestimmung zur Verfügung stehen, die ich autonom gestalten kann.« 

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Lebt der selbstbestimmte Künstler also im glückhaften Zustand freier Zeitgestaltung, in der er sich langsam von der Muße küssen lassen kann? In der Realität ist das Gegenteil der Fall. Das finanzielle Prekariat vieler freier Künstler:innen, zum Beispiel im »Zauberland der Musik«, ist in den letzten Jahren zunehmend ins mediale und politische Bewusstsein gerückt. Ein Charakteristikum der freien Szene ist aber, dass sie gleichzeitig im Finanz- wie im Zeitprekariat lebt. Das ist auch eine Erkenntnis aus dem Labor Freies Musiktheater, bei dem sich Ende August in Berlin freie Musiktheaterschaffende in Berlin zusammenfanden: Schauspieler:innen, Musiker:innen, Regisseur:innen, Bühnenbildner:innen, Komponist:innen, Dramaturg:innen, Kurator:innen, die im Kollektiv oder als Einzelkämpfer:innen Musiktheater machen, das nicht unter dem institutionellen Dach der öffentlich finanzierten Opernhäuser und Theater stattfindet. (Das Labor war Teil des Programms »Bundesweite Artists Labs« des Fonds Darstellende Künste, gefördert aus dem Bundesprogramm »Neustart Kultur« und veranstaltet vom Verein FREO – Freie Ensembles und Orchester in Deutschland e.V.)

»Die Zeit ist für mich eine Größe geworden, um und gegen die ich kämpfen muss«, erzählte eine Teilnehmerin des Labors. Das habe auch eine emotionale Komponente: Man tadele sich dafür, Zeit nicht »gut genug« genutzt oder gar vergeudet zu haben. Das konterkariert die klischeehafte Vorstellung vom Künstler als Müßiggänger und erinnert eher an das, wovor Friedrich Nietzsche schon 1882 in Die Fröhliche Wissenschaft warnte: »Es könnte bald soweit kommen, dass man einem Hange zur vita contemplativa (das heißt zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe.«

Ein notorischer Zeitfresser für die freie Künstlerin ist »die verflixte Papierkramschnecke«, das Hamsterrad aus immer wieder neuen Projektanträgen und deren administrativer Abwicklung, die nicht zuletzt auch einen anderen Denkmodus als die künstlerische Arbeit erfordern. »Ein Antrag lähmt für Wochen meine Kreativität«, so ein Teilnehmer. Die vermeintliche Selbstbestimmung endet also bereits bei der Deadline des nächsten Fördertopfs.

Dazu kommt nicht nur im Falle des freien Musiktheaters ein künstlerisches Feld, dessen Gegenstand permanent ausfranst. Kaum eine Veranstaltung, die heute ohne die Selbstbeschreibung auskommt, »Genregrenzen zu überschreiten« oder gleich ganz »aufzulösen«. Dabei lautet eine Binsenweisheit des Zeitmanagements, dass wer Zeit haben will, sich begrenzen muss. Einer solo-selbstständigen Geigerin mit Spezialisierung im Fach Alte Musik mag dies einfacher fallen, weil sowohl der Gegenstand ihrer künstlerischen Beschäftigung als auch »der Markt«, auf dem sie ihn anbietet, abgrenzbar bleiben. Im freien Musiktheater bewege ich mich hingegen in einem Genre, das keine Grenzen und deswegen keine Form hat. Musiktheater ist permanente »Schnittstelle«, ein auch beim Berliner Labor inflationär gebrauchtes Buzzword. Das klingt gut, heißt aber in der Praxis, dass mit jeder Schnittstelle ein neues Teilsystem dazu kommt, das es zu betreuen gilt und in dem ich mich auskennen muss: Produktionstechniken, Themen, Kooperationen… Das endet dann unter Umständen im künstlerischen Fear of missing out (FOMO): »Ich schaue mich um, und sehe, dass jetzt alle was mit Film machen. Muss ich das auch?«, so ein Teilnehmer. Bei gleichzeitigem Druck, das eigene Profil zu schärfen, droht dann das Auswahlparadox: Die lähmende Qual der Wahl in einem Überangebot von Möglichem.

Im Corona-Lockdown stand die knappe Ressource Zeit dann plötzlich unbegrenzt zur Verfügung. Für einige Teilnehmer:innen des Labors brachte dies eine Ahnung von einer Kunstproduktion zweiter Ordnung zurück. »Die Möglichkeit zur Introspektion« bezeichnete einer als seinen schönsten Corona-Moment. »Jetzt konnte mal etwas aus der Ruhe entstehen, nicht aus dem Druck, das etwas entstehen muss«, beschrieb es ein anderer. Dies weist auf den Produktivitäts- und Verwertungsdruck hin, der die freie Szene sonst bestimmt. »Wir sind dazu trainiert, Ideen zu haben«, beschrieb es eine Teilnehmerin. Die nackte Wand während des Lockdowns habe zuerst Panik hervorgerufen, »bevor ich sie wieder füllen konnte«.

Der Horror vacui – die einen schafften sich schnell neue (Produktions-)Techniken drauf – programmieren, schneiden, performen –, andere machten sich daran, Corona künstlerisch zu »verwerten«. Das Gebot, »aktueller« zu sein als das institutionalisierte Theater, also maximal politisch, digital, partizipativ, inklusiv und divers, ist ohnehin schon im eigenen Anspruch verankert und wurde durch den öffentlich ausgetragenen »Systemrelevanzdiskurs« zusätzlich getriggert. Ein Teilnehmer beschrieb dies als ein selbstlegitimatorisches Ameisenrennen: »Ich hab Bedeutsamkeit, und du?« »Ich hab Dringlichkeit.« Eine andere berichtete davon, dass es sie störe, bei einer Probe nicht schneller, quasi in Echtzeit, auf tagesaktuelle politische Ereignisse eingehen zu können. Dabei scheint auch so manch Fördertopf (An)Forderungen an die freie Szene zu formulieren, an denen öffentlich finanzierte Kulturtanker mit vierstelliger Mitarbeiterschaft arbeitsteilig arbeiten (oder auch nicht) – und oft genug scheitern.

»Wenn man sich zu vielen Anforderungen gegenübersieht, geht man leicht davon aus, dass die einzige Antwort darin bestehen muss, die Zeit besser zu nutzen, indem man effizienter wird, sich mehr anstrengt oder länger arbeitet – als wäre man eine Maschine –, anstatt sich zu fragen, ob die Anforderungen selbst vielleicht unangemessen sind«, schreibt der britische Journalist Oliver Burkeman in seinem Buch 4.000 Wochen. Er beschreibt damit eine Art Produktivbesessenheit, mit der auch in der freien Szene der Unsicherheit und Überforderung bisweilen begegnet wird: »Wenn ich mich nur richtig anstrenge und sämtlichen Anforderungen gerecht werde, werde ich mich vielleicht eines Tages beruflich und finanziell sicher fühlen.« 

Ein Trugschluss, der bei freien Künstler:innen nicht selten in physischer und geistiger Erschöpfung endet. Der Freiheitsmythos aus Eigenverantwortung, Selbstorganisation, Flexibilität und Selbstbestimmung erscheint plötzlich als Euphemismus dafür, sich selbst emotional und kognitiv zu jeder Zeit voll verausgaben und die Trennung zwischen Arbeit und Leben aufgeben zu müssen. Kein Zufall, dass diese ursprünglich mit dem Künstler assoziierten Eigenschaften zum Vorbild der postfordistischen Arbeitswelt geworden sind, in dem Luc Boltanski und Ève Chiapello schon 1999 den »neuen Geist des Kapitalismus« erkannten.

Persönliche Erfahrungsberichte beim Berliner Labor zeigten, wie sich der Rausch des Anfangs nach einigen Jahren im Rauch des Ausgebranntseins auflöst. Einer beschrieb die freie Künstlerin als »Extremsportlerin« der Kunst: »Ich werde mit dem, was ich mache, immer darum kämpfen müssen, einen Platz zu finden. Wie als Kunstschaffende nicht ausbrennen?« Bei vielen trägt dazu auch die Unvereinbarkeit des freien künstlerischen Schaffens mit dem Anspruch bei, sich um Kinder und Partnerschaft zu kümmern. Bezeichnend, dass unter den Teilnehmer:innen des Labors niemand über 50 war. »Es braucht Kraft, den Glauben aufrecht zu erhalten, dass es immer weiter geht.«

Bei der Ideenkonferenz am Ende des Labors erhielten jene die meiste Resonanz, die sich auf die ein oder andere Weise mit dem Umgang mit der verlorengegangenen Zeit auseinandersetzten. Ein »Lustometer« erinnerte an den altbewährten Ratschlag, den die Comicautorin und Kreativitätstrainerin Jessica Abel mit »Pay yourself first« beschreibt: Um sicherzugehen, dass die für einen selbst wert- und lustvollste Aktivität wirklich stattfindet, sollte man ihr immer zuerst Zeit widmen, statt sie aufzuschieben, bis alle anderen vermeintlich wichtigen Aufgaben erledigt sind. Das Motto: »Sei jeden Tag für eine Stunde Regisseurin, wenn du es nicht schaffst, sei es für zwei« erinnerte an den von John Cage zitierten Zen-Spruch: »If something is boring after two minutes, try it for four. If still boring, then eight. Then sixteen. Then thirty-two. Eventually one discovers that it is not boring at all.«

Das Zeitprekariat verschwindet nicht von alleine mit einer veränderten Sichtweise auf die Zeit, genauso wenig lässt es sich einfach mit »mehr Geld und Absicherung« beseitigen. Das Berliner Labor hat bestätigt, wie groß das Bedürfnis vieler freier Künstler:innen nach Zeit-Räumen ist, in denen es nicht um »Netzwerken« geht, sondern darum, sich gegenseitig zu fragen: Wie kommst du eigentlich zurecht? Wie will ich arbeiten? Was für einen Umgang mit Zeit muss ich finden, damit ich wieder kreativ sein kann? 

Dabei kam dem Beobachter ein Verdacht: Kann es sein, dass es bei den hier Versammelten zum Selbstverständnis gehört, sich aufzuopfern für die Kunst, die Selbstfürsorge aber ein Tabu bleibt, weil es nicht mit dem Bild eines zur Kunst berufenen Künstlers zusammenpasst, weil »Selbstfürsorge« immer auch nach »Selbstoptimierung« und Lifehacks klingt, nach Anti-Stress-Backen, Pomodoro-Technik und Digital Detox? 

Der Weg zurück in die Künstlerklause oder Thoreaus Blockhütte im Wald scheint mittlerweile verbaut. »Die Welt braucht meine Teilnahme mehr denn je. Und wieder ist es keine Frage des Ob, sondern des Wie«, schreibt die US-amerikanische Digitalkünstlerin Jenny Odell in ihrem Buch Nichtstun. »Wir müssen beides schaffen, Kontemplation und Partizipation. Der Feind ist nicht die Welt, sondern die Kanäle, über die wir ihr begegnen.« ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com