Das berühmte blaue Licht der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche reicht nicht bis hierhin, bis in das fensterlose Kabuff des Dirigenten Achim Zimmermann. Er sitzt am Schreibtisch im Untergeschoss, umgeben von Noten, Noten, Noten. Im Oktober feiert man in dieser Kirche ein ganz besonderes Jubiläum: Seit 75 Jahren werden in Berlin beständig Bach-Kantaten aufgeführt. Zuerst jede Woche eine, dann alle zwei Wochen. So ist es bis heute – mit Ausnahme der großen Ferien. Zwanzig von diesen 75 Jahren hat der ehemalige Kruzianer Zimmermann dirigiert – an der Spitze seines Bach-Chors, in der Gedächtniskirche. Der Chor ist kein Profichor, brennt aber für den Namensgeber. Wie ist das an der Seite von Johann Sebastian, im Dienste seiner Kantaten? Warum sind Choräle das Größte? Und was ist jetzt mit Darmsaiten? Ein Gespräch mit Zimmermann zum Jubiläum.

VAN: Wie ist das als Bach-Dirigent, glaubt man an Gott oder glaubt man an Bach?

Achim Zimmermann: An beide.

Sie kommen aus einem kirchlich geprägten Elternhaus?

Ja klar. In Sachsen waren viele Leute in der Kirche.

Und viele Bach-Musiker waren noch Pfarrerssöhne dazu.

Meine Eltern waren keine Pfarrer, aber wir haben regelmäßig sonntags in der Kirche gesungen. Ich stamme aus der Nähe von Dresden. Zwischen 7 und 10 Jahren habe ich jede Woche mit der Kurrende im Gottesdienst gesungen. Dann kam der Kreuzchor.

War Bach für Sie als Sängerknabe schon besonders wichtig?

Als Kind singt man das, was auf dem Programm steht. Da denkt man kaum drüber nach. Man findet alles schön. Die Traditionslinie zu Bach war mehr im Thomanerchor in Leipzig beheimatet. Unter dem berühmten Kreuzkantor Rudolf Mauersberger haben wir sehr viel von Heinrich Schütz gesungen. Bach-Kantaten gab es in Dresden nur selten, meist an kirchliche Feiertagen.

In Berlin werden Bach-Kantaten seit 1947 ununterbrochen aufgeführt. Ist das die längste Kantatenkette überhaupt?

Es ist ziemlich unvergleichlich. Zunächst wurde in Berlin nach dem Krieg jede Woche eine Kantate aufgeführt, in wechselnden Kirchen. Man stieg dann aus finanziellen Gründen auf einen Zwei-Wochen-Rhythmus um. In der neu gebauten Gedächtniskirche fand Bach dann seit 1961 seine ständige Heimat. In dieser Kontinuität gibt es Bach-Kantaten sonst nur noch in der Leipziger Thomaskirche.

Man denkt immer, alle führten permanent Bach-Kantaten auf, weil die Musik so großartig ist. Das ist aber überhaupt nicht der Fall.

Nein, es werden immer nur ein paar sehr bekannte aufgeführt. Nummer 21 beispielsweise, Ich hatte viel Bekümmernis, oder Nummer 81, Ich habe genug. Es gibt natürlich auch einige, die nicht so publikumswirksam sind. Manche erschließen sich beim ersten Hören nicht. Die Texte sind sehr barock. Man muss sich hineindenken. 1989 bin ich zur Berliner Singakademie gekommen, da spielte zwar die Matthäuspassion wegen der Wiederaufführung durch Mendelssohn eine große Rolle, aber das Kantatenwerk Bachs nicht. Als mir dieses Amt hier angetragen wurde, habe ich mich monatelang mit der Materie beschäftigt. Man muss in diesen liturgiegerechten Zyklus erst hineinwachsen. Ich kannte bis dahin 20, 30 aber nicht 200 Kantaten.

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Wenn man sich dann hineingedacht hat und extrem viel Bach dirigiert, wie behält man da gute Laune? Es geht so oft um das Leiden und Sterbenmüssen.

Ich finde, dass die vom Text her traurigen Kantaten wie eben Nummer 21 musikalisch besonders stark sind. Immer geht nach der Hälfte des Werks die Sonne auf. Moll wird zu Dur, es kommen manchmal Trompeten hinzu. Es gibt kaum Bach-Kantaten, die wirklich pessimistisch enden. Meistens haben wir einen hoffnungsvollen Schlusschoral. Auch wenn die Kantate davor sehr dramatisch ist.

Manchmal nervt dieser Zug ins Positive. In vielen Kantaten wird im ersten Teil gejammert, dann plötzlich kommt eine Wendung, die mit ›aber‹ beginnt, auch in Nr 21, Ich hatte viel Bekümmernis: ›Aber deine Tröstungen erquicken mich!‹ Hin und wieder fehlt mir als Hörerin der Kampf, der doch zwischen der desolaten Lage zu Beginn und dem glorreichen Schluss stattfinden muss.

Im Text fehlt er vielleicht. Aber der Kampf, die Schmerzen finden ohnehin mehr noch in der Musik statt. Wenn man sich den Eingangschor in Ich hatte viel Bekümmernis ansieht: Dieser Chor ist sehr lang und immer wieder kommt das Wort Bekümmernis in einer anderen Tonart und Stimme vor.

Was ist eigentlich eine Kantate?

Der Aufbau ist nicht nur von Bach geschaffen worden, Telemann zum Beispiel hat sehr viele Kantaten geschrieben. Bach hat die Form, die aus mehreren Sätzen besteht, aus instrumentalen und gesungenen, aber zum Höhepunkt geführt. Er hat verschiedene Stile benutzt. In den Kantaten-Arien komponiert er sehr modern. Kirchenlieder spielen in Kantaten eine große Rolle. Eine Kantate dauert 20, 30 Minuten. Das ist eine fassliche Zeit. Damals gehörte sie zum kirchlichen Alltag. In Leipzig kamen sonntags 2.000 Leute in die Thomaskirche und der Gottesdienst mit Kantate dauerte zwei, drei Stunden. In die Gedächtniskirche kommen pro Kantate um die 300 Leute, das ist viel im Vergleich zu anderen Gottesdiensten in der heutigen Zeit, und darunter sind einige harte Fans.

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Haben Sie eine Lieblingskantate von Bach?

Nein, beileibe nicht. Es gibt 200. Die, die ich vorbereite, das ist immer meine Lieblingskantate.

Das ist für einen Dirigenten natürlich hilfreich.

In jeder gibt es mindestens ein Stück, das außergewöhnlich ist. Es gibt auch in manchen eins, wo man sagt: naja. Wir proben jetzt eine Altsolokantate. Dort kommt die Arie Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust vor. Sie ist so wunderschön. Da vergisst man alles. Müsste ich eine Kantate auswählen, würde ich allen anderen Unrecht tun.

Gibt es eine schlechte Kantate?

Eine schlechte?

Einen Totalausfall.

Das kann ich nicht sagen, da ich nicht alle kenne, die Bach geschrieben hat. Das waren ungefähr 500. Von diesen 500 sind 300 eben nicht mehr da. Aber einen Totalausfall – sicherlich nicht.

Wo sind die?

Sie sind einfach verschollen.

Kann man sie in irgendwelchen Archiven noch auftreiben?

Alle paar Jahre taucht mal eine Arie irgendwo auf, aber das ist wirklich selten. 200 Kantaten sind schon ein großer Schatz. Leider wird ein Großteil nicht mehr gekannt, woher auch. Ich bin so froh, dass ich sie kennenlernen durfte. Ohne die Position beim Bach-Chor hier hätte ich dieses Universum niemals betreten. Das ist hier ein Laienchor, aber die Sänger sind alle gut. Es sind zum Teil eingefleischte Bachfans, die kennen die Kantaten manchmal besser als ich. Denen ist es ein Bedürfnis, sie singen mit vollen Herzen. Alle 14 Tage eine Kantate aufzuführen und dann noch manchmal Konzerte, das ist ein enormes Pensum. Dafür braucht man große Leidenschaft.

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Als Thomaskantor hatte Bach in Leipzig eine krasse Routine. Jede Woche musste eine Kantate fertigwerden.

Deshalb hat er manches mehrfach verwendet. Sein Pensum war enorm. Komponieren, proben, aufführen. Unterrichten. Er spielte auch bei Hochzeiten oder Trauerfeiern. Keine Ahnung, wie das eigentlich ging. Es steht fest, dass es eine unglaubliche Leistung war.

Bach hat nicht viel Schlaf gebraucht.

Anders ist es nicht denkbar.

Bachs Choräle schauen vom Notenbild her oft einfach aus. Es gibt einen vierstimmigen Satz, den die Thomaner zu singen hatten. Oft ist der homophon. Die Stücke entwickeln einen unglaublichen Sog.

Das ist wie mit Volksliedern. Die kann man gut nachsingen. Choräle sind geistliche Volkslieder. O Haupt voll Blut und Wunden oder Wie soll ich dich empfangen oder Jesus bleibet meine Freude, das sind Schätze. Deren Melodien gehen direkt ins Herz.

Diese Melodien hat Bach oft gar nicht erfunden, aber er war ein Genie in ihrer Bearbeitung.

Bachchoräle sind große Kunstwerke. Jede Stimme führt ein Eigenleben. Er hat nicht einfach einen Kantionalsatz komponiert, nein, jede Stimme hat eigene Linien, alles ist polyphon. Bach ist der Goldene Schnitt, er komponiert so genial, dass alles in sich stimmig ist. Jede Choralbearbeitung ist stimmig. Deshalb hat man immer ein gutes Gefühl beim Hören. Schon immer liebe ich Choräle, habe als Kind immer nur Choräle auf dem Klavier gespielt.

Manche Choräle kommen wieder und wieder. Gibt es immer einen inneren Bezug zueinander? Mir fällt Brich an o schönes Morgenlicht im Weihnachtsoratorium ein. Dort erscheint Christus zum ersten Mal, vom Himmel fällt sein göttliches Licht auf die Hirten in Bethlehem. Dieselbe Melodie benutzt Bach im Himmelfahrtsoratorium, als Christus wieder gen Himmel entschwebt, als wir ihn zum letzten Mal sehen. Sein Kreis schließt sich in der Musik.

Bach hat sich immer etwas überlegt. Wenn er Choralmelodien mehrfach verwendet hat, dann wusste er ganz genau, warum. Bei Bach ist nichts jemals Zufall. Wenn es schnell gehen musste, hat er genau überlegt, welchen Satz kann ich nochmal verwenden? Oft sind auch Texte gleich und es gibt verschiedene Musik zu ihnen, beispielsweise BWV 89, 99 und 100. Die haben alle denselben Titel und Text, aber sind unterschiedlich vertont. Sie heißen: ›Was Gott tut, das ist wohlgetan.‹

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Vor welchen Herausforderungen steht man, wenn man diese Choräle dirigiert?

Es ist nicht sonderlich schwer. Rein handwerklich und im Vergleich zu, sagen wir, Strawinsky. Aber ich muss absolut darauf achten, dass der Chor intonationsmäßig so singt, wie es sein muss. Jede einzelne Stimme muss sich als Melodie empfinden. Der Tenor darf nicht denken, er sei nur die dritte Stimme. Dann kommt der Text hinzu, auf den sich bestimmte musikalische Wendungen beziehen. Ein Choral ist dann gut dirigiert, wenn er für den Zuhörer stimmig klingt, wenn das Publikum den Text versteht. Dann ist das eine lebendige, harmonische, schöne Sache. Bachchoräle werden heutzutage auch ganz verschieden interpretiert.

Ja, gern auch rasend schnell.

Es gibt Dirigenten, die das extrem flott machen. Früher gab es welche, die es extrem langsam gemacht haben. An den Fermaten scheiden sich da die Geister. Einige halten sie aus, andere gehen drüber hinweg, als gäbe es sie nicht.

Wie machen Sie es?

Ich gehe davon aus, dass ein Choral im Prinzip von der Gemeinde mitgesungen können werden muss. Das kann die Gemeinde natürlich nicht vierstimmig, aber der Puls muss so sein, dass die Gemeinde das Singen mitempfinden kann. Hinter jeder Choralzeile steht bei Bach eine Fermate. Ich denke, dort soll man einfach Luft holen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Fermaten immer ausgehalten worden sind. Im Normalfall heißt eine Fermate: kleiner Absatz. Wenn es der Text verlangt, lasse ich auch drüber wegsingen, damit ich den Bogen nicht unterbreche. Das muss man von Fall zu Fall unterscheiden.

Warum gibt es bei der Frage, wie man Bach aufzuführen hat, solche ideologischen Schlachten? Warum ist es so wichtig, ob die Solisten vor oder hinter irgendeinem Instrument stehen, oder der Chor? Warum ist es kriegsentscheidend, ob ein Englischhorn spielt oder eine Oboe da caccia? Wieso zerlegt man sich darüber so?

Das weiß ich auch nicht. In Dresden brauchten wir unter Mauersberger eine Stunde länger für die Matthäuspassion als Dirigenten heute! Er hat den Eingangschor in Achteln dirigiert und die Leute waren begeistert.

Man will ihn heute vor allem so machen, wie man glaubt, dass er zu seiner eigenen Zeit geklungen haben muss.

Seine Musik ist kompliziert, daher ist es schon gerechtfertigt, ihn in kleinen Besetzungen zu spielen. Bach ist so polyphon, dass er erst richtig schön wird, wenn man jede einzelne Stimme genau verfolgen kann. Das herzustellen ist auf alten Instrumenten einfacher. Barockmusik kann auf modernen Instrumenten vernebelt werden. Und in sehr großen Chören.

Warum?

Bach hat nicht unbedingt für Gesangsstimme geschrieben, sondern eher instrumental. Er ist deshalb nicht so einfach zu singen wie vielleicht Mendelssohn oder Brahms, die sich eher an der Stimme orientiert haben. Bach ist so hirnrissig schwer! Wenn man das richtig machen will mit allen Koloraturen, ist das eine Menge Arbeit. Aber gut, früher hat man eine Matthäuspassion auch mit 150 Sängern aufgeführt und das ging auch. Nach dem Krieg strömten die Leute ja in die Kantoreien, alle wollten sie Bach singen. Unsere Instrumentalisten hier in der Gedächtniskirche kommen aus den großen Berliner Orchestern. Sie spielen bei uns für wenig Geld und wir bemühen uns, Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis mit modernen Instrumenten darzustellen.

Dennoch ist Bach fest in der Hand der Originalklangensembles. Wie oft im Jahr wird etwas von Bach von einem modernen Sinfonieorchester im Großen Saal der Philharmonie gespielt? Fünf Mal?

Es gibt eine Scheu. Die Philharmoniker werden nicht plötzlich eine Orchestersuite von Bach spielen. Der Geschmack der Zeit wird durch CDs geprägt. Und zurzeit ist der Originalklang mit seinen Darmsaiten in den Ohren des Publikums. Mit 40 Streichern spielt man heute keinen Bach mehr. In den Passionen traut man sich aber manchmal was – die Johannespassion der Philharmoniker unter Rattle zum Beispiel, die war echt gut. Wenn man sich anstrengt, dann geht Bach mit alten oder mit modernen Instrumenten. Mit Knaben, mit Frauen, mit vielen, mit wenigen. Er ist universell, macht aber Mühe.

Sind Sie nach jahrelanger Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach zu einer Einschätzung seiner Persönlichkeit gelangt? Der ehemalige Thomaskantor Georg Christoph Biller sagte einmal, Bach müsse ›cholerisch und selbstherrlich‹ gewesen sein.

Er war sicher ein strenger Mann. Sonst kriegt man dieses Pensum nicht bewältigt. Er war hart zu sich und zu anderen. Er war nicht der liebe Papa. Er hat viel verlangt. Dabei war er absolut gläubig, hat auch viele schlimme Sachen erlebt. Der liebe Gott war sein Ein und Alles. Er hat auch für den lieben Gott geschrieben.

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Bach hat seine Eltern früh verloren, dann seine erste Frau und viele Kinder. Zerbrochen ist er daran offenbar nicht.

Weil er ganz fest im Glauben stand. Das macht die Kantaten so faszinierend. Es geht da nicht nur um schöne Töne. Mit mir hat seine Musik etwas gemacht.

Was denn?

Ich habe heute keine Angst mehr vor dem Tod. ¶

... arbeitet als Redakteurin bei der Religionsbeilage der ZEIT, Christ & Welt. Ausgebildet wurde sie an der Henri-Nannen-Schule. Falls es mit dem Geigenspiel nicht klappt, möchte sie auf Oboe umsteigen.