Die Akte Weinberg ist noch nicht geschlossen. Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Das hat jetzt die österreichische Erstaufführung seiner Oper Идиот wieder in Erinnerung gerufen. Wieder wunderten sich all diejenigen, die dabei waren, am 28.April im Museumsquartier, Halle E, in Wien: Wieso erst jetzt? Woher kommt diese machtvolle, erinnerungstrunkene Musik? Ist so was erlaubt, wem ist das zumutbar? Oder: Warum gehört dieses Stück nicht ganz selbstverständlich zum Kanon der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts? 

Dieselben oder ähnliche Fragen stellten sich jedes Mal wieder, wenn ein größeres Stück aus dem Riesenœuvre dieser polnisch-jüdischen Randfigur der sowjetischen Musikgeschichte auftauchte und wieder verschwand. Zum Beispiel 2009, als Mieczysław Weinbergs Requiem op. 96 in Liverpool uraufgeführt wurde, dreiundvierzig Jahre, nachdem es komponiert worden war. Oder 2010, als, mit zweiundvierzig Jahren Verspätung, bei den Bregenzer Festspielen erstmals seine Auschwitz-Oper Die Passagierin op. 97 gezeigt wurde, dirigiert von Teodor Currentzis. 2013, als das Opernhaus in Mannheim die Uraufführung von Der Idiot stemmte. 2015, als eine Gesamtaufnahme dieser Produktion bei Pan Classic herauskam, auf 3 CDs –  inzwischen vergriffen. Oder 2019, als die Deutsche Grammophon Weinbergs Symphonie Nr. 21, Kaddish, lancierte, dirigiert von Mirga Gražinytė-Tyla. Das sind nur einige Beispiele. Freilich wird nicht aus jedem Kunstwerk, das unterschätzt und vergessen worden ist, schon allein deshalb ein Meisterwerk, weil man es zugänglich macht. Für die oben genannten jedoch gilt das uneingeschränkt. 

Es gibt, seit rund zwanzig Jahren, eine fleißige musikwissenschaftliche Weinberg-Forschung. Auch ist in den letzten Jahren eine Weinberg-Diskographie entstanden, die sich vor allem Kleinbesetztem widmet, das heißt: Klavier- und Kammermusiken. Die Fragen sind damit nicht aus der Welt. Mieczysław Weinberg selbst erklärte einmal – das war nach dem Tod seines Beschützers Schostakowitsch und mitten im Prozess der Perestroika, die ihm, in der Gorbatschow-Ära, einiges mehr an Unbeschwertheit beschert hatte –, die Schuld für seine Isolation sei in seiner Person zu suchen. Er komme, so Weinberg, nicht klar mit der sogenannten Postmoderne. Und weiter heißt es in diesem von Matthias Corvin überlieferten Bekenntnis von 1988: »Ich muss sagen, dass mir das Komponieren immer schwerer fällt. Mein Charakter hat aber ein Gutes: Solange ich schreibe, interessiert mich das Werk. Wenn das Stück fertig ist, existiert es für mich nicht mehr. Sein Schicksal (sei es Ablehnung durch die philharmonischen Gesellschaften, Nichtaufgeführtwerden, ausbleibende Resonanz der Presse, Verachtung seitens der Musikkritiker) ist mir gleichgültig. Der Grund für diese Situation ist natürlich das schwache Niveau meiner Produktion, die ihren Platz inzwischen in der Rumpelkammer hat und den gegenwärtigen Moden nicht entspricht. Im übrigen bin ich bei schwacher Gesundheit, wie es so oft bei älteren Leuten der Fall ist.« Teils spricht ätzende Ironie aus diesen Worten, teils Bitterkeit. Zwei Jahr zuvor hatte Weinberg den Идиот komponiert. Bis zu seinem Tod im Februar 1996 hat er, neben der erwähnten Kaddish-Symphonie, nichts Großes mehr vollendet. 

Nicht alle sieben Opern von Weinberg haben einen so leicht zu identifizierenden, politischen Hintergrund, wie der Идиот. Zu Recht hakt der Frankfurter Operndramaturg Norbert Abels in seinem Wiener Programmbuchbeitrag nach: Warum hat sich Weinberg als ein Künstler, der lebenslang verfolgt und existentiell bedroht worden ist – erst von den Deutschen in Polen, dann von den Russen in Russland – am Ende ausgerechnet einen Stoff des russischen Nationaldichters Fjodor Dostojewski vorgenommen? Der doch bekanntlich die Juden ebenso hasste, wie er die Polen verachtete? Abels Antwort ist nicht unheikel, weil biographisch. Sie lautet: Weil sich Weinberg mit der Hauptfigur in Dostojewskis Roman identifizierte. 

Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin) • Foto © Monika Rittershaus

Auch für Weinberg galt, zu diesem späten Zeitpunkt seines Lebens, wie für den jungen Fürst Myschkin im Roman, dass er exterritorial bleibt und sich außerhalb der weltlich und gesellschaftlich auszufechtenden Begehrlichkeiten und Normen bewegt, in einer von Irrationalismen geprägten, von widerstreitenden Kräften zerrissenen Zeit. Weinbergs Empathie, bereit zur Selbstaufgabe, machte ihn freilich immun gegenüber »-ismen« aller Art, sei es Nationalismus, Antisemitismus, Sozialismus oder Stalinismus. Im Roman regieren rund um Myschkin krude Raffgier, Machtdünkel, Intrige, Unterdrückung, Mordlust, Unmoral nebst Moralismus. Er ist dem ausgeliefert, als Schutzmantel gibt ihm Dostojewski lediglich eine »Philosophie des Leidens und des Mitleidens« mit. Denn Fürst Myschkin (zu deutsch: Fürst Mäuschen) passt sich nicht an. Er kann sich erlauben, die Wahrheit zu sagen und trotzdem an das Gute zu glauben. Er ist der Gottesnarr, der юро́дивый. In Spanien nennt man solch einen komischen Heiligen Don Quichotte. In Deutschland einen Simplicius Simplicissimus. Dostojewski spricht, in seinen Entwürfen, von einem »Narren in Christo«. Schlägt man so einen auf die eine Wange, dann hält er die andere hin.

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 »Schönheit rettet die Welt« sagt Myschkin im zweiten Bild zu den drei heiratsfähigen Töchtern des Generals Iwan Fjodorowitsch Jenpantschin, die sich über ihn lustig machen. Er meint das genau so, wie er es sagt. Ironiefrei. Dieser Satz könnte auch einer der Schlüssel sein zu Weinbergs formklarer, undogmatischer und ironiefreier Musik. Ein andermal, im dritten Bild, als Myschkin sich einmietet bei der armen Verwandtschaft des Ganja, singt er, im Parlandoton, sich selbst Mut zu: »Wie schön doch die Wahrheit ist.« Darum geht es, letzten Endes: Um das Gute, Wahre, Schöne. Man kann es auslachen oder sogar abschlachten, wie Rogoschin es später versucht, in seinem Suff und seiner Eifersucht auf den Gottesnarren, mit frisch geschliffenen Messern. Aber das Wahre und Schöne ist nicht umzubringen.

Petr Sokolov (Lebedjew), Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin), Dmitry Cheblykov (Rogoschin), Arnold Schoenberg Chor  • Foto © Monika Rittershaus

Der gesamte Aufbau der Oper Idiot zielt darauf ab. Fürst Myschkin ist in allen Szenen anwesend, oftmals scheinbar passiv. Das übrige Romanpersonal hat der Librettist Alexander Medwedew streng zusammengestrichen und für die vier Akte wechselnde Tableaux entworfen, die manchmal auch simultan ablaufen. Blitzschnell wechselt der Schauplatz. Und doch steht Myschkin immer im Fokus. Ihm spiegeln die handelnden Figuren sein Leid und sein Mitleid allemal zurück. Sie sind jeweils scharf gezeichnet, in ihrer bedauernswerten Unzulänglichkeit, Schwäche oder Bosheit, von aussagekräftigen Leitmotiven, die dem Geschehen vorauseilen oder es nachträglich illuminieren.

Myschkin selbst stellt sich – so steht es auch im Textbuch – wiederholt als ein Reisender und im Prinzip Heimatloser vor. Er sagt, als er im ersten Bild im Zug nach Sankt Petersburg sitzt, zu seinem Abteilnachbarn, dem Kaufmann Rogoschin: »Ich komme aus der Schweiz.« Auch später, im Salon des Generals oder auf dem Fest der Nastassja, ist dies die Formel, die er benutzt. Dass er ein Epileptiker ist, der jahrelang in ein Schweizer Sanatorium gesteckt wurde, kommt nur nebenbei heraus. Und nie nennt er sich selbst einen Idioten. Nur die anderen erkennen in ihm ab und an schockartig den Auserwählten und Wahrheitssucher, Trottel oder Heiligen, zu gut für diese Welt. Nastassja, die geschundene Edelprostituierte, bringt es auf den Punkt: »Du bist der erste Mensch, an den ich glaube.«

Ekaterina Sannikova (Nastassja) • Foto © Monika Rittershaus

Für die Wiener Inszenierung hat Regisseur Vasily Barkhatov die Idee der Simultanbühne weiterentwickelt und etliche überraschende Zeitloops konstruiert. Immer wieder dreht sich die karg möblierte Bühne und befördert, unter Diskoscheinwerfergewitter, noch einmal das historische Zugabteil aus dem ersten Bild des ersten Aktes an die Rampe. Wie in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier findet sich Myschkin, die Lichtgestalt, also nach fast jeder Episode wieder zurück auf Anfang gesetzt. Das passt: Immer wieder scheitert das Gute am real existierenden Bösen. Und doch beinhaltet, wie sich nach und nach herausstellt, eben dieses schöne, altmodische Zugabteil mit den an den Fenstern vorbeifliegenden Winterlandschaften auch schon Vieles von dem, was folgt. Die Leiche der am Ende ermordeten Natascha liegt, diskret zugedeckt, schon von Anfang an in der Ecke herum, während sie vorne noch quicklebendig verführerische Kantilenen singt. Das Abteil verwandelt sich in Kirche und Spielhölle, ins Familienschlafzimmer der Iwolgins und ins Esszimmer der Jepantschins. Und einmal ist sogar alles zusammen sichtbar, übereinander und ineinander gestopft, inklusive dem Militarismus-Running-Gag aus Absurdistan: dem in Tiefschlaf versunkenen alten General, der, voll uniformiert, dreieinhalb Akte mehr oder weniger verpennt. 

Alexey Dedov (Totzki), Valery Gilmanov (General Jepantschin), Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin), Petr Sokolov (Lebedjew) und Arnold Schoenberg Chor • Foto © Monika Rittershaus

Mit Christus oder Don Quichotte hat Barkhatov nichts im Sinn. Seine weltverbessernde Lichtgestalt ist ein Zausel im hellen Anorak, schlapp cremeweiß hängt diesem Fürsten das Casual-Hemd aus der Hose: einer von uns. Die von Barkhatovs Licht- und Video-Team mit Raffinesse ausgefeilten Bilderfolgen wirken beinahe stummfilmreif, in ihrem perfekt organisierten Zeitmanagement. Das kommt Weinbergs Musik nur zu Gute. Sie wird von Thomas Sanderling gemeinsam mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien und dem Arnold Schoenberg Chor auf höchstem Niveau realisiert, leidenschaftlich und kühl, feurig und elegant. So, wie es sein soll. Sanderling ist Weinbergexperte, er kennt den Komponisten noch persönlich, aus seiner Kinderzeit in Moskau. Hat sich immer wieder für Aufführungen eingesetzt, hatte bereits die Mannheimer Uraufführung dirigiert, ebenso die Platteneinspielung. Auch Dmitry Golovin, der die kräftezehrende Tenorpartie des Fürsten Myschkin wuppt, war bereits in Mannheim dabei. Und auch der Rest der Sängerbesetzung erweist sich als fulminant, bis in die kleineren Rollen. Eine fantastische, rundum hinreißende Produktion. 

Sie wird hoffentlich bald von einem anderen Haus übernommen. Ein Koproduktionspartner hatte sich nicht gefunden. Stefan Herheims Theater an der Wien hat also dieses Wagnis, ein groß besetztes und weithin unbekanntes Werk wie Weinbergs Идиот auf die Bühne zu bringen, trotz aktuellem Umbau und topfig tönender Ersatzspielstätte, ganz allein in Angriff genommen. Respekt! 

Alexey Dedov (Totzki), Ekaterina Sannikova (Nastassja), Petr Sokolov (Lebedjew), Ksenia Vyaznikova (Jepantschina), Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin), Ieva Prudnikovaité (Aglaya) • Foto © Monika Rittershaus

Auch das sind offene Fragen, die seit Jahren den Streitfall Weinberg akkompagnieren: Warum sind es immer die kleineren Häuser, die sich etwas Neues, Großes zu trauen? Oldenburg, Mannheim, Karlsruhe, Graz, Braunschweig? Außer der Oper Frankfurt hat sich bisher kein großes Opernhaus dazu aufgerafft, wenigstens Die Passagierin mit einer eigenen Produktion vorzustellen. Immerhin: In der nächsten Saison folgt München. Und ein Traum wäre, wenn eines der großen Festivals mit Signalfunktion, Salzburg oder Aix, endlich mal in die Hufe kommen könnte. ¶

… lernte Geige und Klavier, studierte Musik-, Literatur- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, promovierte über frühe Beethoven-Rezeption. Von 1994 bis 1997 Musikredakteurin der Zeit, von 1997 bis 2018 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seither wieder freelance unterwegs. Seit 2011 ist Büning Vorsitzende der Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik.