Zum 70jährigen Jubiläum der Komischen Oper Berlin bringt der Opernregisseur Stefan Herheim im März Jacques Offenbachs Operette Blaubart in einer neuen Fassung auf die Bühne. Susanne Øglænd hat ihn während der Probenzeit zum Gespräch getroffen.
Ich treffe Stefan Herheim an einem kalten Wintertag im Februar. Es ist so ein Tag, an dem wahrscheinlich alle Opernsänger hustend im Bett liegen – so stelle ich mir das wenigstens vor. Er hat 25 Minuten Zeit, dann muss er wieder zur Probe. Offenbachs Operette Blaubart ist seine zweite Arbeit für die Komische Oper Berlin und die Erwartungen sind groß. Seine spektakuläre Inszenierung von Händels Oper Xerxes ist seit 2012 ein Dauerbrenner am Haus. Mit Blaubart betritt Herheim neues Terrain und inszeniert zum ersten Mal eine Operette. Damit tritt er in die Fußstapfen von Walter Felsenstein, dem Gründungsvater der Komischen Oper, dessen legendäre Blaubart-Inszenierung aus dem Jahr 1963 sich mehr als dreißig Jahre im Spielplan hielt. Was hat es mit diesem Stück auf sich? Die Handlung beruft sich auf das Schauermärchen um den Frauenverschleißer Ritter Blaubart, der wiederholt seine aktuelle Ehefrau durch ein Todesurteil aus dem Weg räumen lässt, um Platz für die Nächste zu schaffen. Ähnlich hantiert auch König Bobèche, der sich mit Hilfe von Todesurteilen potentiellen Nebenbuhlern entledigt, allerdings aus krankhafter Eifersucht. Die Frauen des Stücks sind mit ihren Schicksalen grundsätzlich unzufrieden und kampfbereit, sei es die Königin Clementine, die Bäuerin Boulotte oder die Prinzessin Hermia. Männliche und weibliche Egozentrik kollidieren dementsprechend und mit Hilfe von Offenbachs unzähmbarer Musik sind schnell die Weichen gestellt für eine irrwitzige, bitterböse und recht makabre Operette, die nichts anderes ist, als eine unterhaltsame Satire auf die kranke Hysterie privilegierter Machtmenschen.

VAN: In deinen Inszenierungen spielt die Rezeptionsgeschichte eines Werkes oft eine wichtige Rolle. Du hinterfragst das Stück und spielst sowohl inhaltlich als auch ästhetisch mit der Aufführungstradition. Wie gehst du mit dem Erbe von Felsenstein um? Wie legst du diese Operette an?
Stefan Herheim: Für die Komische Oper hat Blaubart aufgrund der bahnbrechenden Inszenierung von Walter Felsenstein eine ganz besondere Bedeutung. Dieses Stück wird sonst weiß Gott nicht oft aufgeführt und es gehört eher im schwierigsten Sinne zum Œuvre Offenbachs. Bei seiner Uraufführung war es gar kein großer Erfolg, und Barbe-Bleue hat sich weder in Paris noch im internationalen Repertoire wirklich durchsetzen können. Wir haben uns daher für unsere Inszenierung eine Rahmenhandlung gebaut, aus der heraus wir das ganze Phänomen der Operette, die ja tausendfach schon für tot erklärt wurde, betrachten können. Wir beginnen damit, dass wir den Thespiskarren, den alten Theaterkarren, auf die leere Bühne der Komischen Oper stellen. Dieser Karren wird vom Tod, der personifiziert mit einer Peitsche auf dem Kutschbock sitzt, angetrieben und von Cupido gezogen.
Das heißt: Es gibt dieses ungleiche Paar Cupido und den Tod, also Eros und Thanatos, konkret auf der Bühne?
Ja. Es sind neu geschaffene Figuren, die von Schauspielern gespielt werden. Dieser Cupido ist ein geschundener Gott der Liebe geworden, ein Halbtoter, mit gebrochenen Flügeln, uralt und kleinwüchsig, und er zieht, vom Tod angetrieben, diesen Wagen, der voller Operette ist, und dann bricht er plötzlich zusammen. So wird der Tod gezwungen, den Theaterwagen ein bisschen aufzumachen, damit die Liebe wieder Futter kriegt, denn beide leben von der Idee der Liebe und der Lust und der Kraft des Theaters. Im Spannungsfeld dieser beiden Figuren nähern wir uns dann dem Blaubart und lassen das Stück aus allen Fugen des Wagens herausbrechen – gegen den Willen des Todes eigentlich.

Und mit einer neuen Textfassung, die du zusammen mit dem Dramaturgen Alexander Meier-Dörzenbach und dem Dirigenten Clemens Flick erstellt hast.
Genau. Das ist ja die Herausforderung mit der Gattung. Eine Operette lebt durch die idiomatischen und politischen Witze, die immer auf die Tagesordnung bezogen sind. Wenn man zum Beispiel heute in Paris den Barbe-Bleue mit dem historischen französischen Text spielen würde, würde kein Pariser verstehen, worum es geht, also muss da in jeder Hinsicht Übersetzungsarbeit geleistet werden. Das hat natürlich auch Felsenstein damals gemacht. Er hat seine Übersetzung auf die SED und die damaligen Verhältnisse in der DDR umgepolt und zum Beispiel die Figur des Bobèche als Persiflage auf den großen Diktator entwickelt. Später hat er sich dann wahnsinnig aufgeregt, als die SED bei ihm einige rhetorische Wendungen angegriffen hat. Im Kern ist es höchst politisches Theater, wenn man so will, weil hier eigentlich die Macht ihre eigene Ohnmacht feiert und zwar nicht als Kritik von unten – auf Brechtscher Ebene von unten nach oben schreiend – sondern, wie in Offenbachs Welt, tatsächlich gefördert und bezahlt vom Kaiser selbst, wenige Jahre bevor er dann endgültig untergeht und die Republik entsteht.
Ein junger Opernzuschauer von heute kennt natürlich diese ganzen Hintergründe nicht, auch ich bin viel zu jung für die Felsenstein-Ära, habe davon gar nichts live mitbekommen…
Ich auch nicht!
…aber ich konnte auf Youtube einen verwackelten, unscharfen Piraten-Mitschnitt vom Tokio-Gastspiel der Blaubart-Inszenierung von 1991 finden. Ich dachte mir, da schau ich mal kurz rein, bevor wir uns treffen, und die Inszenierung hat mich dann tatsächlich so gepackt und unterhalten, dass ich mir, trotz grottiger Qualität, die ganze Operette angeschaut habe. Fasziniert haben mich vor allem die beiden skurrilen Machtfiguren Ritter Blaubart und König Bobèche, die zwar im Verlauf der Handlung gehörig eins auf den Deckel kriegen, ihre Machtpositionen aber trotz aller mörderischer Kriminalität behalten. Was bedeuten diese Figuren für dich? Wer sind sie heute?
Ritter Blaubart ist eine absolute Kunstfigur. Die Vorlage ist klar, in der französischen Literatur sogar wichtiger als in der deutschen. Der Barbe bleue ist der Inbegriff des Bösen und des Frauenhassers und somit ein Held der Boulevardunterhaltung, der keine Klischees scheut. Er besteht aus Gegensätzen: Einerseits steht er für die Durchtriebenheit eines Don Giovanni, andererseits ist er aber so von katholischen Mechanismen durchdrungen, dass er verheiratet sein muss, bevor er sich überhaupt an eine Frau herantraut. In seiner Gestalt wird die ganze männliche Psyche durch den Kakao gezogen. So eine Rolle kann man kaum jenseits von absurdem Theater begreifen.
Und sicherlich auch als eine Persiflage auf sämtliche männliche Opernstereotype?
Ja! Das sowieso! Das ist ja genau das, was Offenbach, als deutscher Jude in Frankreich, tut, denn dort darf er nie an die Grand opéra ran. Also entwickelt er die Randerscheinungsform Operette, aus der heraus er kommunizieren kann. Er schreibt einfach Grand-Opéra-Musik für die kleinen Theater. Damit erzielt er eine Resonanz sondergleichen, weil er das verquere Verhältnis zwischen Politik und der repräsentativen Kunstform spiegelt und gleichzeitig verarscht! Insofern sind sowohl Blaubart als auch Bobèche, als die machthabenden Kontrahenten in diesem Stück, eigentlich wie Kunstzitate, die herbeigeholt werden und die in jeder Zeit einfach neu zu funktionieren haben. Wenn man so will, sind sie unterschiedlich disponierte Ohnmachtsfiguren bezüglich dessen, was Wahrheit ausmacht, und in beiden Figuren zitiere ich einfach Felsenstein als Wiederbelebungen hier am Hause: Die wachen aus 30jährigem Schlaf hier in der Komischen Oper auf und wissen gar nicht, in welche Welt sie geraten sind. Sie sind total überfordert und entfremdet, aber ziehen einfach knallhart ihre Linie durch und lösen dabei natürlich auch heute noch etwas aus. Es ist ja wie ein Widerspruch, ein Anachronismus, dass wir sie heute überhaupt noch zum Leben erwecken und meinen, etwas davon lernen oder wenigstens darüber lachen zu können. Genau diesen Widerspruch stellen wir aus.
Am Ende der Operette arrangiert Offenbach einen absurden Showdown, einen regelrechten Aufstand der Totgeglaubten, die alle gar nicht wirklich, sondern nur scheinbar liquidiert wurden und nun ihre Rache fordern. Dieses Verwirrspiel zwischen tot und lebendig überträgst Du also in einem größeren Gedanken auch auf die Gattung selbst?
Ja, es ist eine Komödie über die Komödie. Im Stück selbst wird ja, wie du auch sagtest, der Tod selbst gefoppt, alle sind scheinbar tot, aber erweisen sich doch als lebendig. Doch der echte Tod, sowohl der der Liebe als auch der am Ende des Lebens, ist in diesem Stück letztendlich die Ehe – und davor und dazwischen liegt ganz viel Sex, Drugs and Rock ‘n’ Roll! Ja, das infernalische Prinzip, wo man sich eigentlich nur noch über sich selbst lustig machen kann. Alle täuschen vor, etwas zu sein, was sie gar nicht sind, und alle können alles sein. Das ist das Regelwerk der Komödie schlechthin. Hybris de luxe. Dabei sind alle eigentlich totale Pappnasen und so was von narzisstisch gezeichnet. Wenn die Welt selbst verrückt geworden ist, dann spiegelt das Theater diese Wirklichkeit eben wieder und überzeichnet sie, und so benutze ich zum Beispiel auch die aktuelle Berliner Szene mit als Hintergrund: Wir bauen gerade ein neues Schloss, ja okay, dann wohnt Boulotte natürlich in diesem Schloss, obwohl nichts dahintersteckt. Mit solchen Sachen spielen wir. Letztendlich versuche ich aber, die Geschichte zu erzählen, so wie sie gedacht war und ich brauche eben Referenzen und satirische Übersetzungshilfen, damit es vorwärts geht oder in der richtigen Art und Weise, an den entsprechenden Stellen, retardiert. Grundsätzlich versuchen wir, den Geist Offenbachs so organisch und glaubwürdig in seiner Unnatürlichkeit, wenn man so will, in seiner wahnwitzigen Kraft vorwärts zu peitschen und einfach ein Spektakel entstehen zu lassen, das, wie immer, wenn Musiktheater funktioniert, ein sehr doppeldeutiges Gesicht hat.
Bei Offenbachs Musik entsteht schnell eine außergewöhnliche Energie, wenn Orchester, Solisten und Chor gemeinsam loslegen. In Kontrast zu diesem Drive stehen die nicht weniger wichtigen Dialogszenen. Das Sprechen in der Oper ist ja etwas, das oft pathosgeladen und an der Grenze zur Peinlichkeit ist. Wie geht ihr damit um? Findet ihr neue Mittel des Ausdrucks, zum Beispiel durch technische Hilfen wie Verstärkung?
Nein, wir spielen ganz herkömmliches Theater. Klar, das ist ein ganz schmaler Grat, das ist uns ständig bewusst; denn da stehen Sänger, die sich mit akustischen Verhältnissen, die nicht für Dialoge ausgelegt sind, auseinandersetzen müssen.
Wir sind uns auch der Biederkeit des Phänomens Operette bewusst, es ist schon etwas sehr Anachronistisches und Merkwürdiges, was wir da treiben. Beim Sprechen kommt schnell ein bisschen Pathos dazu, das darf dann aber nicht peinlich sein. Das Pathos entsteht ja, weil man im Wettbewerb zur Musik steht, zu einer Gefühlssprache, die alles kann und die die Armut der Sprache umso deutlicher macht. Deshalb braucht es vor allem einen guten Text und es geht ja nicht nur um die Dialoge, es geht ja auch um die gesungenen Texte, die man heute auch nicht eins zu eins übersetzen kann. Es liegen da ganz viele Versuche und Versionen vor, aber wir haben einfach schnell gemerkt: Wir müssen selbst ran, müssen es selbst machen.
Bei Felsenstein gibt es auch ein Spiel mit unterschiedlichen Sprachen innerhalb seiner Blaubart-Inszenierung.
Ja, damit spielen wir auch, also Blaubart ist Franzose ›Isch liebe alle Fraun‹, Popolani dagegen ist als Alchimist ein italienischer Renaissancegeist und Bobèche ist und bleibt Preuße, denn wir sind in Preußen gelandet. Das sind so Sachen, die das Ganze ein bisschen aufpeppen.

Wie laufen die Proben? Weißt Du vorher schon genau, was Du willst?
Ich weiß sehr viel, wie immer, aber vieles, was ich glaube zu wissen, erweist sich als falsch. Gerade bei so einem Projekt, wo man eine Dialogfassung erstellt hat, die als Grundlage für die Proben dient, braucht es natürlich wahnsinnig viel Zeit, um diese Fassung zu prüfen. Wir arbeiten sehr projektbezogen, und es geht auch nur so. Es kam zum Beispiel auch früh die Frage auf, ob man diese Produktion nicht als Koproduktion mit der Oper Lyon machen könnte, die machen nämlich auch einen neuen Barbe-Bleue. Mir war da sofort klar: Das ist undenkbar. Ich kann keinen Blaubart für die Komische Oper auf Deutsch machen und zugleich denken, dass diese Inszenierung auch in Lyon auf Französisch und für ein französisches Publikum funktionieren könnte, ausgeschlossen. ¶