Wer bin ich? Diese große philosophische Frage nach Identität hat für Sänger eine ganz praktische Bewandtnis: Wer auf die Opernbühne will, muss sich zuvor in ein Stimmfach einsortieren. Denn in der Welt der Oper ist ein Sopran nie einfach nur ein Sopran. Je nach Timbre, Umfang, Beweglichkeit und Volumen der Stimme kann es sich bei der Sängerin um einen lyrischen Sopran, einen dramatischen Sopran, einen lyrischen Koloratursopran, einen dramatischen Koloratursopran oder auch eine Soubrette handeln.

Wie sich die verschiedenen Kategorien klanglich unterscheiden, kann man im altehrwürdigen Handbuch der Oper (1951) von Rudolf Kloiber nachlesen. Mit typisch deutscher Pedanterie hatte sich der Musikwissenschaftler zur Aufgabe gemacht, die Charakteristika verschiedener Stimmen zu beschreiben. Dem lyrischen Sopran attestiert er eine »weiche Stimme mit schönem Schmelz, edle Linie«, dem dramatischen Sopran eine »voluminöse, metallische Stimme, große Durchschlagskraft«, der Soubrette eine »zarte, bewegliche Stimme« und überdies eine »zierliche Erscheinung«.

Koloratursopran Mathilde Level als Königin der Nacht, 1899 • Foto: Public Domain

Der lyrische Sopran braucht laut Kloiber mindestens ein dreigestrichenes C, der Koloratursopran sogar ein dreigestrichenes F. Dramatische Frauenstimmen müssen runter bis zum tiefen g, dafür reicht bei einem dramatischen Mezzo in der Höhe ein B. Insgesamt kennt der Kloiber, wie das beliebte Nachschlagewerk von Fachleuten kurz und bündig genannt wird, ganze 24  Stimmfächer, darunter auch Sondertypen wie den Kavalierbariton, der mit seiner »männlich edlen« Färbung begeistert, oder den berühmten wagnerischen Heldentenor mit seinem »schweren, voluminösen Organ mit tragfähiger Mittellage«.

Ella Bradley-Hughley, lyrischer Sopran, 1919 • Foto: Public Domain

Einige Stimmfächer sind seltener als andere. Boris Orlob, Managing Director der Agentur Boris Orlob Management, erklärt gegenüber VAN: »Wir Agenten freuen uns immer, wenn wir mal wieder einen richtig tiefen Bass mit einer veritablen, noblen Tiefe finden. Auch der wirklich hohe Tenor, der zum C kommt und eventuell auch noch ein D drauf hat, ist sehr rar. Wenn er dann noch die schnellen Rossini- Koloraturen bewältigen kann, ist das ein Volltreffer.« Zu den Frauenstimmen meint Orlob: »Den dramatischen Koloratursopran, wie früher Edda Moser, gibt es fast nicht mehr. Früher hat man für die Partie der Königin der Nacht eine dramatische Koloratur vorausgesetzt. Heute wird dafür bedenkenlos eine lyrische Koloratur genommen. Auch die echte Altistin mit einer wirklichen kellertiefen Tiefe, die eine Erda singen kann, ist selten.«

Ernestine Schumann-Heink als Erda • Foto: Public Domain

Leider ist es nicht so, dass sich Sänger ihr Stimmfach mit Blick auf die Marktlage einfach selbst aussuchen können. Bestimmte stimmliche Qualitäten sind angeboren und wer gegen sein naturgegebenes Fach ansingt, schadet der Stimme. Soprane, die sich ins Mezzo- oder Altfach hinunter quälen, dunkeln ihre Stimme oft künstlich ab, indem sie mit der Zungenwurzel auf den Kehlkopf drücken. Mezzi, die fälschlicherweise für Soprane gehalten werden, singen oft mit einer zu hohen Kehlkopfposition, die für einen helleren Klang sorgt. In beiden Fällen wird mit Druck und auf Kosten der Stimmgesundheit gesungen. 

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Herauszufinden, wo eine Stimme Zuhause ist, ist selbst für erfahrene Lehrer:innen keine leichte Aufgabe, denn gerade junge Sänger:innen bewegen sich oft in einer stimmfachtechnischen Grauzone: Ein junger lyrischer Tenor mag noch nicht ausreichend körperliche Kraft entwickelt haben, um die Höhe ausreichend zu stützen. Eine Bariton-Stimme braucht manchmal etwas länger, um in das warme Timbre hineinzureifen, das für dieses Fach typisch ist. Der amerikanische Gesangspädagoge David L Jones teilt auf seinem Facebookprofil und seiner Website Übungen, die die Diagnostik erleichtern sollen:

Lasse den Sänger in extrem tiefer Lage eine Dreiton-Skala singen. Lasse ihn daraufhin auf einem u-Klang in Vollstimmfunktion zwei Oktaven nach oben glissandieren – wie eine Sirene (…) Der u-Klang schützt die Stimme und hält die Zunge davon ab, nach hinten zu ziehen. Ist der Sänger ein Bariton, wird er das bei voller Stimme nur bis zum hohen a oder b schaffen. Die Stimme wird nicht in den Mechanismus wechseln, der für ein hohes h oder c nötig ist, da dieser Mechanismus bei einem Bariton nicht existiert (…) Gelingt es dem Sänger jedoch, bei Vollstimme auf dem u-Vokal auch ein hohes h oder c oder noch höher zu erreichen, handelt es sich normalerweise um einen echten Tenor.

Wie kaum ein anderes Instrument ist die menschliche Stimme einem lebenslangen Wandel unterworfen. Hormonelle und körperliche Veränderungen beeinflussen den Stimmklang. So kommt es vor, dass gestandene Sänger:innen auf dem Höhepunkt ihrer Karriere einen sogenannten Fachwechsel vollziehen müssen. So ging es etwa der deutschen Sängerin Anna Lucia Richter. Die pandemische Zwangspause des Jahres 2020 nutzte sie dazu, um vom lyrischen Sopran- ins lyrische Mezzofach zu wechseln. Noch 2018 hatte sie für eine CD-Aufnahme Mozarts Bastienne gesungen, 2021 gab sie an der Oper Köln als Humperdincks Hänsel ihr Mezzo-Debüt. Eine solche Entscheidung, meint Agent Boris Orlob, will gut überlegt sein: »Angenommen, ein lyrischer Mezzo geht ins große lyrische Sopranfach hoch bis zur Elsa [aus Wagners Lohengrin]: Das sind ganz andere Dirigenten. Hat sie bisher hauptsächlich Dorabella [aus Mozarts così fan tutte] gesungen und war mit Dirigenten in Kontakt, die hauptsächlich  Mozart und Alte Musik machen, sind das oft nicht dieselben Dirigenten, die Strauss und Wagner machen.« Wer nicht im Rahmen eines Festengagements durch den Fachwechsel begleitet wird, muss sich dafür also ganz neue künstlerische Partner suchen. Auch eine neue Vermarktungsstrategie inklusive neuer Fotos muss her: »Ein Sopran, der ins lyrische Mezzofach wechselt, hat optisch zwei Möglichkeiten: Entweder der Carmen-Vamp mit offenem Haar oder den androgynen Typ im Hosenanzug. Ich bekomme häufig Fotos von Mezzi, die bewusst beides bedienen«, erzählt Boris Orlob. 

Lydia Wessler in einer Hosenrolle, 1872 • Foto: Public Domain

Das Phänomen Stimmfach, auf halber Strecke zwischen Wissenschaft und Glaubensfrage, ist nämlich auch eine Typfrage. Geht man die Partien-Auflistungen des Kloiber oder der online Ressource Aria Database durch, ergeben sich für jedes Fach klassische Rollenprofile: Mezzosoprane spielen häufig verruchte femme fatales wie Carmen oder Dalila, oder junge Männer – sogenannte »Hosenrollen«, wie Mozarts Cherubino. Baritone sind die zupackenden Verführer à la Don Giovanni. Nicht umsonst ist das geflügelte Wort barihunk zu einem feststehenden Begriff für besonders attraktive Vertreter dieses Fachs geworden. Der gleichnamige Blogführte lange Buch über die »Sexiest Baritone Hunks from Opera«. Auch heute findet man unter dem Hashtag #barihunks auf Instagram zahlreiche Bilder von ernst dreinblickenden Männern mit nacktem Oberkörper.

Bariton John Reardon, 1976 • Foto: Public Domain

Der Tenor ist meistens der romantic lead des Abends – ein empfindsamer jugendlicher Liebhaber, der seiner Angebeteten vor ihrem Fenster ein herzzerreißendes Ständchen singt, man denke nur an den Grafen aus Il barbiere di Siviglia. Die lyrischen Soprane sind oft junge, hilflose, schöne Mädchen wie Prinzessin Pamina aus der Zauberflöte, an die Tenor und Publikum gleichermaßen ihr Herz verlieren. Der komische Sidekick der ernsthaften lyrischen Sopranistin ist die Soubrette: Auch sie ist jung und hübsch, aber vor allem unkompliziert und lustig: »Das komische Spieltalent ist gerade im Soubrettenfach sehr wichtig«, bestätigt Boris Orlob. Auch gewisse physische Voraussetzungen seien von Vorteil: »Wenn die Sängerin dem Prototyp der Soubrette entspricht und eine charmante zierliche Person ist, dann ist das natürlich ideal. Wohingegen eine 1,80 m große Soubrette sich gut überlegen muss, was die Stimme vielleicht noch so hergibt und ob es nicht Repertoire gibt, wo sie nicht als Typ so festgelegt wird – zum Beispiel in der Barockmusik oder im Konzertbetrieb.« 

Soubrette Davida Hesse als Susanna in Le nozze di Figaro, 1904 • Foto: Public Domain

Nicht immer wird das historische Erbe des Fachsystems unserem heutigen Anspruch an Diversität gerecht, viele klassische Opernrollen stecken in überkommenen Genderklischees fest. Zwar werden seit Jahrhunderten Männerrollen von Frauen gesungen und schon Monteverdi hat sich einen Spaß daraus gemacht, die Rolle der alten Amme mit einem Mann zu besetzen, doch bewusst queere oder trans Charaktere sind im Standardrepertoire bisher nicht vertreten. Die Erfahrungen von transgender Personen im Opernbetrieb sind unterschiedlich: Die Sängerin Lucia Lucas, eine Transfrau, die im Bassbaritonfach singt, hatte nach ihrem Outing mit transphoben Vorurteilen zu kämpfen und musste sich anhören, sie könne sie auf der Bühne unmöglich einen ›richtigen Mann‹ darstellen. Dabei ist es doch gerade die Kunst der Behauptung, die Theater zu einer magischen Erfahrung macht. Das findet auch die finnische Sängerin Sam Taskinen, ebenfalls Bassbaritonistin, die am Theater Kassel unter anderem den Fasolt in Wagners Rheingold gibt. Die Demo-Aufnahmen auf ihrer Website zeigen sie ganz selbstverständlich in Spitzenbluse, tailliertem Hosenanzug und nach hinten geflochtenem Haar– derselbe Look, mit dem auch eine Mezzosopranistin für die Rolle des Octavians in Strauss’ Rosenkavalier vorsingen würde. Dass ihre persönliche Identität als Transfrau nur wenig mit den Kernrollen ihres Faches zu tun hat, stört Taksinen nicht: »Ich singe hauptsächlich ältere Männer: Könige, Väter, Stiefväter. Mir gefällt, dass ich auf der Bühne jemand anderes sein kann, als privat. Ein Opernsänger ist ja kein Popstar, bei dem die Persönlichkeit im Mittelpunkt steht. In der Oper geht es darum, in eine Rolle zu schlüpfen. Gestaltet man die nur aus seiner persönlichen Lebenserfahrung heraus, wird das schnell zur emotionalen Masturbation, finde ich. Davon hat das Publikum nicht viel.« Wichtiger ist für Taskinen, dass sie auch offstage ihr wahres Ich leben kann. Mit ihrem Outing hätten sich so viele seelische und körperliche Verspannungen gelöst, dass ihr Stimmvolumen auf die doppelte Größe angewachsen sei. 

Die Frage nach Identität ist für SängerInnen – egal welchen Fachs – von existentieller Bedeutung. Mag das Fachsystem eine wichtige Orientierungshilfe sein, darf man nicht vergessen, dass jedes Instrument einzigartig ist und an jedem Kehlkopf ein ganzer Mensch dranhängt. Nur eine Stimme, die ihren individuellen Weg gehen und sich frei entfalten darf, bleibt lange gesund und schön. So meint auch Sam Taskinen: »Mit sich selbst im Reinen zu sein, ist fürs Singen enorm wichtig.« ¶

… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).