Genau zehn Jahre hat die US-amerikanische Sopranistin Corinne Winters aus Maryland für ihren Siegeszug auf die Opern-Weltbühnen gebraucht: 2013 trat sie als Violetta in Giuseppe Verdis La Traviata erstmals an der English National Opera in London auf, mittlerweile singt sie in Wien und Salzburg, in Rom und Madrid, in Genf und Lyon, in Seattle und Sydney. Gerade war sie als Cio-Cio-San in der Wiederaufnahme von Puccinis Madame Butterfly in Frankfurt zu sehen, wo sie 2021 als Jolanthe in Peter Tschaikowskys gleichnamiger Oper debütierte. Nirgends kann man sich ihrer Bühnenpräsenz entziehen: eine femme fragile mit der Ausdruckskraft einer Heroine.
VAN: Können Sie sich an die erste Oper erinnern, die Sie live auf der Bühne gesehen haben?
Corinne Winters: Ja, das war La Juive von Jacques Fromental Halévy, mit Neil Shicoff und Krassimira Stoyanova an der Metropolitan Opera. Ich war mit meiner Familie in New York und wir sagten: Lass uns in die Oper gehen! Aber die Aufführung dauerte so lange, dass ich nach einer Zeit anfing, mich zu langweilen – nicht gerade das geeignetste Stück für den Operneinstieg.
… und die Musik?
… atemberaubend! Vor ein paar Jahren sang ich selbst die Rachel, die Titelrolle der Juive, und ich liebte das Stück. Aber wir führten es mit mehr Strichen auf.
Wie alt waren Sie bei Ihrem ersten Opernbesuch?
Etwa zwanzig. Wenn man in Amerika außerhalb der großen Städte aufwächst, hat man kaum Gelegenheit, eine Oper zu besuchen. Sie ist nicht Teil der Mainstream-Kultur. In Europa ist sie noch sehr verwurzelt, weshalb ich hier auch viele junge Leute in den Aufführungen sehe. Als ich mit achtzehn Jahren auf die Opernschule ging, war ich nicht sicher, ob ich dies professionell machen wollte. Ich mochte das Singen, aber wusste nicht viel über Gesang. Erst die Aufführung an der Met überzeugte mich. Ich bin ein echter Spätzünder!
Den Ausschlag gab auch der Wechsel Ihrer Stimmlage vom Mezzo zum Sopran. Wollten Sie kein Mezzosopran auf der Bühne sein?
Nicht, dass ich es nicht wollte. Aber es fühlte sich nicht stimmig an – schwer zu erklären. Wir leben ja in diesen Rollen – als Sängerinnen und Schauspielerinnen –, und diese Mezzopartien entspringen nicht meiner Persönlichkeit. Ich mochte die komische Oper nicht sehr. Rein vokal sind diese Rollen natürlich großartig, aber sie passten nicht in meinen Körper, fühlten sich nicht authentisch an. Deshalb dachte ich zuerst, Oper sei nichts für mich. Als ich dann im Jahr nach dem Besuch der Juive in den Sopran wechselte, spürte ich sofort mit Leib und Seele: Das bin ich! Aber dann musste ich das entsprechende Repertoire suchen. Und das sage ich auch den jungen Sängerinnen immer wieder: Das richtige Repertoire zu finden, ist das Allerwichtigste.
Dazu kam auch eine besondere Stimmtechnik…
Ja, ich bin eine Anhängerin der Bruststimme, das heißt: Ich bringe meine Sprechstimme beim Singen etwas höher. Mit Bruststimme zu singen, hält die Luft mehr im Körper, und der Ton wird klarer und auch besser hörbar.
Sind Sie ein lyrisch-dramatischer Sopran?
Ich komme immer vom Lyrischen. Meine Stimme hat Kraft, aber ich bin nicht der lauteste Sopran. Nicht Lautstärke, sondern Reichtum und Linienführung machen meine Stimme aus. In der Káťa Kabanová kann ich meine Stimme natürlich dramatischer gestalten, aber immer aus der lyrischen Perspektive heraus. Schönheit und Gefühl in den Klang zu legen und ihn an bestimmten Stellen dramatisch zu steigern, ist, glaube ich, das, was ich am besten kann.
Zwischen August 2022 und Mai 2023 standen Sie als Káťa Kabanová innerhalb kürzester Zeit auf vier verschiedenen Bühnen: in Salzburg, Genf, Stuttgart und Lyon. Was war das für eine Erfahrung?
Die schwierigste Aufführung für mich war die in Stuttgart, weil sie eine Wiederaufnahme war. Da gibt es nicht genug Zeit, um Neues auszuprobieren, und ich habe halt gemacht, was ich von früheren Aufführungen schon kannte. Mir ist es sehr viel lieber, die Káťa Kabanová neu einzustudieren, gerade weil ich sie so gut kenne und sie mir mittlerweile richtig in den Knochen steckt. Sie ist mir nicht über, und je öfter man Janáček aufführt, desto mehr liebt man ihn. Es braucht auch Zeit, das Stück in sich aufzunehmen, da kann man nicht wie etwa bei der Bohème von Puccini sagen: ›Oh, that was lovely…‹ Die Káťa ist sehr komplex und vielschichtig. Als Wiederaufnahme werde ich sie deshalb nicht mehr singen. Die anderen drei Produktionen aber waren Neueinstudierungen. Dabei hat sich auch der Gebrauch meiner Stimme verändert. In Salzburg habe ich zwar Tschechisch gesungen, aber ich konnte die Sprache nicht. [Zum VAN-Artikel über die Neuproduktion der Káťa Kabanová bei den Salzburger Festspielen 2022.] Als ich in Genf war, lernte ich Tschechisch, und in Lyon konnte ich mich schon auf Tschechisch unterhalten.
Warum haben Sie angefangen, Tschechisch zu lernen?
Da ich so viel tschechisches Repertoire singe, dachte ich, ich müsse auch die Sprache erlernen – sehr, sehr schwierig, zumal für eine Amerikanerin. In Salzburg erfuhr ich viel über die Aussprache – der Dirigent Jakub Hrůša ist ja selbst Tscheche –, ich kriegte es einigermaßen authentisch hin, aber es war immer noch sehr steif. Ich bekam den Sprachklang hin, aber nicht den Fluss. Mein Ziel ist jetzt, bei meinem nächsten Auftritt in Tschechien ein Interview in der Landessprache zu geben. Bei aller tschechischen Musik, aber besonders bei Janáček, muss die Stimme dem Tonfall der Sprache folgen – oder es klingt falsch. Man muss nicht nur die Wörter, sondern auch die Klangfarben der Wörter hören können. Deshalb glaube ich, dass meine letzte Aufführung in Lyon die beste war – weil mein Tschechisch immer besser geworden ist.

Welche Verbindung fühlen Sie zur Rolle der Káťa Kabanová?
Sie befindet sich offensichtlich in einer extremen Lage. Ich selbst habe so etwas Extremes nicht erfahren. Aber ich bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen und fühlte mich immer ein bisschen anders. Ich wusste nicht richtig, wohin ich gehörte, war schon als Kind sehr emotional, auch innerhalb der Familie. Ich blieb am liebsten in meinem Zimmer, mit Musik und Büchern, ganz in meiner inneren Welt, umgeben von Kunst. Und ich glaube, Káťa ist auch von dieser Art. Ich halte sie nicht für verrückt. Sie sieht das Leben in Farben, während der Rest der Gesellschaft nur schwarz-weiß sieht. Und auf Leute, die das ganze Farbspektrum nicht kennen, wirkt Káťa einschüchternd und bedrohlich. Wir sehen ja gerade heute, wie polarisiert viele Leute sind – entweder schwarz oder weiß. Aber das wirkliche Leben kennt so viele Grauschattierungen. Káťa ist künstlerisch, emotional, sehr naturverbunden. Wer so leidenschaftlich lebt wie sie, muss sich in eine Schachtel gepresst fühlen. Sie ist ein extremes Beispiel für eine Empfindung, die viele von uns haben: nirgendwo hineinzupassen. Und manchmal ist es das Beste, die Situation einfach zu verlassen. Für Káťa ist unglücklicherweise der Tod die einzige Möglichkeit in dieser Geschichte. Ich wünschte, sie könnte mit ihrem Liebhaber Boris weglaufen! Aber schließlich trifft sie selbst eine Entscheidung, sie wird ihr nicht aufgezwungen. Und ich glaube, dass sie mit ihrer Entscheidung tatsächlich im Reinen ist, weil die Musik am Schluss sagt: Das ist mein Weg. Ich möchte sie nie als Opfer dargestellt sehen. Sie wird schlecht behandelt, die Menschen tun ihr Schreckliches an, aber sie bittet nie um Mitleid. Káťa ist viel komplexer als es die Opferrolle ausdrücken könnte.
Können Sie diese Vorstellung von Káťas Persönlichkeit in den Inszenierungen immer durchsetzen?
Es ist immer ein Dialog. Ich habe noch keinen Regisseur kennengelernt, der mir verboten hätte, eigene Ideen einzubringen. Manchmal habe ich mehr Einfluss auf den Regisseur, manchmal weniger. Das einzige, worauf ich allerdings bestehe, ist, dass Káťa kein Opfer ist. Alles andere bin ich bereit, auszuprobieren. Eigentlich möchte ich herausgefordert werden, weil dadurch die Rolle für mich frisch bleibt. Sonst würde sich auch das Publikum langweilen, wenn es mich immer nur auf dieselbe Art sähe.
Verweigern Sie gelegentlich auch Regieanweisungen?
Ja. Aber ich suche immer zuerst die Zusammenarbeit. Wenn ich mich bei etwas nicht wohl fühle, versuche ich, die Idee des Regisseurs beizubehalten, aber besser auf mich abzustimmen. Wenn er dann nicht weitermachen will, muss ich ihm sagen, dass ich nicht umsetzen kann, was meinem Charakter oder dem des Stücks widerspricht oder nur vordergründig wirkt. Wenn ein Regisseur von mir verlangen würde, total nackt aufzutreten, obwohl es dafür keinen Grund gibt – warum? Sogar bei der Salome muss das nicht sein. Das Schockierende ist oft nicht das Interessanteste – ein Geheimnis ist viel interessanter. Womit ich auch gar nicht einverstanden bin, sind Veränderungen des Librettos. Da bin ich ganz traditionalistisch – der Text muss bleiben, wie er ist –, abgesehen von den Strichen in manchen Belcanto-Opern. Wir gehen ja auch nicht in eine Kunstgalerie und verändern die Bilder. Jetzt bin ich an einem Punkt angelangt, wo ich mir Dirigenten wie Jakub Hrůša, Tomáš Hanus oder Michele Mariotti und Regisseure wie Claus Guth oder Krzysztof Warlikowski aussuchen kann, die ich besonders schätzen gelernt habe. Ob eine Produktion für das Publikum erfolgreich wird, kann man nicht kontrollieren. Aber ich kann kontrollieren, wie ich mich jeden Tag bei der Arbeit fühle, wenn ich mit Menschen zusammen bin, die ich liebe.
Ihre Affinität zum slawischen Repertoire hat auch einen biografischen Hintergrund…
Meine Vorfahren väterlicherseits kamen aus der Ukraine. Meine jüdischen Urgroßeltern wanderten aus Kiew nach New York aus. Mein Großvater änderte seinen Namen Vinitzky in Winters, um seine jüdische Herkunft zu verbergen. Das war damals in Amerika weit verbreitet unter jüdischen Emigranten aus Osteuropa. Ich finde es heute traurig, weil mich der Nachname Winters von meinem Erbe getrennt hat, vor allem, nachdem ich mich zum slawischen Repertoire so hingezogen fühlte. Natürlich wusste ich, dass meine Familie irgendwo aus dem Osten kam. Aber erst als ich einen Abstammungstest, einen genetischen Bluttest, machen ließ, wusste ich, dass meine Familie aus der Gegend von Kiew kam. Das ist wirklich verrückt, denn ich hatte keine Ahnung – und war so begeistert vom russischen Repertoire, dann dem polnischen, schließlich dem tschechischen.
Haben Sie noch Verwandte in der Ukraine?
Wahrscheinlich nicht, weil die meisten im Holocaust umgekommen sind. Wenn welche übrig geblieben sein sollten, dann sehr entfernte.
Gibt es zwischen dem slawischen und Ihrem italienischen Repertoire eine Verbindung?
Ja, unter anderem weil die Opern aus einer ähnlichen Epoche stammen, zwischen 1900 und 1940. Stil und Text sind zwar verschieden, aber es gibt doch eine gemeinsame musikalische Sprache und ähnliche Themen. Es geht um die Wahrheit des Ausdrucks, sowohl in der Musik als auch in den gezeigten Geschichten. Im späteren slawischen Repertoire und im Verismo geht es um reale Menschen, reale Lebensumstände, und das sind Geschichten, die ich gerne erzähle, weil sie fragiler sind und mehr zu Herzen gehen. Außerdem haben die Frauen in diesen Opern gewaltige Konflikte. Sie sind beinahe multiple Persönlichkeiten. Das finde ich attraktiv. Am Anfang meiner Karriere war ich sehr oft Violetta in Verdis La Traviata, in etwa fünfzig Aufführungen, und ich liebte es, weil sie einerseits sehr stark und unabhängig ist, andererseits sehr fragil und liebebedürftig. Und sie kämpft die ganze Zeit. Káťa möchte einerseits dazugehören, andererseits frei sein, möchte in ihrer Sinnlichkeit und Weiblichkeit sie selbst sein und gleichzeitig geliebt werden. Madame Butterfly ist eine Frau ihrer Kultur und ganz traditionsverbunden, aber sie will ein besseres Leben für sich selbst – diese Konflikte reizen mich. Frauen, die nur einen Weg gehen, wie etwa Puccinis Turandot, sind mir zu fundamentalistisch. ¶