Was ist ein »Concerto grosso«? – »Ein ›Concerto grosso‹ ist ein großes Konzert!« – wie der Moderator, Schauspieler und Comedian Florentin Will im Podcast Das Podcast Ufo (mit Netflix-Autor Stefan Titze zusammen) in Folge 8 (17. Februar 2015, ab Minute 50.45) einmal sagte, beziehungsweise: sich in dieser Weise an die – etwas sehr pauschale – Antwort eines Mitschülers im gymnasialen Musikunterricht erinnerte.

So ganz falsch ist die Antwort ja nicht. Es geht schon um das große Ganze. (Na ja, um die kleinen Ding aber auch …). Das große Auftrumpfen. Große Virtuosität. Und es sind eben verhältnismäßig »viele« dran beteiligt, an so einem barocken »Großen Konzert«. Eine Gattung, bei der eine Solisten-Gruppe dem Tutti gegenübersteht: Es geht um einen kreativen »Streit« (concertare = streiten), um das virtuose Mit- und Gegeneinander von »kleiner« und »großer Gruppe«. Der Italiener Arcangelo Corelli gilt als erster Meister dieser Gattung (auch Torelli und Geminiani darf man dabei nicht vergessen). 1714 erschienen Corellis legendäre Concerto-Grosso-Taten. Und Händel selbst reiste nach Italien, um Corelli und dessen Concerti grossi kennenzulernen. Eine prägende Erfahrung, aus der heraus 1739 in London seine ganz eigenen Concerti grossi entstanden (hier der Link zu den Noten, zum Mitlesen).


Georg Friedrich Händel war am 23. Februar 1685 in Halle an der Saale zur Welt gekommen. Dort gilt er bis heute als Legende, steht stolz als lockenperückte, uns seine herausgestellte Brust präsentierende Statue mitten in der Stadt herum – dabei wurde er doch von unseren englischen Freundinnen und Freunden fein okkupiert! Denn nach seinen frühen Jahren in Halle stromerte Händel zunächst in die damalige Gänsemarkt-Opernstadt Hamburg, wo er Violine und Cembalo im Orchester präludierte und mit der frühen deutschen Barockoper – und den durchaus in gutem Konkurrenzverhältnis stehenden Protagonisten dort – in Berührung kam.

Dann kamen »drei Jahre auf Tour« durch Italien. Hauptsächlich verdingte sich Händel (der sich – wie alle Barock-Komponistinnen- und Komponisten – gerne regelmäßig Motivisches/Melodisches von Kolleg:innen »borgte«) in Rom, besuchte ein paar andere italienische Musik-Metropolen, trat als Interpret auf und komponierte vor allem viele Kantaten. Nach der Aufführung seiner Oper Agrippina am zweiten Weihnachtstag 1709 in Venedig wurde Händel zum Hofkapellmeister in Hannover ernannt. Seine Blütezeit (und schlichtweg auch die längste Zeit seines Lebens) verbrachte er aber in London, wo er zur absoluten (komponierenden und organisierenden) Bezugsgröße der Oper(ngeschichte) emporstieg.

Nach Höhen und Tiefen in London starb Händel dort am 14. April 1759 im Alter von 74 Jahren. Sein Oratorium Messiah (Dublin 1742) wird allein in den nächsten (vorweihnachtlichen) Wochen vielhundertfach in aller Welt erklingen. Und auch seine Opern spielt man – die noch viel häufiger! – überall; in diesen Monaten gefühlt an jedem zweiten deutschsprachigen Opernhaus; am häufigsten inzwischen seine Alcina (London 1735), manchmal auch Rinaldo (London 1711). Und das Schicksal (oder doch das Planungsbüro des Hauses?) wollte es, das selbst zum Zeitpunkt der Krönung von King Charles III. im Mai 2023 ein Werk Händels auf der Bühne von Covent Garden läuft, nämlich der selten gegebene Arminio (London 1736); ein Stück über den Cherusker Hermann, dem nicht nur 1875 ein großes Denkmal bei Detmold gewidmet, sondern nach dem auch ein sich gerade Gott sei Dank fangender Zweitligaclub benannt wurde. 

Wir kehren hier aber zurück zum »Großen Konzert« und hören vier Aufnahmen des zutiefst italienischen (!) Concerto grosso No. 1 op. 6 HWV 319 an. Das Stück entstand – wie bereits erwähnt – 1739 in London, und ist Teil der Zwölf Concerti grossi op. 6. (Bis zur Klassik völlig normal, üblich und häufig, Werke in Sechser- oder Zwölfer-Packung abzugeben.) Dieses erste fünfsätzige Konzert steht in G-Dur. Und das ist keine Sensation. G-Dur ist eine der häufigsten Barocktonarten.

Noch Ferdinand Gotthelf Hand (1786–1851) gab in seiner Aesthetik der Tonkunst (1837) tief im 19. Jahrhundert steckend über G-Dur mit erhobenem Zeigefinger zu bedenken: »G dur stellt ein Bild der Beruhigung auf und kann in seiner Durchschaulichkeit, wenn der Künstler das Einfache nicht zu behandeln weiß, bis zum Bedeutungslosen sinken. In dieser Tonart aber spricht sich die Innigkeit der Treue, der leidenschaftlosen Liebe, die Ruhe der Betrachtung und eine sanfte Stimmung aus; einfache Unmut ist ihr Schmuck. Das ländliche Leben spiegelt sich in ihr treulich ab, und man kann ihren Charakter oft idyllisch nennen. Doch eignet sie auch zu jeder Art von leichtfertiger Demonstration und selbst für ironische Spiele und leicht gehaltenen Scherz.«

Barock-Diva Johann Mattheson (1681–1764) ordnete 1713 die Tonart genauso ein, wie wir es vermutlich selbst getan hätten: »G dur hat viel insinuantes und redendes in sich, er brillirt dabey auch nicht wenig / und ist so wol zu serieusen als munteren Dingen gar geschickt.« (Händel und Mattheson waren Freunde und Konkurrenten zugleich; legendär die Erzählung eines angeblichen Fechtkampfes zwischen den beiden am 5. Dezember 1704.) G-Dur scheint also von mehreren Autoren schon »vom Charakter her« als durchaus »lustig« beschrieben worden zu sein. Verstehen die Interpretinnen und Interpreten das auch so?


1. Satz: A tempo giusto

Der erste Satz (A tempo giusto) ist gar nicht so »zum Reinkommen« geeignet, sondern zeigt eigentlich gleich Knall auf Fall, dass Händel auch »lustig« konnte. Denn er beginnt mit einem einfachen, gestoßenen G-Dur-Akkord – und bringt dann fast eine »Schlussformel«, also etwas, das man eher am Ende denn am Anfang einer Phrase vermuten würde. Knapp bevor das Stück richtig beginnt, hat das ganze Gewirk also schon sein End’. Vier Noten (hier: in der Violine 1): g1 (Viertel), h (punktierte Achtel), a (16tel), g (Viertel). Das ist spartanisch, das ist niedlich, das ist höchst simpel und gar nicht »kompliziert-barock«.

Anschließend folgt eine Art Variation dieses Mottos, nur gewissermaßen »in doppelter Geschwindigkeit« – und »weiter oben«. Und aus dem »weiter oben!« macht Händel jetzt ein witziges Prinzip: Er schraubt die Blöcke in ihrer »sich selbst ergebenden Mechanik« immer weiter hoch, bis die erste Violine schließlich auf dem zweigestrichenen h landet – und somit die bisher mit Abstand längste (und höchste) Note zu spielen hat. Ganz oben leuchtet und strahlt also plötzlich dieser Ton auf, und überhaupt wird klar: Händel hat hörbare Lust auf ein kontrapunktisch-konzertantes Spiel mit lustigen kurzen und expressiven langen Tönen. Und demgemäß sollte man das doch wohl auch spielen: zwischen Spaß und Erkenntnis. 

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Herbert von Karajan, Berliner Philharmoniker (1966)

Klar, es ist immer einfach, bei Werken aus Barock und Klassik die alten Karajan-Aufnahmen herauszuholen, um sie dann langweilig-erwartbar als »veraltet« zu tadeln. Aber in der Tat ist es schon abstrus, wie deutschtümelnd man Musik falsch verstehen kann. Der lustige Händel-Beginn kommt einem hier – unter den Händen Karajans und mittels der Hände der Solisten Emil Maas und Thomas Brandis (Violinen) – vor wie unter einer grauen Trauerweide aus Plaste gespielt. Die Noten erscheinen breit – und an manchen Tonschlüssen wird noch ziemlich ekelhaft »nachgedrückt«. Alsbald bleiben die beiden Geigen-Solostimmen allein; hier wird dann eine Vibrato-Competition eröffnet, die sich gewaschen hat. Wir schalten um …

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Karl Richter, Münchener Bach-Orchester (1971)

… zu einer Aufnahme, die von der romantischen – »uninformierten« – Ästhetik her grundsätzlich ins gleiche Kerbholz der Unhörbarkeit (?) hauen sollte. Die Töne sind hier – bei Karl Richter, dem Münchener Bach-Orchester und den beiden Solisten Gerhart Hetzel und Kurt Christian Stier (Violinen) – ähnlich lang, doch steht zumindest jedes einzelne Klangereignis für pure Freude: für Feierlichkeit, für das Zelebrieren jeglichen Lebens (und der unvermeidbaren Traurigkeiten). Das ist so viel ehrlicher und schöner als bei Karajan und Konsorten. Und kann auch alsbald ins Dramatische hin umschlagen.

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Trevor Pinnock, The English Concert (1982)

Fast spröde und unbeteiligt gehen Trevor Pinnock (Cembalo und Leitung) und die Solo-Protagonisten Simon Standage und Elizabeth Wilcock (Violinen) mit The English Concert den Reigen an. Die Noten sind klar kürzer, das Gefühl etwas mehr »nach vorne« verlagert. Aber es weht doch ein ziemlich kühler Wind durch die Arbeitsverträge. Jede Viertel bekommt einen »Bauch«, baut sich – Tontürmchen für Tontürmchen – so ein bisschen nervig auf. Daraus könnte eigentlich auch eine andere Art von Humor entspringen; aber die Interpretation bleibt dann doch überraschenderweise leicht bräsig, so, wie sie schon zu Beginn das Wartezimmer der steifen Witzlosigkeit betreten hatte.

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Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico (2009)

Ist das jetzt ein ungerechter Interpretationsvergleich? Also einer, bei dem die Mailänderinnen und Mailänder von Il Giardino Armonico überhaupt beteiligt (und von meiner Seite aus – ich gebe es zu – per se zum Gewinnen verurteilt) sind? Das Ensemble steht (beim Spielen – aber auch) für mich dafür, dass Barockmusik glutvoll, emotional und jederzeit überraschend sein kann. 1985 in Mailand von Absolvent:innen diverser europäischer Musikhochschulen gegründet, gehört das Ensemble seit Jahren zu den führenden Klangkörpern der Barockmusikwelt.

Die Spielweise der Spielwiese-Musikantinnen und Musikanten des »harmonischen Gartens« ist immer voller Ideenreichtum und fast übermütiger Energie. Da kann es ruhig einmal in den Geigen knirschen oder in einem Flöten-Solo (beispielsweise bei den vielen Vivaldi-Flötenkonzerten) so laut zirpen, dass die Lautsprecher rebellieren. Als Hintergrundmusik taugen diese Interpretationen ganz und gar nicht. Und 2008 hat man eben die vielleicht immer noch dann und wann als »Tafelmusiken« missverstandenen Concerti grossi Händels aufgenommen. Übrigens in einem Studio in der nordspanischen Provinzhauptstadt Valladolid.

Der Ensembleleiter Giovanni Antonini betonte damals, diese Einspielung sei »eher weniger englisch«. Und tatsächlich hat Händel hier nichts mehr mit »englischer (Händel-)Höflichkeit« zu tun. Die Interpretation von Il Giardino Armonico macht die emphatisch italienische Herkunft der Concerti grossi erst richtig deutlich und fassbar. Händel klingt wie nach einem aufregenden Italienurlaub mit Vesuv-Ausbruch. Ein Vesuv-Versuchslabor.

Dass Il Giardino Armonico so gut klingt und so viel Spaß macht, liegt vor allem wohl an dem gemeinsamen Atem, aus dem natürlich nichts bloß fließend »Zusammenhängendes« wird, sondern eher etwas Explosiv-Kollektives. Die Klänge werden plastisch herausgeschält, haben einen deutlichen, impulsiven Beginn – und ein ab und zu apodiktisches Ende. Aber auch im Klang selbst formt das Ensemble die Akkorde, Harmonien, Ballungen noch weiter; im Sinne eines gemeinsamen Schwungs. Es entsteht ein Affekt- und Effektspiel von Expression, Wut, Furor und manchmal dreister Leichtigkeit.

Und »unser« Händel klingt (mit Giovanni Antonini am Pult und Enrico Onofri und Marco Bianchi an den ersten beiden Geigen) plötzlich wie ein Stampftanz. Dann schaltet man viele Register zurück – und ganz sanft und fragil erzählen die leisen Geigen von Leid und Ferne. Wieder platzt es herein, mit großem Feuer, Allmacht. Und dann dieses gemeinsame Flüstern am Ende des Satzes: fantastisch, aufregend, durchdrungen von Emotionen und Haltung gegenüber der Welt. Alles hineingegeben, alles herausbekommen (nur nicht jedes Geheimnis).


2. Satz: Allegro e feroce

Im zweiten Satz (Allegro e feroce) sind alle Beteiligten von Anfang an präsent. Typisch barock-konzertante Tonleiterausschnitte, kleine Motti, das bekannte Für- und Gegeneinander der Stimmen. Aber: Auch das will belebt werden!

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Endlich spürt man auch bei den Berliner Philharmonikern so etwas wie »Freude«. In den Ripieno-Violinen schabt man sich allerdings ein bisschen sehr gleichtönig den Wolf. Orchesterbeamtenhandwerk der 1960er Jahre. Braucht man heute wirklich nicht mehr.

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Karl Richter, Münchener Bach-Orchester (1971)

Deutlich bewegter geht es beim Münchener Bach-Orchester im zweiten Satz zu. Schon das flottere Tempo trägt etwas zum Hörwert dieser Aufnahme bei. Man schmeißt sich mehr rein. Eine Interpretation, die zwar nicht mehr en vogue ist, aber dadurch nicht schlecht sein muss.

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Trevor Pinnock, The English Concert (1982)

Bei Trevor Pinnock und Co. könnte sich fast die Idee einstellen, man befände sich inmitten eines Symphonie-Tanzsatzes von Haydn. So nett juckelt das vor sich hin. Aber leider eben auch mit zu wenig Ideen.

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Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico (2009)

Il Giardino Armonico smasht wieder einmal schon den Anfang ziemlich drollig hinfort. Die kurzen, leisen Töne »erkennen« wir nun als kleine Spottwichte am Wegesrand, die uns ein Beinchen stellen wollen. Und sofort fallen einem weitere diverse Dinge ein, was hier im Rahmen einer kurzen Story im Schwange sein könnte …


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3. Satz: Adagio

Der dritte Teil (Adagio) bildet die »klagende Mitte«; im Zentrum, umgeben von Spielfreude und Kleingliedrigkeit also: ein langsamer Satz. Doch das Material scheint den vorherigen Sätzen unmittelbar abgelauscht. Lange gegen kurze Töne – und den aufrückend-kontrapunktbildenden Cello-Takt 2 könnte man fast als Umkehrung der Abwärtsbewegungen aus dem ersten Takt des Eingangssatzes hören.

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Herbert von Karajan, Berliner Philharmoniker (1966)

Leider wird insbesondere dieser Satz unter der Leitung von von Karajan absolut unhörbar. Da wird auf jeder einzelnen Note herumgewimmert, als ob Opa noch einmal etwas übertrieben schluchzend erzählen würde, wie einst Pommern verlorenging.

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Karl Richter, Münchener Bach-Orchester (1971)

Karl Richter und seine Kollegen hängen über das Adagio wenigstens einen Schleier der mitfühlenden Trauer. Hier bricht die Expressivität der Passionsinterpretationen Richters durch.

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Trevor Pinnock, The English Concert (1982)

Der demütige Ernst, den Trevor Pinnock and Friends bisher an den Tag legten, geht sich hier nun ziemlich überzeugend aus. Als hätte man nur geradezu darauf gewartet, fahle, drückende Töne in einem Trauerkranz zusammenzuflechten. In der ganzen Sprödigkeit: gut.

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Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico (2009)

Die »schönste Breite« hören wir jedoch – wen mag es jetzt noch überraschen? – bei Il Giardino Armonico. Diese Farbstufungen, dieses Aufeinander-Hören! Da wird auch mal ein schlichter Bassabgang zum Ereignis. Diese Klangpolyphonie, diese innerlich erfühlten, langsamen Vorschlagstriller. Manch ein Geigenton tropft hier so einsam-gehaucht in die Landschaftsgartenarchitektur herrlichster Sentimentalität, dass man meint, eine Glasharfe zu hören. Scharfe Sekunddurchgangsdissonanzen scheinen schmerzvoll stimmdurchkreuzend auf. Lava der Zerknirschtheit, brodelnde Steine, Flüssigkeit geworden. Unfassbar grandios.


4. Satz: Allegro

Anfänglich des vierten (Fugen-)Satzes (Allegro) vernehmen wir …

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Herbert von Karajan, Berliner Philharmoniker (1966)

… ausgerechnet bei den Berliner Philharmonikern größere Intonationsschmierereien. Das klingt wie eine der (Entschuldigung: wirklich schlimmen) Yehudi-Menuhin-Bach-Aufnahmen. Laut, mit viel Getöse, pseudobehauptend und unschön. Töne werden (an den Ohren) langgezogen. Wie eine von Mutti auferlegte Strafe, weil man zu lange auf der Straße gespielt hat.

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Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico (2009)

Erst einmal »unterspielend« nehmen die Leute von Il Giardino die Fuge ins (gottlose) Gebet. Als dann das Tutti erklingt, wuppt es gleich wieder so nett. Das ist feist – und wird dem »akademischen Geist einer Fuge« nicht gerecht. Wie formulierte es Jogi Löw einst so wertvoll? »Das ist schön, das ist wunderschön!«



5. Satz: Allegro

Der Final-Satz (wieder ein Allegro) geht sich dann wie eine Gigue aus. Im losgelassen-bewegten 6/8-Takt. Oktavsprünge, Dreiklangsbrechungen und Skalen: So geht eben ein barockes Concerto Grosso (zu Ende).

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Herbert von Karajan, Berliner Philharmoniker (1966)

Die Berliner Philharmoniker hecheln herum, als hätte man anlässlich des bereits laufenden Abspanns einer affirmativen »Klassik«-Sendung im ZDF nur noch wenig Zeit, wolle sich aber noch einmal selbst – eingefangen von den TV-Kameras – über den Bühnenbildschirm erspähen. Schließlich muss die Fönfrisur auch in Allegro-Situationen sitzen! »Bach gespielt. Das Haar sitzt. Drei Wetter Taft.« Langweilig und eitel.

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Karl Richter, Münchener Bach-Orchester (1971)

Und wieder klingt das Münchener Bach-Orchester beseelter und besser als die Philharmoniker unter Karajan, der Händel vermutlich ohnehin nur dirigierte, weil er erstens damit Platten verkaufen konnte – und zweitens, weil er darin tiefbedeutende, »deutsche« Musik sah. Nicht ganz zufällig war Karajan einstmals NSDAP-Mitglied – hatte also noch etwas vom »Deutschtum Händels« mitgekriegt; und nicht zufällig, sondern freilich völlig gezielt, war es im Nationalsozialismus zu »Arisierungen« Händels gekommen: So verfügte der Generalsekretär der »Reichsstelle für Musikbearbeitungen« im Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda, der Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser, dass Händels Judas Maccabaeus doch besser, weil: »unjüdischer«, »Der Feldherr« heißen möge. Moser schickte sich also nach eigener Aussage an, das Gesamtwerk Händels (musikhistorisch-geographisch wie ästhetisch in jeder Hinsicht unwissenschaftlich) zu »entjüdeln und einzudeutschen, um ihn [Händel] für das Bildungserlebnis des germanischen Menschen zu retten.« (Zitiert aus: Thomas Gartmanns Bach und Händel in den deutschen Diktaturen, Zürich 2017). So übertrieben (gruselig) es klingt: Ich höre eben diese Deutschtümelei bei Karajans Händel-Interpretationen mit.

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Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico (2009)

Deshalb bleiben wir doch gleich in Italien – und feiern (mit dem Finale) gemeinsam Il Giardino Armonico. Schon der erste Akkord des Abschlusssatzes schwingt, schwingt sich aus, breitet seine energetischen Flügel über die zerklüftete Landschaft. Man setzt sich drauf – und fliegt mit. Durch kleine Blitze, fiese Vogelschwärme, Mini-Donnerschläge und anderweitige Kuriositäten, derer man in der Natur so an(ge)hörig werden kann.Die immer noch unterschätzte Il-Giardino-Armonico-Aufnahme (der damals die Rezensentinnen und Rezensenten übrigens eher aus dem Wege gingen, weil man wohl gerne von deutscher Rezensionsseite negativ ausgeholt hätte – und es doch nicht vermochte, weil: zu gut!) ist und bleibt ein hervorragendes Beispiel für das quasi unmittelbar wiederhergestellte Barock-Gefühl eines virtuosen Wettstreits von Solo-Stimmen »gegen« die (eigentlich natürlich: mit der) Tutti-Gruppe. Keine Einzelheit geht unter, alles wird genussvoll ausgekostet. Das funktioniert hier so besonders gut, da ein »großer Bogen« gar nicht benötigt wird, sind die einzelnen Sätze doch selten länger als zwei Minuten. Ein weiterer Vorteil dieses Albums: Händels Concerti grossi op. 6 lassen sich – völlig wider Erwarten – auf diese Weise sogar problemlos hintereinander weghören, ohne dass nur eine Spur Eintönigkeitseinerlei im Ohrwascherl entsteht. Mit jedem neuen Stück wird auch die jeweils neue Tonart farblich »neu erfunden«. Und so eben auch hier, ganz am Anfang. In G-Dur. ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.

Eine Antwort auf “Vesuveruption vs. Eiche rustikal”

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