Eine Nische ist nicht genug. Die 1969 geborene Heike Matthiesen hat im Lauf ihrer Karriere nicht nur eine besondere Kunst aus der Sphäre des Spezialistentums geholt, sondern in diesem eine weitere Nische erforscht, die sich zuhörends als wahre Schatzkammer erweist. Die Gitarre war zwar in gewisser Weise das populäre Instrument des 20. Jahrhunderts, im weiten Klassikbetrieb ist sie jedoch eine rare Orchidee. Als rarste Orchidee unter den Orchideen aber mag erscheinen: klassische Gitarrenmusik von Komponistinnen.

Diesem Thema widmet Heike Matthiesen sich seit Jahren. Und hat damit nicht nur eingeschworenen Gitarrfexen die Ohren und Herzen geöffnet, sondern auch nischenfernen Musikliebenden und Orchideen-Ignoranten. Was Matthiesen etwa auf ihren letzten beiden Alben Guitar Ladies (2016) und Guitar Divas (2023) an köstlichen Salonmusiken des 19. und verschiedensten Werken des 20. Jahrhunderts versammelt hat, das ist virtuos, vielfältig und schlicht wunderschön. Auch für Hörende, die sich eigentlich für Zupfmuffel hielten!

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Ein verborgener, zugewachsener Orchideen-Urwald findet sich in der Nischen-Nische. Oder eher ein aktiv abgeholzter? Denn die Unsichtbar- und Unhörbarmachung von Frauen ist ja kein natürlicher Vorgang, sondern geschah und geschieht aktiv. Als langjährige, nachhaltige Gegenaktion fungiert das verdienstvolle Frankfurter Archiv Frau und Musik, eine internationale Einrichtung, die seit 1979 absolute Pionierinnen-Arbeit leistet. Und eben: bleibende Grundlagen schafft (auf der dann Veröffentlichungen wie Arnos Lückers 250 Komponistinnen aufbauen können). Matthiesen hat nicht nur in den Frankfurter Notenschatzkammern ausgiebig gestöbert, sondern sich jahrelang ehrenamtlich im Vorstand des Archivs engagiert. Auch wenn die große Wiederentdeckungsarbeit noch immer ganz am Anfang steht, ist das, was dank Matthiesen und ihren Mitstreiterinnen erneut erschlossen wurde, von enormem Umfang. . Und sicherlich von Dauer.

Vor wenigen Tagen gab Heike Matthiesen nun die bestürzende Nachricht bekannt, dass sie ihre geplanten Konzerte absagen muss und auf die Palliativ-Station gezogen ist. Seit Jahren schreibt Matthiesen auf ihren sozialen Kanälen ganz offen über ihre Krebserkrankung und ihren Kampf für das Leben. Viele Menschen nehmen an Matthiesens Schicksal Anteil, sind bewegt von ihrer Kraft und Geduld. Und gewinnen auch Mut daraus, und nicht zuletzt Dankbarkeit und Lust am Leben, diesem unbezahlbaren, unsicheren Geschenk auf Zeit.

Vielleicht sollte man die folgende Playlist also »Musik für ein Wunder« nennen. Das Gerüst bilden Stücke von Heike Matthiesens jüngsten beiden Alben. Sie stehen im Wechsel mit anderer Musik, die Matthiesen als besonders wichtig in ihrem Leben nennt.


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Wem das erste Werk dieser Playlist bekannt vorkommt, ist entweder Expertin oder Experte für Gitarrenmusik des 19. Jahrhunderts. Oder hört öfter die SWR2-Musikstunde, die dieses Stück als Erkennungsmelodie hat. Es stammt von einer Komponistin, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte: Emilia Giuliani oder Guglielmi, denn wie viele Frauen nahm sie mit der Heirat den Nachnamen ihres Mannes an.

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»Was die Initialzündung zur Gitarre war, weiß ich nicht. Meine allererste Gitarren-CD, die ich geschenkt bekommen habe, war tatsächlich Pepe Romero mit Boccherini.« (Heike Matthiesen)

Die vorliegende Romero-Aufnahme beginnt mit einem kurzen Grave assai – doch nach 1:23 Minuten hören wir einen feurigen Fandango.

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Madame Sidney Pratten, geboren als Catharina Pelzer 1821 in Köln, machte im 19. Jahrhundert als virtuose Gitarristin Karriere in England.

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»Ich wollte dann Gitarre spielen, und nach vier Wochen Unterricht sagte mein Lehrer: ›So, jetzt kaufen Sie sich mal Prélude Nr. 1 von Heitor Villa-Lobos!‹ Das Stück hat mein Leben gemacht, weil es mir die Aufnahmeprüfung ermöglicht hat und ich nach vier Wochen Unterricht sofort ein Profi-Stück angefangen hab.«

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Catharina Prattens Venezianischer Karneval, aus dessen Thema man allerlei beliebte Kinderlieder heraushören kann (besonders deutlich ab 1:45) …

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»Im Studium war meine Lieblings-CD dann Together von Julian Bream und John Williams. Ich habe Cordoba von Albeniz über alles geliebt.«

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Zu den völlig vergessenen Komponistinnen, die Heike Matthiesen für ihr jüngstes Album aufnahm, gehört Anne Emmerich. Wer mag sie gewesen sein? Jedenfalls schrieb ein verzückter Rezensent vor 200 Jahren über sie:

Fromm war ihr Blick und sittsam die Gebehrde,
Und zart und rein erklangen ihre Saiten,
Ihr Wesen, all zu hehr für diese Erde,
Schien auf ein schönres Heimathland zu deuten.

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»Das nächste lebensverändernde Stück war Agustín Barrios-Mangaré op. 8 Nr. 4. Es war das Eröffnungsstück meiner ersten CD, und das Stück hat mich mein Leben lang begleitet und war schon so dieses erste Lebensfreude-Stück.«

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Der 1958 geborene russische Gitarrist und Komponist Victor Kozlov widmete seine Ballade Heike Matthiesen; hier eine Aufnahme von 2017.

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»Eins der Stücke, die mein Leben als Beruf ausgemacht haben, ist natürlich Recuerdos de la Alhambra von Francisco Tárrega. Es gibt kein Stück, was ich so oft gespielt habe, entweder als Schlussstück oder als Zugabe, einfach, weil ich wusste, es ist die Fackel, die ich weitergebe, weil Leute wegen dieses Stückes anfangen, Gitarre zu spielen …«

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Carmen Guzmán (1925–2012) war selbst eine außerordentliche Gitarristin und gehört, obwohl ihr Name außerhalb von Argentinien wenig bekannt ist, zu den großen, melancholischen Erzählerinnen des Tango.

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»Das wichtigste Stück für das weitere Leben war dann die Elegie von Sylvie Bodorová, weil dies – nachdem ich beide Konzerte von ihr gespielt hatte – mein erstes richtiges Gitarren-Solo-Stück war auf Profi-Level. Obwohl ich Mitglied im Archiv Frau und Musik war, kannte ich halt nur diesen verquasten, verkopften Kram aus den 1980ern, der hier lag, und das war das erste Stück, das mich wirklich angesprochen hat und ich auf eine Bühne bringen wollte. Und das war ja dann der Auslöser zu meiner ganzen Frauenarbeit.«

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»Das erste Gitarrenstück, das ich jemals live gehört hab, war natürlich die Spanische Romanze. Und bei uns hing aus Familienbesitz eine kleine alte Gitarre an der Wand, die fand ich immer schön, wollte ich immer spielen. Die Liebe zur Gitarre und Spanien, die war ganz früh da. Ich musste in die Carmen gehen und musste Flamenco-Platten haben und… es ist nicht erklärbar, wo das herkam.«

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»Ich habe absolut magische Erinnerungen an ein total gutes Duo, mein erster Aufenthalt in Sevilla nachts im Alcazar, da spielte ein Gitarren-Duo Oriental von Granados. Das war wie eine Reise in eine andere Zeit.«

Welches Duo mag das wohl gewesen sein? Hier die Aufnahme einer Aufführung von 2019.

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Eine bewegende eigene Komposition von Heike Matthiesen von 2022: »Original composition written in rehab, fighting with cancer and depression. Turning the sorrow into music«

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Zum Abschluss ein sehr kurzes, aber herzwärmendes Stück: Heike Matthiesen spielt in der Adventszeit 2020 Catharina Pelzers alias Madame Sidney Prattens Fassung des Weihnachtsliedes Adeste fideles (Herbei, o ihr Gläubigen). ¶


Playlist zusammengestellt von Albrecht Selge, mit Unterstützung von Susanne Wosnitzka


… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Fliegen‹ und ›Beethovn‹. Zuletzt erschien ›Luyánta – Das Jahr in der Unselben Welt‹.

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