Das Mahler-Beiprogramm hat hier ein anderes Kaliber, und um es vorwegzunehmen, es ist maximal mehr als »Beiprogramm«. Simon Rattle und das London Symphony Orchestra setzten am Montag noch Mahlers Neunte ganz für sich. Iván Fischer und das Concertgebouworkest spielten vor der Siebten Lieder von Jörg Widmann: inhaltlich passend, ästhetisch in ihrer Neigung zum Anbiedern allzu unherausfordernd, ödbequem (wenn auch mit der schönen Überraschung, dass das letzte Lied mir dann doch unmittelbar an die Seelenniere ging). Hier der Bericht zu beiden Konzerten.

Dass Gegenwartsmusik aber durchweg technisch komplex und trotzdem unmittelbar packend sein kann, von begeisternder direkter Klanglichkeit, das beweist Šu von Unsuk Chin. Robin Ticciati führt es mit seinem Deutschen Symphonie-Orchester auf, bevor man sich Gustav Mahlers Lied von der Erde zuwendet. 

Chins Šu dagegen ist das Lied von der Luft. Oder vom Atem. Aber nicht im Koreanischen, obwohl die Komponistin aus Korea stammt. Auch nicht aus irgendeiner chinesischen Sprache, obwohl der Solist Wu Wei ebenso aus China stammt wie sein Instrument, die Sheng – eine Mundorgel, deren älteste Formen es seit Jahrtausenden gibt. Nein, das Wort Šu stammt aus dem Altägyptischen. Das Stück ist Kreuzüber und Begegnung und gegenseitige Aneignung im besten Sinn. Welt-Atem.

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Faszinierend bereits die Präsentation des Instruments durch Wu Wei vor Klangbeginn: breitbeinig stehend, die Sheng mit gerecktem rechten Arm in die Höhe stemmend. Seinen dann einsetzenden, auf ähnlicher Tonhöhe vibrierenden Atem nehmen die hohen Streicher im zartesten Flageolett auf, als breite die klingende Luft sich behutsam aus. In den ersten Minuten des Stücks mag bei einigen Hörenden die Frage aufkeimen, wie weit die Möglichkeiten dieses Instruments (dessen Klangcharakter man am ehesten mit einem Akkordeon vergleichen könnte) wohl tragen werden. Diese Frage wird sich ohne den Schatten eines Zweifels dann in der Zugabe klären, die eine Eigenkomposition sein dürfte, in der Wu Wei so eklektizistisch wie entertaining alle Potenzen seines gegenüber der traditionellen Form erheblich aufgepimpten Instruments präsentiert: pentatonisch, chromatisch, mit Glissandi, Anflügen von Amélie-Hypnosound, Dissonanzen. 

Unsuk Chin aber entfaltet die Möglichkeiten der Sheng auf äußerlich begrenztere, kompositorisch jedoch weitere und tiefenbefriedigendere Weise. Meditativ oder gar betulich ist nichts an der Flächigkeit von Šu, trotz des zarten Beginns. Denn die folgende Steigerung ist feinsinnig, doch umso gewaltiger, ein Umschlag ins Rhythmische, bis wahrlich die Erde bebt. Ohne dass es lärmte! Aber Wu Wei reißt dabei sein Bein mehrfach vom Boden hoch, wie es auch das Stück hochreißt. 

Das ist ein idealer Auftakt in die DSO-Saison, für die das Orchester sich eine Selbstverpflichtung auferlegt hat, um die in einer weniger patriarchalischen Gesellschaft nicht viel Aufheben gemacht würde: kein Programm ohne mindestens ein Werk einer Frau. Diese Nachricht ging natürlich nicht ohne das übliche Getrolle und Gemotze frustrierter Männer ab, vorzugsweise auf Facebook. Aber noch der wütendste Hans-Ulrich könnte Unsuk Chin nicht widerstehen, sofern er nicht seine Ohren mit grimmigem Testosteron verstopft hat. Und auch die Einschränkung der DSO-Ambition, dass es sich bei den programmierten Kompositionen von Frauen meist um kleinere Stücke der ersten Konzerthälfte handelt, ist bei Šu direkt ad acta zu schreddern: Das ist ein Hauptwerk, einfach phantastische Musik. 

Kammermusikalisch klar und in der Tongebung schmalzfrei geschärft führen Robin Ticciati und das DSO, mit durchweg vorzüglichen Solisten, danach Gustav Mahlers Lied von der Erde auf. Wer sich nur Fin de siècle und wohliger Endlichkeit hingeben will, den wird die sehr disziplinierte Orchesterführung wenig befriedigen. Aber es ist absolut rund, was Ticciati (der für mich gelegentlich überambitioniert-unfrei wirkt) hier gelingt. Zumal die rituelle Strenge im Abschied eindrucksvoll ist, der schreitende Wechsel von Spannung und Entladung bereits im Kleinen. 

Spannung und Entladung im Großen vollführen vor allem die beiden Sänger. Der eingesprungene Tenor David Butt Philip ist von hervorragender Textverständlichkeit und zeigt im Trunkenen im Frühling die Qualitäten eines Kabarettisten mit Tiefgang. (Im eröffnenden Trinklied vom Jammer der Erde wirkt ja angesichts der Orchestermasse jeder Tenor wie ein verzweifelt aus den Tiefen eines stürmischen Weinbechers Heraufgreinender.) Und während ich zunächst im Einsamen im Herbst noch etwas mit fehlendem stimmlichen Gestus von Karen Cargill hadere, zeigt die Mezzosopranistin sich in Von der Schönheit als einnehmend empathische Gestalterin vom Scheitel bis zum Kehlkopf: in Blick und Stimme jeder kleinen Regung von Text und Musik folgend, zwischen Melancholie, Bewunderung, Ängstlichkeit. So erfüllt sich schließlich, dabei eher intellektuell kontrolliert als auf ekstatischen Kontrollverlust zielend, die Verheißung jenes großen anderen Welt-Atems, des Abschieds. Am Ende dieses Liedes von der Erde bin ich einmal nicht überwältigt, sondern: überzeugt. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Fliegen‹ und ›Beethovn‹. Zuletzt erschien ›Luyánta – Das Jahr in der Unselben Welt‹.

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