Es gibt einige Werke, bei denen ich am liebsten vor dem Schlusssatz fluchtartig den Konzertsaal verließe. Kennen Sie das? Welche sind es bei Ihnen? Bei mir unbedingt Gustav Mahlers 7. Sinfonie mit ihrem Ohren und Hirn betäubenden Final-Rondo.
Diese Siebte sei, heißt es, die am wenigsten gespielte unter den Mahlersinfonien, die aber ja eigentlich alle ständig gespielt werden. Und so eröffnet mit jener Siebten auch das Koninklijk Concertgebouworkest aka Royal Concertgebouw Orchestra unter Iván Fischer, einem meiner liebsten Dirigenten, das diesjährige Musikfest Berlin in der Philharmonie. Zwei Tage später wird aus London die Neunte kommen, bald darauf folgen die Zweite, die Fünfte und die Achteinhalbte (die nichts mit Fellini zu tun hat, sondern sich Lied von der Erde nennt). Also quasi schon wieder ein halbkompletter Mahlerzyklus, der flutscht immer als mittelscharfer Festivalfokus. Das Musikfest hat wie stets mehrere solcher Foküsse, kuratorisches Mittelwesen-Zwitterding, das es ist.
Aber den Haupt- und Wummsfokus setzte dieser Tage eh ein rabiater achtzigjähriger Herr, dem beim Musikfest eigentlich eine Hauptrolle anderer Art zugedacht war. Denn John Eliot Gardiner hat, Sie werden‘s mitbekommen haben, einen Sänger geschlagen. Das ist keine Kuriosität, sondern ein absolutes Unding. Zu dem Sekundär-Unding, dass der friedfertige künstlerische Leiter des Musikfests Winrich Hopp in seiner Publikumsbegrüßung Gardiners körperlichen Übergriff mit augenzwinkernden Umschreibungen abwitzelte, hat Ulrich Amling im Tagesspiegel das Richtige geschrieben: »Auf Gewalt ist das keine Antwort. Man fühlt sich unangenehm berührt, danach mit Verweis auf Shakespeares Sommernachtstraum zu einer ›Schärfung des Gehörsinns‹ eingeladen zu werden.«
Jedenfalls hat sich John Eliot Gardiner, den ich als Musiker bewundere, nach dem unerhörten, aber anscheinend nicht ganz überraschenden Vorfall erstmal und vielleicht auf Dauer zurückgezogen. Dem Musikfest ist damit das gloriose Zugpferd für seine anstehende Hauptattraktion, aber auch Geduldsprobe unversehens abhanden gekommen (wie Mahler-Rückerts lyrischem Ich die Welt): eine konzertante Aufführung von Berlioz‘ Les Troyens, in sogenannter historischer Musizierpraxis, knapp ein Viertel eines 24-Stunden-Tags soll das dauern, nun wird also Gardiners Assistent Dinis Sousa dirigieren. Bericht in diesem Blog folgt dann selbstverfreilich nach absolviertem Durchsitzen.
Gardiners Ensemble luxus-tingelt mit den exuberanten Trojanern über die Festivals und schlägt daher auch beim Musikfest Berlin auf, das ja auf dem Spalt zwischen Festivalzeit und Saisoneröffnung sitzt. So starten hier einerseits die Berliner Orchester in die Spielzeit, andererseits lassen Orchester aus aller Welt in Berlin ihre Rundreisen auslaufen und bringen mit, was eben auf Tournee war, etwelche Petruschkas und Alpensinfonien. Zugleich lassen sich doch kleinere Schwerpunkte ins Programm hineinkuratieren, eine Rachmaninow-Reihe etwa, für die ich allerdings dieses Jahr keinen Nerv habe, trotz Alexander Melnikov am Klavier. Origineller noch sind die Auftritte persischer Ensembles und des Innovation suchenden (und findenden?) Stegreif Orchesters. Denn der Rachmaninow-Akzent ist ja zunächst mal auch wieder bloß so ein Datumsanlass, hundertfuffzigster Jeburtstach, wenn wir uns nicht verrechnet haben. Reger 150 lässt man dagegen für diesmal untern Tisch fallen, dafür dank ich. Ligeti 100 hätte ich schon nochmal mitgenommen. Trotzdem stell ich mir wieder mal die Frage, wie zukunftsfüllend diese alljährlich neuen Jubiläen für Programmgestaltung sein können. Als Existenzgrund für klassische Konzertprogramme hat es etwas deprimierend Ratloses. Für 2024 kommen in Frage, nach Geburt und Tod nicht unterschieden: Nono, Busoni, Fauré und Puccini 100, Smetana und Bruckner 200, und gegebenenfalls ließen sich noch Dvořák 120, Schönberg 150, Strauss 160, Chopin 175 oder Palestrina 430 einschieben.
Aber Mahler, wie gesagt, geht immer. Es ist ein großes Glück, die Siebte in der Klangschönheit der Concertgebouw-Combo zu erleben, mit einem Dirigenten, der auf so heitere Weise weise wirkt wie Iván Fischer. Nicht alle Berliner Gastspiele dieses glanzvollen Orchesters in den vergangenen Jahren fand ich gleichermaßen gelungen: Ein Tiefpunkt war für mich 2017 der Auftritt mit dem später wegen Belästigungs-Vorwürfen geschassten Daniele Gatti. Und 2022 ermüdete mich das Dauerforcieren des steil aufschießenden Dirigiersterns Klaus Mäkelä; es erinnerte mich an Rattles permanenten Druck, auf den ich gleich noch zu schreiben komme.
Iván Fischer aber (die Kontrabässe stellt er nach seiner Vorliebe auch beim Concertgebouw hinters Orchester) pusht niemals. Sowohl Mahlerbizarres als auch Mahlerbrutales, Grelles wie Schmelzendes scheint er ganz von selbst geschehen zu lassen, nahezu entspannt und dabei doch paradox präzise, trotz seiner kuriosen Flatterschlagtechnik. Die brillante Blechbatterie der Amsterdamer lässt den Kopfsatz glühen. Und die drei mittleren Stücke des fünfsätzigen Werks sind die reine Freude auf Erden, in all ihrer Abgründigkeit. Wer könnte Mahlers seltsamer Kuhglocken-Metaphysik widerstehen, auch in unserem Zeitalter der Nutztierhaltungsskepsis und des Veganismus? Das schattenhafte Scherzo in der Mitte wird zum Muster an Unheimlichkeit, Angstjapsen im Dreivierteltakt, in dem jederzeit hinter jeder Ecke und Hecke eine groteske Bosch-Gestalt auftauchen könnte. Und das Trostzupfen von Gitarre und Mandoline im Andante Amoroso, dem vierten Satz, scheint zuverlässig unzuverlässig: eher sinistres Trostschröpfen als –schöpfen.

Das jubeldröhnende Finale ist danach kein großes Fensteraufreißen, sondern vielmehr das Anwerfen eines Flutlichts von 300.000 Watt. Selbst die Kuhglocken scheppern da nur noch affirmierend mit. Das Flutlicht erhellt nicht, sondern fackelt gleich die ganze Stadt ab. Eine Stadt, die eigenartig Wagners C-Dur-Nürnberg gleicht, denn die Anklänge ans Meistersinger-Vorspiel sind unverkennbar. Haltlos um die Ecke sinniert, ist das für mich eine bizarre Freude bei diesem Finale: Ich stelle mir das ärgerliche Gesicht vor, das der charakterschäbige Wagner gemacht hätte, wenn er diese tosende Verhunzung seines hehren deutschen Vorspiels durch einen (außer in diesem Satz) genialen jüdischstämmigen Komponisten erlebt hätte! Darf man als Hörer solche heiklen Lüste empfinden?
Dennoch, in all dem quälenden Leerlauf dieses Finales, kann man nicht anders als bezüglich Concertgebouw zu konstatieren: Wat ein geiler Klangkörper. Und Iván Fischer ist eben der Dirigententyp, der auch da noch federnden Schwung reinzubringen weiß.
Trotzdem flieh ich vielleicht bei der nächsten Siebten vor dem Finale.
Hohen Reiz hat es, mit dem unsäglichen Final-Rondo der Siebten im Ohr die Rondo-Burleske zu hören, die in Mahlers 9. Sinfonie den dritten Satz bildet. Und die Möglichkeit tut sich auf, wenn zwei Tage nach dem Amsterdamer Eröffnungskonzert das London Symphony Orchestra in der Philharmonie auftritt. Dessen Chefdirigenten Simon Rattle begrüßt der Berliner schon vorab mit lautem Hallihallo und Bravibravo. Sein Abschied von der Spree, der war ja gerade eben erst. Und jetzt sagt er also schon an der Themse Farewell, dies ist Rattles drittletztes Konzert mit den Londonern, bevor’s für ihn Richtung Isar geht.
Wieder ein Rondo also, aber statt Jubel Burleske. Ebenfalls eine Art perpetuum mobile, doch nun eine einzige Umkehrung. Die Streicherfiguren sind hier kein ewiges Weiterdrehen, das dem Komponisten unterlaufen ist wie in der Siebten, sondern eins, das er, nun ja: komponiert hat.
Erwartungsgemäß betont Rattle in den vorderen Sätzen der Neunten die klanglichen Härten und, wenn man so will, Modernismen. Und es ist ja richtig, es braucht gar keinen extra Drüsendruck, damit uns schon im Kopfsatz die Tränen kommen könnten bei diesem Werk. Von erbarmungsloser Steifheit sind die Rahmenteile des zweiten Satzes im Tempo eines gemächlichen Ländlers: als stakste es mit konsequent durchgestreckten Beinen, gleich Marionetten, denen die Gelenke mit Sekundenkleber starrgebappt wurden. Wie anders klänge dieser Satz bei Fischer, dessen Komik mir so viel menschlicher scheint! Ob sie hier allerdings »richtiger« wäre, darüber vermag ich nicht zu urteilen.
Bei Rattle und dem LSO ist man schier beeindruckt, wie perfekt das alles abspult, bis zum astrein verschwindenden Schluss. Nur Ergriffenheit, die mag sich nicht einstellen. Und ich spüre, wie meinereiner zu diesem Zeitpunkt bei Iván Fischer geflennt hätte. Bei Rattle hallot und bravot das Publikum, nach obligatorischer Schweige-Halbminute natürlich, nahtlos weiter wie zur Begrüßung. Und es soll ihnen allen auch gegönnt sein. Und doch. Nach dieser Musik, Mahlers Neunter. Bei Rattle ist die Welt hier deprimierend nicht-zu-Ende.

Gibt es etwas außer Mahler? Rattle und das LSO lassen die Neunte für sich stehen. Fischer und das Concertgebouw haben der Siebten etwas vorangestellt, ganz klug programmiert: fünf Lieder mit großer Orchesterbesetzung vom Allrounder Jörg Widmann. Die großen Orchester der Welt kennen ihn, man schätzt sich, die Kontonummer liegt bereits vom letzten Auftragswerk vor. Das heiße Herz nennt sich der Zyklus von 2018 und enthält Gedichte, die auch Mahler hätte vertonen können: Clemens Brentano, Des Knaben Wunderhorn, Heine. Als Jüngster kommt Klabund dazu, der vor 95 Jahren starb (Klabund 95). Man würde Widmann gern mal einen guten Lyrikband von, sagen wir, kookbooks schenken.
Widmanns Geschick steht außer Frage. Mal gerät die Vertonung eher peinlich (bei Heines Fräulein am Meer, wo der Sänger dem Publikum sogar was vorlachen muss), mal ergreifend – und das zum Glück im letzten und weitaus längsten Stück, dem simpel beginnenden und hypnotisch sich entwickelnden Einsam will ich untergehn. Hier muss der schmerzensreiche Bariton von Michael Nagy sich nicht im Kampf gegen starken Orchesterklang verschwenden, sondern darf uns direkt ans Herz fassen.
Jedoch, wie so oft denke ich: Wie schön wäre es, wenn Widmann sich bloß ganz seinem immensen Klangsinn überließe, statt ständig belegen zu wollen, wie gewitzt und dass er ein »Komponist« sei, nicht »nur« raffinierter Musikant? Und wenn es ums Komponist-Sein geht, stellte sich wohl doch die Frage nach den musikalischen Mitteln, derer Widmann sich hier bedient: Ländler, Walzer etc., eben die ganzen Mahler-Dinge. Der Musikologe Michael Querbach schrieb über diese Formen bei Mahler: »So versammelte er im Register seines Werkes Elemente aus der ganzen Breite des Musiklebens, versicherte sich derart der versiegenden Quellen der ›Sprache‹, aber er komponiert gleichzeitig den Zerfall, das Entgleiten aller gesicherten ›Intonationen‹ mit hinein«.
Widmann verwendet Mahlers Mittel 120 Jahre später munter weiter und wieder. Was hat uns das zu sagen, dieses angenehm zu hörende und schnell wieder vergessene Trinken des Ohrs aus nunmehr versiegten Quellen? Widmanns Musik kommt mir, gerade weil sie ihn nachmacht, wie eine Mahler-Negierung vor. Eine Negierung, die Widmann nicht beabsichtigt, sondern die ihm passiert. Und da bekomme ich wieder, egal wie gut ich im Hörsessel sitze, Fluchtreflex. ¶
Hinterlassen Sie bitte einen Kommentar