»Im Winter zu lesen« steht über Wilhelm Müllers Gedichtsammlung Die schöne Müllerin, die seinen Zeitgenossen Franz Schubert 1823 zu einem der großen Leuchttürme der Liedliteratur inspirierte. Diese Leseanweisung überrascht ein wenig, denn die Geschichte aus 20 Liedern beginnt in frühlingshafter Aufbruchstimmung: Wanderlustig folgt ein junger Müllergeselle auf der Walz dem Lauf eines Baches, der ihn zu einer Mühle führt, wo er sich in die Tochter des Müllers verliebt. Doch es kommt, wie es kommen muss: Sie will ihn nicht und wirft sich lieber dem feschen Jäger an den Hals. Die romantische Idylle bröckelt, in des Müllerburschen Herzen wird es Winter. In wachsender Verzweiflung scheuert er sich an unerwiderter Liebe die Seele wund. Steter Begleiter und einziger Gesprächspartner des Einsamen ist der unaufhörlich plätschernde Bach, dessen Wogen den Lebensmüden schließlich sanft zur Ruhe wiegen.

Als Franz Schubert die Müllerinnen-Lieder schrieb, war er zwar erst 26 Jahre alt, aber selbst schon ein müder Wanderer. Zu Beginn des Jahres 1823 war er schwer an Syphilis erkrankt. Ihn plagten Fieber, Geschwüre und Hautausschläge und weil ihm die Haare ausfielen, musste er eine Perücke tragen. Seine Erkrankung war Schubert peinlich, er fürchtete, durch seine Narben entstellt, nicht mehr liebenswert zu sein »Ich fühle mich als den unglücklichsten, elendsten Menschen auf der Welt. Denk dir einen Menschen, dessen glänzendste Hoffnungen zu Nichte geworden sind, dem das Glück der Liebe und Freundschaft nichts biethen als höchstens Schmerz«, schrieb er kurz nach Vollendung der Müllerin-Lieder an einen Freund. Schubert war der Lebensmut abhanden gekommen. Vielleicht resonierten Müllers Gedichte über Enttäuschung und Vereinsamung deshalb besonders stark in ihm. 

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200 Jahre später gilt der Zyklus unter Sängern als wichtiger Prüfstein. Das liegt vor allem an der schieren Masse an Text, neben der das Auswendiglernen einer durchschnittlichen mittleren Opernpartie fast zum Spaziergang wird. Wem das stumpfe auswendig Lernen nicht liegt, merkt sich so viele Verse nur, indem er oder sie die emotionale Reise des Müllerburschen durchdringt und miterlebt. Um dessen vielfältige Gefühlszustände psychologisch auszugestalten,  braucht es eine differenzierte musikalische Farbpalette: Beginnt der Zyklus Anfangs noch in volksliedhaftem Ton – nicht umsonst ist das Lied Das Wandern ist des Müllers Lust bis in die Notensammlungen der Männergesangvereine gesickert und hat es sogar auf eine CD des Liedermachers Hannes Wader geschafft – muss sich der Sänger später in Der Müller und der Bach in einen introspektiven Dialog zwischen Wanderer und Gewässer aufspalten.

Dass dieser Mikrokosmos seine Tücken hat, musste auch Tenor-Legende Fritz Wunderlich erfahren. Er war schon längst ein gefeierter Star, als ihm ein Kritiker der Süddeutschen Zeitung nach einem Konzert im Münchner Herkulessaal bescheinigte, er sei zwar ein großer Opernsänger, aber von Liedgesang verstehe er nichts. Gemeinsam mit dem Pianisten Hubert Giesen arbeitete Wunderlich daraufhin hart an den Finessen der Liedkunst. Heraus kam dabei die ikonische Aufnahme der Schönen Müllerin von 1965.

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Diese Interpretation geht vor allem durch ihre Einfachheit zu Herzen. Mit geschmackvoll reduziertem Belcanto-Schmelz und fast schon naiver Frische besingt Wunderlich Bächlein, Feld und Tal – eine Welt, die der aus dem Nordpfälzer Bergland stammende Sänger wahrscheinlich gut kannte. Wunderlichs Müller ist ein echter Naturbursche, ein Romantiker der ersten Stunde.

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Fachkollege Christoph Prégardien spielte den Zyklus gleich zweimal ein – 1992 mit Andreas Staier und 2007 mit Michael Gees. In beiden Versionen ist der Müllerbursche eher ein Feingeist. Mit schlankem, leuchtendem Tenor, graziöser Phrasierung und kleinen Verzierungen zeichnet Prégardien das Portrait einer hoch empfindsamen, zweifelnden Seele.

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Wenn der Müllerbursche in Tränenregen verschämt das Spiegelbild der Liebsten in der Wasseroberfläche betrachtet, hört man an Prégardiens intimer Stimmgebung: Hier steht sich einer vor lauter Schüchternheit selbst im Weg. 

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Weltensagend und fast kühl klingt der Protagonist bei Christian Gerhaher und seinem Klavierpartner Gerold Huber. Ihrer Aufnahme verleihen sie eine ganz eigene Note, indem Gerhaher Gedichte aus Müllers Vorlage rezitiert, die Schubert unvertont gelassen hat. Seine Gesangsstimme setzt er stellenweise fast ohne Vibrato ein. So tragen die Worte »In grün in will ich mich kleiden, in grüne Tränenweide« des  trauermarschartigen Die liebe Farbe schon ein fahle Todesahnung in sich. 

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Eine besonders sinnliche Interpretation stammt von Matthias Goerne und Christoph Eschenbach. Mit ungehemmter Leidenschaft arbeitet Eschenbach die wogenden Fluten des Baches plastisch heraus und durch Goernes warmes persönliches Timbre und einer Prise baritonaler Schwärze wird aus der literarischen Figur des Müllerburschen ein Mann aus Fleisch und Blut, ein verzweifelt gegen das Schicksal Aufbegehrender. Doch das Duo kann auch leise Töne. Mit intensiv vibrierendem Piano entschwinden sie fast ins Nichts, wenn es am Ende heißt: »Da muss in die Wolken der Vollmond gehen, damit seine Tränen die Menschen nicht sehen.«

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Während fast jeder Bariton, der etwas auf sich hält, Die schöne Müllerin im Repertoire hat, hört man sie von Sängerinnen eher selten. Natürlich gibt es Ausnahmen: Unter Begleitung des Pianisten und Komponisten Aribert Reimann spielte Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender den Zyklus 1993 ein. Mit erdiger Stimmfarbe und zupackender Sprachbehandlung übersetzt sie die Klage eines einzelnen zurückgewiesenen Mannes in eine allgemeingültige Erzählung über den zutiefst menschlichen Wunsch, geliebt zu werden. Ein bisschen Müllerbursche steckt schließlich in jedem von uns. Auch die Sopranistinnen Barbara Hendricks und Lotte Lehmann trauten sich die Interpretation der Müllerin und bewiesen, dass Weltschmerz und existenzielle Krisen keine ausschließlich männlichen Erfahrungswerte sind. 

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Wie diese sängerisch auszudrücken sind – davon hatte Lotte Lehmann eine sehr genaue Vorstellung. In ihrem Buch 18 Song Cycles gibt sie jungen Sängern unmissverständliche Interpretationsanweisungen. Bei dem Lied Pause etwa dürfe auf keinen Fall geschleppt werden und Trockene Blumen bräuchte einen »verschleierten Ton«.

Ein so deutlich formulierter Erwartungshorizont macht es jungen Künstlern freilich schwer, eine eigene Stimme zu finden. Für den Gesangsnachwuchs ist das kulturelle Vermächtnis der Schönen Müllerin Fluch und Segen zugleich. So sehr es als Inspirationsquelle dient, so sehr lädt es auch zur Nachahmung ein. Angesichts der überwältigenden Anzahl an herausragenden Aufnahmen – allesamt nur einen Klick entfernt– stellt sich die Frage, ob es nicht zeitgemäßere Formate gibt, um Schuberts Liedkunst lebendig zu halten. Einen Versuch wagt Christoph Prégardiens Sohn Julian– ebenfalls erfolgreicher Tenor. Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums des Zyklus plant er für Oktober diesen Jahres eine Art musikalische Wanderung durch Schuberts Heimatstadt Wien. An verschiedenen Stationen – von Schuberts Geburtshaus, über das Café an der Ecke bis hin zum Hörsaal der Universität, sollen alte Lieder in neuen Räumen gespielt und mit neuen Ohren gehört werden. ¶

… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).

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