»Wo ein treues Herze in Liebe vergeht, da welken die Lilien auf jedem Beet« – Die Schlichtheit dieser Worte kann heute noch genauso berühren wie vor 200 Jahren, als Franz Schubert das Lied Der Müller und der Bach als Teil des Liederzyklus Die schöne Müllerin verfasste. Wenn der Tenor und Lied-Experte Christoph Prégardien die Müllerinnen-Lieder singt, liegt ein silberner Schimmer auf seiner schlank geführten Stimme und jeder Vers scheint ihm wie gerade erst erfunden aus der Seele zu strömen. Fast hat man den Eindruck, Schuberts Protagonisten selbst zuzuhören – einem jungen, sensiblen Mann, der zum ersten Mal Bekanntschaft mit den Abgründen der Liebe macht.

Zum 200. Jubiläum der »Müllerin« spricht Christoph Prégardien zwischen Unterrichtsverpflichtungen und weiteren Interview-Terminen per Video-Call gut gelaunt über diesen besonderen Liederzyklus. 

Foto © Jean-Baptiste Millot

VAN: Wie oft haben Sie Die schöne Müllerin schon interpretiert?

Christoph Prégardien: Etwa 130 Mal.

Im Dezember geben Sie den Zyklus gemeinsam mit dem Pianisten Hartmut Höll an der Musikhochschule Karlsruhe. Wie bereiten Sie sich vor?

Bei der Schönen Müllerin muss man sich viel Text merken, vor allem bei den Strophenliedern. Wenn zwischen zwei Müllerinnen-Konzerten viel Zeit vergeht, muss ich also erstmal wieder den Text memorieren. Beim Konzert in Karlsruhe kommt hinzu, dass Hartmut und ich die Müllerin noch nie zusammen gemacht haben, auch wenn er das Stück oft gespielt und ich es oft gesungen habe. Also werden wir erstmal gemeinsam durch das Stück gehen und über alle möglichen Dinge reden, die musikalisch und interpretatorisch vorkommen können. Ich plane Konzerte nicht so gerne voraus, so dass jeder Ton abgesprochen ist. Das würde mich viel zu sehr einengen. Bei  jemandem wie Hartmut weiß ich zum Glück, dass im Konzert auch andere Dinge passieren dürfen, als eigentlich abgesprochen waren.

In Ihrer Interpretation der Schönen Müllerin hört man häufig Ornamente und Verzierungen. Wie kamen Sie zu dieser künstlerischen Entscheidung?

Als ich die Müllerin das erste Mal aufnahm, das war 1991 mit Andreas Staier, der ja sehr aus der historisch informierten Aufführungspraxis kommt, hat er schon damals schon zu mir gesagt: ›Christoph, eigentlich müsste man viel mehr auszieren.‹ Er erklärte mir, dass vokale Auszierungen und Ornamente, aber auch Variationen im Tempo und  Dynamik, in Schuberts Zeiten ganz selbstverständlich zum Vortrag gehörten. Wenn man ganz alte Aufnahmen anhört, stellt man fest, dass Pianisten und Sänger früher viel freier mit der Musik umgegangen sind, als wir uns das heute zugestehen. Aber damals habe ich mich dafür nicht frei genug gefühlt und habe nur sehr wenig verziert.

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Die Aufnahme, die ich 2008 mit Michael Gees gemacht habe, sollte einen Eindruck davon geben, wie die Lieder zu Schuberts Zeiten geklungen haben könnten. Das Tolle war ja, dass die Sänger das damals sozusagen spontan aus dem Hut gezaubert haben. Die haben das einfach aus dem Stegreif gemacht und damit hatte natürlich auch die Interpretation eine viel persönlichere Note.

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Und werden Sie es im Dezember auch aus dem Stegreif machen? 

Tja, das ist für jemanden, der im 21. Jahrhundert singt, gar nicht so einfach, weil wir das heute nicht mehr lernen. Wir kriegen gesagt: ›Du musst das singen, was in den Noten steht.‹ Dass Musik so aber nicht funktioniert, das wird uns erst im Lauf der Zeit klar. Eine gewisse Scheu bleibt aber. Ich verziere deshalb nicht so viel, wie das zum Beispiel mein Sohn macht. Aber Julian ist auch eine andere Generation und sowieso ein Freigeist. Der macht ganz viele tolle Verzierungen – nicht nur bei Schubertliedern. Ich finde das gut, aber ich kann das so nicht übernehmen – es muss ja aus mir selber rauskommen. Sonst wäre es aufgesetzt.

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Über das Thema der Aufführungspraxis, speziell bei Schubert, ist viel geschrieben worden. Die Sopranistin Lotte Lehmann hat sich dem Zyklus in ihrem Buch 18 Song Cycles gewidmet und auch der Begleiter Gerald Moore hat ein Werk zur Aufführungspraxis von Schubertliedern verfasst. Beide geben den Sängern genaue Anweisungen mit auf den Weg – von der richtigen Stimmfarbe bis zum passenden Tempo. Was halten Sie von solchen ›Interpretationshilfen‹?

Ich finde es toll, wenn große Künstler aus dem Nähkästchen plaudern und ich dabei erfahre, was sie darüber denken. Ich habe zum Beispiel gelesen, was Hermann Prey über die Winterreise schreibt und kenne auch das Buch von Ian Bostridge über die Winterreise. Beides finde ich sehr interessant. Schwierig finde ich nur, wenn die Forderung erhoben wird, dass jeder das so machen muss. Stattdessen könnte man auch einfach direkt in die Quellen schauen. Es gibt ja dieses Skizzenbuch von Johann Michael Vogel, der Schuberts Lieblingssänger war. Er hat genau aufgezeichnet, was er bei gewissen Schubertliedern für Verzierungen gemacht hat. Wenn du das siehst, glaubst du gar nicht, was die da eingebaut haben an Fermaten, an großen Girlanden und was weiß ich was. Wenn das heute einer machen würde, den würde man für verrückt erklären. 

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War man damals also experimenteller?

Ja, garantiert! Aber damals haben die auch nur mit zeitgenössischer Musik experimentiert. Das ist der große Unterschied. Wir haben ja ein Museum. Wir verwalten ja Musik vom Mittelalter bis in die Neuzeit.

Man könnte wahrscheinlich auch ein Museum füllen mit der schier unüberschaubaren Anzahl an Aufnahmen, die von der Schönen Müllerin existieren. Welche Aufnahme  würden Sie einem Einsteiger empfehlen, der die Lieder noch nicht kennt?

Meine Einsteiger-Aufnahme war die von Fritz Wunderlich, in der damaligen Zeit natürlich unser großes Vorbild. Auch heute gibt es immer noch viele junge Tenöre, die gerne so singen würden wie er. Interpretatorisch ist die Aufnahme natürlich sehr im Stil der 60er-Jahre, das ist nicht das, was ich mir vorstelle. Aber ich finde, man sollte sich auf jeden Fall eine Aufnahme mit einem Tenor anhören.

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Weil Die schöne Müllerin auch ursprünglich für Tenor geschrieben wurde?

Genau! Und weil der Liedgesang über Jahrzehnte hinweg von Baritonen geprägt wurde, so dass man sich fast entschuldigen musste, wenn man als Tenor Winterreise sang. Da musste man die Leute ständig belehren, dass die Baritone die Winterreise und Die schöne Müllerin erstmal transponieren mussten, bevor sie das überhaupt singen konnten. 

Inwiefern hat sich die Interpretation der Müllerin seit Fritz Wunderlich  weiterentwickelt?

Wenn ich heute Müllerin singe oder auch wenn ich sie in Kursen vermittle, dann sage ich den Leuten: ›Ihr dürft Schubert nicht aus der Sicht Schumanns, Wolfs oder Brahms‘ sehen, sondern von hinten, aus der Perspektive Mozarts und Beethoven.‹ Ihr müsst wissen, wie im späten 18. Jahrhundert phrasiert und artikuliert wurde. Viele junge Sängerinnen und Sänger singen nicht gerne Schubert, weil er so hohe instrumentale Forderungen an die Stimme stellt. 

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Fast wie bei Bach.

Ja, das ist sehr ähnlich. Bach, Schubert, Mozart. Da muss man die Stimme sehr flexibel und instrumental führen können. Ich glaube, dass sich in den letzten 50 Jahren ein Bewusstsein dafür entwickelt hat, dass man Schubert eben nicht mit spätromantischer Sauce überladen darf, sondern dass man ihn pur genießen muss, wie einen guten Single Malt Whisky oder einen schönen Bordeaux

Welches Lied in der Schönen Müllerin ist technisch besonders herausfordernd? 

Der Müller und der Bach, wo man ständig mit ganz leichter Stimme auf Fis und G hoch muss. Wenn man kein sehr hoher Tenor ist, liegt die Müllerin ja überhaupt äußerst unbequem. Alles spielt sich in einer relativ hohen Tessitura ab, sodass man sich leicht müde singt. Das ist schon anspruchsvoll – die Winterreise singt sich viel leichter.

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Haben Sie Tipps zum Auswendiglernen von Texten?

Am besten alles zwischen 20 und 40 lernen. Lieder, die ich in der Zeit gelernt habe, sitzen bombenfest. Aber es gibt Stücke, die ich in den 90ern und 2000ern nur zwei, dreimal gesungen habe – die sind weg. Oft habe ich gemischte Programme mit Liedern, die ich im Schlaf kann und anderen, die relativ neu sind. An solchen Abenden habe ich immer ein Pult vor mir stehen. Da sind aber nicht die Noten drauf, sondern nur die Texte. Wenn ich dann im Konzert das Gefühl habe, jetzt komme ich gerade nicht weiter, gucke ich da mal kurz drauf. Für viele Sängerinnen und Sänger ist das die größte Angst: Auf der Bühne stehen und nicht mehr wissen, was als nächstes kommt.

Ist Ihnen das noch nie passiert?

Doch, doch! Den schlimmsten Hänger hatte ich mal mit der Winterreise und zwar beim Lied der Lieder: Der Lindenbaum. Das war im Dezember 1997 zum Abschluss des Schubert-Jahres. Ich fing an zu singen: Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum. Ich träumt in seinem Schatten gar manchen süßen Traum… Aus! Mikrofon vor mir, kein Text mehr da, nichts. Wie es weitergeht, fiel mir einfach nicht ein. Und ich guckte so hilflos zu Andreas [Staier] rüber, der an diesem Abend spielte und summte nur noch die Melodie, bis ich den Text wieder wusste. Das war so peinlich! Es hat dann ein paar Lieder gedauert, bis ich diese Scham überwunden hatte und wieder richtig drin war. 

Der Protagonist der Winterreise, aber auch derjenige in der Schönen Müllerin ist ja ein vom Leben und der Liebe enttäuschter junger Mann. Trotzdem haben sich auch Frauen an diesen Zyklus gewagt. Finden Sie das der Geschichte angemessen? 

Bei der Müllerin finde ich es schwierig, weil die Rollenverteilung doch sehr klar ist. Da geht es um einen sehr jungen Mann, einen Jungen,  vielleicht 13, 14, 15 Jahre alt. Wenn das dann von einer reifen Sängerin interpretiert wird, dann habe ich da meine Probleme. Genauso wie ich Probleme habe, wenn Baritone Frauenliebe und -leben singen. 

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Bei der Winterreise ist das anders. Das ist eine Seelenreise, die nicht so geschlechtsspezifisch ist. Da geht es wirklich um die Abgründe der Seele, die eine Frau genauso gut wie ein Mann ausdrücken kann. Brigitte Fassbaenders Aufnahme von der Winterreise finde ich zum Beispiel großartig.

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In der Oper gibt es ja durchaus  Frauen, die aus der Perspektive junger Männer singen. Warum funktioniert das in der Oper, aber im Liedbereich nicht?

Es funktioniert im Liedbereich ja auch. Man muss sich nur als Zuhörer davon losmachen, dass da gerade eine Männersicht  von einer Frau interpretiert wird.

Die Hosenrollen in der Oper haben eine andere historische Bewandtnis, das hat mit der Kastratenzeit zu tun. Dieser Rollentausch zwischen Männern und Frauen hat dort auch eine gewisse sexuelle Konnotation – fürs Theater ist das ein wunderbares Sujet. Aber im Lied geht es eben nicht um eine Rolle, die man spielt, sondern es geht wirklich um einen Seelenzustand, den man darstellen muss. 

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Die Gattung Lied ist in einem intimen, halböffentlichen Raum zu Hause und war ursprünglich nie für den großen Konzertsaal gedacht. Die ersten Schubertiaden waren nichts anderes als Wohnzimmerkonzerte. Heute bieten viele Musikhochschulen spezialisierte Lied-Studiengänge an und gibt es Liedwettbewerbe wie Sand am Meer. Widerspricht dieser hohe Grad an Professionalisierung nicht eigentlich dem ästhetischen Grundgedanken des Liedgesangs als leicht zugängliche Gebrauchsmusik?

Im Grunde genommen schon. Wenn man die Geschichte anguckt, sieht man, dass im späten 18. Jahrhundert die Musik der ersten Lied-Komponisten doch sehr einfach gestrickt war. Fast jeder, der ein bisschen musikalisch war, konnte das singen. Aber im 19. Jahrhundert hat sich das sehr gewandelt. Die Ansprüche an den Gesangspart, aber auch an den Klavierpart wuchsen, sodass aus diesem volkstümlichen Lied eine Kunstform wurde, die mit dem richtigen Können und mit der richtigen künstlerischen Ernsthaftigkeit betrieben werden musste. Ich bin durchaus ein Verfechter des Amateur-Gesangs, aber sobald es um Brahms oder Wolf oder Mahler geht, stößt der doch an seine Grenzen.

Welche Erkenntnisse, Gedanken oder Gefühle wünschen Sie dem Publikum, das sich gemeinsam mit Ihnen, Schubert und seinem Müllerburschen auf die Reise begibt?

Sie sollen versuchen zu ergründen, was mit dem jungen Mann da passiert, der auf Wanderschaft geht, auf seine erste große Liebe trifft und sich so sehr in dieser ungleichen Beziehung verliert, dass er sich zum Schluss umbringt. Unterwegs spricht er mit allen möglichen über seinen Kummer: mit den Bäumen, mit dem Wald, mit dem Bach, mit den Farben, mit den Blumen, aber er spricht nicht mit dem Mädchen, das er liebt. Die Leute sollen das einfach miterleben und versuchen sich zu erinnern, wie das für sie war, als sie zum ersten Mal unglücklich verliebt waren. Dann sollten sie sich natürlich an der schönen Musik ergötzen und am Klavierspiel von Hartmut. Und vielleicht singe ich ja auch ganz schön. ¶

… lebt in Berlin und arbeitet als freischaffende Sängerin und Musikjournalistin (u.a. für Opernwelt, Crescendo, TAZ).